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Mutters

Agenda

siebenten Band

22. Januar 1966

Letzte Nacht habe ich Purani 1 gesehen. Es ist das erste Mal, daß ich ihn sah, seit er seinen Körper verlassen hat. Es waren auch noch andere Leute da. Ich sah ihn in einer subtilphysischen Welt, und er war ganz hellblau und rosa, und um ihn herum war alles rosa und leuchtend (Mutter macht eine Geste des Tanzens). Er freute sich und sagte: "Jetzt bin ich glücklich!"

(Schweigen)

Hast du viele Sorgen?

Nein! Ich verbrachte heute morgen zwei Stunden in einer Art glückseligem Zustand, mit einem so klaren Bewußtsein, daß alle Lebensformen in allen Welten und in jedem einzelnen Augenblick der Ausdruck einer Wahl sind: man wählt, so zu sein.

Es ist sehr schwierig, das in Worte zu fassen... Diese Art Zwang, in dem man zu leben und dem man sich unterworfen glaubt, war VOLLSTÄNDIG verschwunden. Da herrschte vielmehr diese ganz spontane und natürliche Wahrnehmung, daß alle Arten des Lebens auf der Erde und in den anderen Welten einfach eine Frage der Wahl sind: man hat gewählt, so zu sein, und man wählt ständig, dies oder jenes zu sein oder daß dieses oder jenes passiert. Ebenso wählt man den Glauben, einer Schicksalsfügung unterworfen zu sein, oder einer Notwendigkeit oder einem Gesetz, das einen zwingt – alles ist nur eine Frage der Wahl. Es war eine Empfindung von Leichtigkeit, von Freiheit (dieselbe Geste des Tanzens) und dann ein Lächeln über alles! Gleichzeitig verleiht einem das eine ungeheure Macht. Jegliche Empfindung von Zwang und Notwendigkeit und vor allem das Gefühl von Verhängnis waren VOLLSTÄNDIG verschwunden. Alle Krankheiten, alle Ereignisse, alle Dramen: all dies war verschwunden. Diese konkrete und so brutale Realität des physischen Lebens: vollständig weg.

Interessanterweise begann diese Erfahrung letzte Nacht anläßlich meiner Begegnung mit Purani. Ich traf Purani in einer bestimmten Welt, und er war in einem bestimmten Zustand – wie ich ihn gerade schilderte. Dann dieser Unterschied zwischen dem Purani, wie er hier war, und dem Purani, wie er jetzt ist... das war plötzlich wie ein Schlüssel. Ich sprach mit ihm, er sprach mit mir, und er sagte: "Ach, ich bin jetzt so glücklich!" Genau in diesem Zustand verbrachte ich heute morgen mehr als anderthalb Stunden. Danach mußte ich in einen Zustand zurückkehren, der mir künstlich erschien, der aber wegen der anderen Menschen, durch den Kontakt mit den anderen und den Dingen und wegen unzähliger Sachen, die zu tun sind, zwangsläufig ist. Dennoch bleibt die Erfahrung im Hintergrund bestehen. Es bleibt einem eine Art amüsiertes Lächeln über alle Komplikationen des Lebens – der Zustand, in dem man sich befindet, ist das Ergebnis einer Wahl. Auf individueller Ebene ist die Freiheit der Wahl gegeben, die Menschen haben dies nur VERGESSEN. Das ist überaus interessant!

Zugleich sah ich die ganze Palette menschlichen Wissens. (Wenn diese Zustände auftreten, werden nämlich alle menschlichen Verwirklichungen und alles menschliche Wissen wie in einem Panorama vor dem Hintergrund des neuen Zustands betrachtet, und alles wird wieder an seinen richtigen Platz gerückt – jedesmal wenn eine Erfahrung kommt, wirkt sie retrospektiv.) Ich sah also alle Theorien, alle Glaubensbekenntnisse, alle philosophischen Ideen, wie sie sich wieder mit dem neuen Zustand verbanden... das war amüsant.

Und dies ermüdet keineswegs. Diese Erfahrungen sind dermaßen konkret und spontan und wirklich – sie sind nicht das Ergebnis eines Willens und noch weniger einer Anstrengung –, so daß ein Ausruhen nicht notwendig wird: ich war gerade bei meiner Morgentoilette. Ich nahm das ganze Frühstück in diesem Zustand ein, das war herrlich. Erst als die Leute kamen (ich habe sogar noch die "Eier-Verteilung" vorgenommen – ich weiß nicht, ob du weißt, daß ich es bin, die jeden Tag ein Ei in deine Schale legt – ich verteilte also auch die Eier und die Blumen noch in diesem Zustand). Erst danach, als die Briefe kamen, die ich anhören und beantworten mußte, mitsamt all den anderen Dingen (Geste von Kippkarren, die über Mutter ausgeschüttet werden), wurde es verwischt und verblaßte. Es läßt mich noch in einem Halbtraum zurück, aber die Erfahrung ist vorbei. Der Zustand ist nicht mehr da.

