Mutters
Agenda
dreizehnten Band
(Mutter gibt Satprem einen Brief:)
Dies habe ich Indira geschickt. Du kannst es lesen, ich erinnere mich nicht einmal mehr.
"India shall take her true place in the world only when she will become integrally the messenger of the Divine Life."1
Zu welchem Anlaß hast du ihr das geschickt?
Sie schrieb mir einen sehr netten Brief, um mir ihre Dankbarkeit auszudrücken. Sie fragte mich, ob ich ihr etwas zu sagen hätte, da antwortete ich dies.
Aber es scheint, sie spricht sehr ernsthaft über die spirituelle Mission Indiens.
Sie ist besorgt wegen Amerika. Sie will Leute nach Amerika schicken, um zu versuchen, eine gute Atmosphäre zu schaffen.
Wir werden sehen.
Kommt die Gefahr nicht eher von China?
Ich glaube nicht.
Ich sah immer eine materielle Hilfe von den Vereinigten Staaten kommen – immer. Leider ist der jetzige Präsident 2 ein Rohling und steht dem im Weg. Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden im November statt. Das Land müßte vorbereitet werden, damit er nicht wiedergewählt wird.
Anscheinend hat er gute Chancen, wiedergewählt zu werden.
Die Leute mögen ihn nicht.
Ja, aber er hat das ganze Kapital auf seiner Seite.
Das ist es.
Er DARF NICHT wiedergewählt werden, es nützt also nichts, ihn zu treffen [Indiras Bemühungen um eine Annäherung]. Es darf nicht sein. Es DARF NICHT sein 3 .
Das Bewußtsein muß all diejenigen, die ihn nicht wollen, unterstützen – ihnen helfen, sie kräftigen.
(Schweigen)
Wie stehen die Dinge für dich?
...Wie soll ich sagen? Materiell ist es immer noch schwierig, aber der Körper hat verstanden, glaube ich (Mutter öffnet die Hände). Der Körper hat verstanden, doch die alten Gewohnheiten bleiben bestehen – halbbewußte Reaktionen. Das ist es, was zerrt. Für mich, wenn der Körper wirklich verstanden hätte, müßte er sich verjüngen – nicht "verjüngen", aber bewußt werden. Anstatt sich auf das Unterbewußte abzustützen wie alle anderen, müßte er sich auf das Bewußtsein stützen – das beginnt. Er will es; er versucht es. Aber da sind noch... Gewohnheiten vielleicht. Im Grunde müßte das Unterbewußte transformiert werden.
Er hat fast keine spontanen Reaktionen mehr – Reaktionen, die vom Unterbewußtsein kommen – fast nicht mehr, aber immer noch einige... immer noch zu viele.
Wie war der Balkon 4? Wo warst du?
Ich bin nicht gekommen.
Ach, so.
Nein, liebe Mutter. Sujata war da.
(Sujata:) Es war sehr gut, Mutter.
War ich nicht zu gebeugt?
Nein, nein. Du schienst besser als beim vorigen Mal.
Ach, ja?
Ich habe mich bemüht.
Du bist viel mehr gegangen und bist lange geblieben.
Wo warst du?
Dort, wo ich gewöhnlich stehe, unten in meinem Haus.
Ach, dort unten; ja, ich ging dorthin [mit ihren inneren Augen].
Ja, liebe Mutter.
Der Körper ist bewußter – das Bewußtsein dringt ein. Aber...
Ich habe den starken Eindruck (der Körper selbst), daß er, wenn er bis hundert Jahre durchhält, wieder jünger wird – nicht unbedingt "jünger", aber... fähiger, die Kraft zu manifestieren. Ich fühle mich nicht schwach, doch einige Dinge ziehen noch.
Im Unterbewußtsein stecken noch so viele dummen Ängste, ein Mangel an Vertrauen, Suggestionen. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob es die Schuld des Körpers ist – ich habe den Eindruck, daß da Leute sind – zumindest eine Person –, die katastrophale Suggestionen aussenden 5 (ich weiß nicht wer). Und der Körper kämpft, um nur jene Eingebungen zu empfangen, die vom Göttlichen kommen, aber es bleiben immer noch Schwierigkeiten.
Wenn ich protestiere und mich beschwere, sagt "man" mir, daß es von hier und dort komme... (Geste in alle Richtungen), damit ich handele, damit Das in der Welt wirken kann – kein Gedanke, es ist nicht gedacht: dies [der Kopf] ist sehr still; es ist hier (Geste darüber), und dann so (Geste, die von unten hochsteigt, um dargeboten zu werden) vom Unterbewußtsein – und daß all diese Arbeit, die sich vollzieht, nicht nur für diesen Körper da ist: daß der Körper sie für alle verrichtet, die aufnahmebereit sind. In dem Fall habe ich nichts zu sagen, es geht gut. Wenn es das ist... Denn (Mutter wendet sich zur Badezimmertür, wo die Assistentin lauscht) er lebt unter besonders günstigen Umständen. Man sorgt für ihn.
(Schweigen)
Wie geht es dort drüben 6?
(Satprem:) Ich muß mich etwas anpassen... Ich habe immer große Mühe, eine Verbindung zwischen dem inneren Bewußtsein und dem materiellen Leben herzustellen. Das materielle Leben ist für mich eine schreckliche Last; alle materiellen Dinge sind schwer, undurchdringlich. Mir gelingt es nicht, eine Kommunikation zwischen den beiden zu schaffen.
Ach!... Hast du die Aufführung von "L'Orpailleur" 7 gesehen?
Ja, liebe Mutter.
War es gut?
Ja... Sie haben es mit viel Liebe gestaltet und... – mit viel Liebe. Aber wie sie es interpretierten... Ich weiß nicht, es machte einen unheilvollen Eindruck.
Unheilvoll?
Ja. Ich weiß nicht. Sie stellten einen Aspekt dar, den ich nicht kannte.
(Mutter lacht) Sieh an! Das ist seltsam.
Weißt du, in dem Buch versuchte ich, durch das Leiden zum Licht zu gelangen; und in dem, was sie dann in Szene setzten, sieht man nur Leid, aber nicht viel Licht. Sie haben etwas sehr Melodramatisches daraus gemacht, verstehst du? 8
Oh!...
Die Atmosphäre war trotz allem gut, eine erstaunlich gute Atmosphäre. Aber etwas war seltsam: etwas, das ich nicht kannte.
(Schweigen, Mutter schaut)
Seltsam, ich mochte das Buch sehr gern, als ich es las, aber jetzt bleibt mir als einzige Erinnerung das Bild eines Urwalds mit einem riesigen Baum, und du kämpfst, um dir einen Weg durch das Astgeflecht des Baumes zu bahnen – ständig kommt das (Mutter schaut). Das ist im Bewußtsein zurückgeblieben. Ich sehe dich immer noch mit einer Axt, riesige Äste eines Baumes abschlagend, um durchzukommen. Das ist seltsam. Ist das symbolisch? Kommt das vor in deinem Buch?
Nicht genau, aber ich habe so etwas erlebt 9 – es ist gleichzeitig wahr und symbolisch, beides.
Wenn ich an das Buch denke, sehe ich immer dieses Bild. Und dann erinnere ich mich... Beschreibst du den Tod deines Freundes?
Ja.
Das frappierte mich sehr. Das und dieser riesige Baum. Aber der Baum ist größer als in der Natur, er ist symbolisch; und mit einer großen Axt schlägst du die Äste ab – Äste so groß wie Bäume –, um dir einen Durchgang zu schaffen. Sonderbar.
Ja, ich glaube, ich schlage weiterhin Äste ab.
(Mutter lacht) Ja, das ist es.
Ich weiß nicht warum, vielleicht kommt es von vergangenen Leben, aber das materielle Leben ist unerträglich für mich.
Ach!... In welcher Hinsicht? Hast du Schwierigkeiten?