Jene, die diese Erfahrung aus welchem Grunde auch immer machten und die nicht wie ich diese ganze philosophische und mentale Vorbereitung besaßen (die "Heiligen" oder jedenfalls all die Leute, die ein spirituelles Leben führten), hatten danach immer ein sehr starkes Gefühl der Irrealität und der Illusion des Lebens. Doch das ist bloß eine enge Sichtweise. Es ist nicht so, nein. ALLES ist eine Wahl, absolut alles! Die Wahl des Herrn, aber IN UNS – nicht dort (Geste nach oben): hier. Wir wissen es nur nicht; es ist alles ganz und gar in uns selbst. Wenn wir das wissen, können wir wählen – wir können unsere Wahl treffen. Das ist wunderbar!

Gerade als dieser Zustand da war, sagte ich meinem Körper: "Siehst du, du dummes Ding, warum machst du aus allem ein Drama? Krank zu sein, dies oder das zu sein?..." Und diese Art Fatalität und Gebundenheit und Härte der Existenz: alles war verschwunden. Völlig verschwunden. Es war ein helles Blau, ein helles Rosa, ganz strahlend und klar und... (dieselbe Geste des Tanzens)... leicht.

Ich bin mir darüber im klaren, daß dies nichts Absolutes ist; es war nur EINE Art zu sein, aber eine ausgezeichnete Art!... Gewöhnlich glauben die Leute, die eine solche Erfahrung ohne ausreichende intellektuelle Vorbereitung machen, sie hätten die "einzige" Wahrheit erhascht. Und dann machen sie ein Dogma daraus. Aber ich sah sehr wohl, daß dem nicht so ist: es ist EINE Seinsart, allerdings eine wirklich wunderbare Seinsart, verstehst du, eine unendlich bessere als jene, die wir hier haben. Und wir KÖNNEN sie hier haben: ich habe sie gehabt, und zwar auf eine ganz konkrete Weise. Immer gibt es irgend etwas, das schiefläuft (an dieser oder jener Stelle krank, dieses oder jenes, Umstände, die nicht klappen, immer gibt es Schwierigkeiten), all das... wechselt die Farbe. Und es wird leicht, verstehst du, leicht und geschmeidig. Die ganze Härte und Starre: verschwunden.

Auch hatte ich die Empfindung, daß, wenn man wählt, auf diese bestimmte Weise zu sein, man auch weiterhin so sein kann. Das ist wirklich so. Nur all diese schlechten Angewohnheiten stehen einem im Weg – offensichtlich jahrtausendealte Gewohnheiten auf der Erde. Aber es gibt keinen einzigen Grund, warum das nicht zu einem permanenten Zustand werden könnte. Denn das ändert alles! Alles!... Weißt du, ich putzte mir gerade die Zähne, wusch meine Augen, tat die materiellsten Dinge, und sie änderten ihre Natur! Da war eine Schwingung, eine bewußte Schwingung in dem Auge, das ich wusch, in der Zahnbürste, in... Alles, absolut alles war anders. Wenn man diesen Zustand meistert, kann man offensichtlich alle Umstände um sich herum ändern.

In letzter Zeit (ziemlich lange schon) zeigte sich dieselbe Schwierigkeit im Körper, der nicht mehr begrenzt und in einen Kokon eingeschlossen ist, wie das normalerweise der Fall ist, und der frei empfängt... nicht einmal mit dem Gefühl des "Empfangens": er HAT die Vibration von allem, was ihn umgibt. Wenn dann alles, was den Körper umgibt, geistig oder moralisch verschlossen ist und kein Verständnis aufbringt, wird es etwas schwierig; das heißt, das sind eben die Dinge, die kommen, und die transformiert werden müssen. Das ist etwas so Komplexes – ein sehr vielschichtiges und instabiles Ganzes, welches das eigene Bewußtseins- und Handlungsfeld darstellt und an dem man ständig arbeiten muß, um die Harmonie wiederherzustellen (ein Minimum an Harmonie). Wenn etwas um einen herum im normalen Sinne "schlecht" läuft, erschwert das die Arbeit. Es ist zugleich subtil, beharrlich und hartnäkkig. Ich erinnere mich, daß letzte Nacht, als ich mich auf dem Bett ausstreckte, im Körper eine Aspiration nach Harmonie, nach dem Licht, nach einer Art lächelndem Frieden herrschte. Wegen all dieser Dinge, die knirschen und knarren, sehnte sich der Körper vor allem nach Harmonie. Wahrscheinlich war die Erfahrung das Resultat dieser Aspiration: ich ging dorthin und traf einen Purani, der rosa und blau war, ein so herrliches Hellblau – dieses wunderschöne Hellblau von Sri Aurobindo.