Nein, es ist nichts, Kleinigkeiten, überhaupt nichts, aber alles lastet auf mir. Es gelingt mir nicht, das Bewußtsein hineinzubringen, verstehst du; zwischen den beiden liegt eine Kluft. Ich fühle mich nur wohl, wenn ich aufhöre und mich setze. Dann geht es mir gut.
Ach!
Aber sobald ich mich mit materiellen Dinge befasse, ist es schrecklich. Es gibt keine Verbindung zwischen dem Inneren und der Materie – gar nichts, ein völliger Abgrund.
(nach einem Schweigen)
Nach dem, was mir Nirod jetzt aus seiner Korrespondenz mit Sri Aurobindo vorliest, scheint es dasselbe für Sri Aurobindo gewesen zu sein. Denn nach dem, was er schrieb (du wirst sehen, wenn du es liest), bin immer ich es, die die Dinge tut: "Mutter sagt, Mutter tut, Mutter ..." Alles, was die Organisation des Ashrams betraf, die Beziehung zu den Leuten und all das wurde scheinbar immer ganz natürlich durch mich getan.
Und was den Humor betrifft, habe ich niemals etwas so Wunderbares gelesen, ach!... Er hatte eine Art, die Dinge zu sehen... unglaublich. Unglaublich! Aber es scheint, daß die äußere Welt für ihn etwas... Absurdes war.
Ja, so ist es.
Absurd.
Ja. Ich habe den Punkt erreicht, wo das einzige materielle Leben, das ich ertragen könnte, das eines Sannyasins in einer Hütte wäre – und auch dann noch ein ganz nackter Sannyasin, denn sonst schaffen die Kleider Probleme.
Ach!
Alles erscheint mir schrecklich... Mir gelingt es nicht, das Bewußtsein dort hineinzubringen.
(Mutter lächelt weiter)
Oh, das ist sehr seltsam. Sehr seltsam. Seit meiner Kindheit war meine ganze Bemühung (wie soll ich sagen?), eine totale Indifferenz zu erlangen – daß die Dinge weder störend noch angenehm seien. Seit meiner Kindheit erinnere ich mich an ein Bewußtsein, das versuchte... Genau das wollte Sri Aurobindo sagen: eine Indifferenz. Oh, das ist seltsam. Das hilft mir zu verstehen, warum er sagte, daß ich besser imstande sei, den Übergang zwischen dem menschlichen Bewußtsein und dem supramentalen Bewußtsein zu schaffen. Das hatte er mir gesagt (es steht in Nirods Sachen). Und ich verstehe, warum...
Ach, jetzt verstehe ich.
(Schweigen)
Ja, ich verstehe.
Nun?
Je weiter ich vorankomme, desto mehr habe ich das Gefühl, mich zu verschlechtern.
Oh, nein. Nein.
Aber ich habe das Gefühl, daß ich ganz abscheulich bin.
(Mutter lacht sehr) Das, mein Kind, ist vielleicht mein... Genau in dem Zustand befindet sich mein Körper. (Lachend) Das ist vielleicht der Grund.
Auch fühlt er sich abscheulich und lächerlich. Lächerlich und abscheulich. Das Bewußtsein dessen, was sein soll, übt diesen Druck aus. Selbst die höchste Menschheit ist eine widerliche und lächerliche Sache für das Übermental, (Mutter verbessert sich:) für das Supramental. "Supramental", ich mag dieses Wort nicht sehr – ich verstehe sehr wohl, warum Sri Aurobindo darauf zurückgriff, denn er wollte nicht "Übermensch" sagen, es ist auf keinen Fall der Übermensch. Es besteht sicher ein größerer Unterschied zwischen dem supramentalen und dem menschlichen Wesen als zwischen dem menschlichen Wesen und dem Schimpansen.
Ja, ja.
Der äußere Unterschied ist nicht unbedingt so groß: ein Unterschied des Bewußtseins. Eben das fühle ich – so lebendig und so nah! Wenn ich ganz ruhig bin, lebe ich in dem Bewußtsein, das von dorther kommt, und das menschliche Bewußtsein, selbst das intellektuellste und höchste, ist lächerlich daneben.