Allerdings habe ich bemerkt, daß im Leben dieses Körpers nie zweimal dieselbe Erfahrung auftrat. Ich kann dieselbe Art von Erfahrung auf einer höheren Ebene oder in einem größeren Ausmaß haben, aber niemals zwei identische Erfahrungen. Ich halte die Erfahrungen nicht fest. Ich bin ununterbrochen (Geste nach vorn) und immerzu unterwegs. Weißt du, die Arbeit der Transformation des Bewußtseins ist dermaßen schnell und muß so rasch geschehen, daß man keine Zeit hat, eine Erfahrung zu genießen oder breitzutreten oder über einen langen Zeitraum seine Befriedigung aus ihr zu schöpfen – das ist unmöglich. Die Erfahrung kommt, ist sehr intensiv, verändert alles, und dann kommt etwas anderes. Dasselbe gilt für die Transformation der Zellen: alle möglichen kleinen Störungen treten auf, die aber für das Bewußtsein sichtbar Störungen der Transformation sind. Man beschäftigt sich also mit irgendeinem Punkt, man will die Ordnung wiederherstellen. Gleichzeitig ist irgend etwas da, das sich völlig sicher ist, daß die Störung kam, um den Übergang von der gewöhnlichen automatischen Funktion zur bewußten Funktion unter der direkten Führung und dem direkten Einfluß des Höchsten herzustellen. Und der Körper selbst weiß dies auch – trotzdem ist es nicht angenehm, mal an dieser, mal an jener Stelle Schmerzen zu verspüren oder hier und da etwas zu haben, das zerrüttet ist. Aber der Körper WEISS. Und wenn dieser bestimmte Punkt einen gewissen Transformationsgrad erreicht hat, geht man zum nächsten Punkt über, und dann weiter zum nächsten, und wieder zum nächsten. Es ist also nichts erreicht, keine Arbeit ist definitiv getan, bis nicht... alles bereit ist. Man muß also mit derselben Arbeit wieder von vorn anfangen, wenn auch auf einer höheren oder breiteren Stufe oder in einer größeren Intensität oder mehr ins Detail gehend – das hängt vom Einzelfall ab –, bis ALLES auf einen homogenen Punkt gebracht und auf analoge Weise bereit ist.

Nach dem zu urteilen, was ich sehe, geht es so schnell, wie es nur kann. Aber es nimmt viel Zeit in Anspruch. Und alles ist eine Frage der Veränderung der Gewohnheit. Jede durch Jahrtausende hindurch automatisch gewordene Gewohnheit muß in eine bewußte Handlung umgewandelt werden, die direkt vom höchsten Bewußtsein gesteuert wird.

Man ist geneigt zu sagen, daß dies viel länger dauert und viel schwieriger ist, weil man von Menschen umgeben ist und in der Welt handelt. Doch wenn man nicht unter diesen Bedingungen arbeiten müßte, würden viele Dinge vergessen werden. Viele Dinge würden ungetan bleiben. Es gibt alle möglichen Schwingungen, die nicht in Affinität zu diesem Aggregat stehen (dem zellularen Aggregat von Mutter) und die niemals Gelegenheit gehabt hätten, die Transformationskraft zu berühren, wenn ich nicht mit allen Menschen in Verbindung stünde.

Es ist völlig offensichtlich, daß man in die besten Bedingungen gestellt und mit einem Maximum an Möglichkeiten für das Handeln versorgt wird... wenn man es aufrichtig will.

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Dann geht Mutter zur Übersetzung von Savitri über:

Each in its hour eternal claimed went by

Ideals, systems, sciences, poems, crafts

Tireless there perished and again recurred,

Sought restlessly by some creative Power.

But all were dreams crossing an empty vast.2

(X.IV.642)

Das ist genau dasselbe. Das ist lustig.

Gewiß hatte er ähnliche Erfahrungen (wie Mutter), als er diese Zeilen schrieb.

 

1 Ein charmanter älterer Schüler, der am 11. Dezember 1965 gestorben war (siehe Agenda vom 28.12.65).

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2 Alles, was sich zu seiner Zeit für ewig erklärt hatte, ging vorüber, die Ideale, die Systeme, Wissenschaften, Dichtung, Künste gingen dort unermüdlich unter und kehrten zurück, weil ohne Rast von irgendeiner schöpferischen Macht gesucht. Doch alles waren nur Träume, die eine leere Weite überquerten. (Savitri, dt. Ausgabe, Verlag Hinder + Deelmann, Gladenbach 1985, S. 656)

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