Ja.
Abscheulich.
Ja, liebe Mutter. Ich weiß nicht, ob ich mit "Dem" in Kontakt stehe, aber wenn ich ruhig bin, ist da etwas so Volles und Starkes...
Ja, ja, das ist es.
Und man fühlt sich wohl.
Ja.
Es ist DAS. Wenn man da jedoch heraustritt und in die Materie eindringt, ist es schrecklich...
(Mutter lacht)
Denn "das" dringt da nicht hinein.
Es dringt ein, aber... Um es richtig auszudrücken, könnte man sagen, daß es Mühe hat, einzudringen, aber es dringt ein. Gerade das gibt uns das Gefühl, daß das Leben abscheulich ist. Ich persönlich habe ganz stark das Gefühl, daß das Leben völlig lächerlich ist – grotesk. Grotesk.
(Schweigen)
Man muß zutiefst davon überzeugt sein, um bereit zu sein, dieses Bewußtsein zu empfangen. Weißt du, ich möchte sagen: es ist ein gutes Zeichen – es ist nicht angenehm, aber es ist ein gutes Zeichen.
Nur sind wir offensichtlich – bestenfalls – Übergangswesen. Und die Übergangswesen... Gleichzeitig wird das Bewußtsein des inneren Wesens stärker, verstehst du? Stärker als das Bewußtsein des materiellen Wesens; so kann das materielle Wesen aufgelöst werden, aber das innere Bewußtsein bleibt stärker. Von diesem Bewußtsein können wir sagen: "Das bin ich."
Ja.
DARAUF kommt es an. Nur darauf.
Was mich betrifft, ist der Zweck dieses Körpers jetzt schlicht ein Horchen auf den Befehl des göttlichen Willens, damit ich so viel Vorbereitungsarbeit wie möglich verrichte. Aber das ist überhaupt nicht das Ziel. Wir besitzen nicht das geringste Wissen darüber, was das supramentale Leben ist. Folglich wissen wir nicht, ob dies (Mutter zwickt die Haut ihrer Hände) sich ausreichend ändern kann, um sich anzupassen, oder nicht – um die Wahrheit zu sagen, mache ich mir deswegen keine Sorgen, dieses Problem beschäftigt mich nicht besonders. Mich beschäftigt nur die Aufgabe, dieses supramentale Bewußtsein auf eine Art zu festigen, daß ES SELBST das Wesen sei. Dieses Bewußtsein soll das Wesen werden. Das ist wichtig – alles andere werden wir sehen (das ist, als beschäftigte man sich mit der Frage, ob man die Kleider wechseln solle oder nicht). Es muß wirklich DAS sein. Dafür muß sich das ganze in den Zellen enthaltene Bewußtsein sammeln, organisieren und ein unabhängiges bewußtes Wesen formen, das sich der Materie und gleichzeitig des Supramentals bewußt sein kann. Darum geht es. Das entwickelt sich jetzt. Wie weit werden wir gehen können? Ich weiß es nicht.
Verstehst du?
Ja, das verstehe ich sehr gut.
Wie weit wir kommen werden, weiß ich nicht. Ich habe den Eindruck, daß sehr viel erreicht sein wird, wenn ich bis hundert Jahre durchhalten kann, also noch sechs Jahre – daß dann etwas Wichtiges und Entscheidendes erreicht worden ist. Ich sage nicht, daß der Körper fähig sein wird, sich zu transformieren, das... nichts deutet darauf hin, aber das Bewußtsein: das physische Bewußtsein, das materielle Bewußtsein wird... "supramentalisiert". Genau diese Arbeit geschieht gerade. Darauf kommt es an. Du mußt auch fähig und dazu bestimmt sein, sie zu tun, und deshalb hast du diese Abneigung. Aber anstatt auf der Abneigung zu beharren, müßtest du auf der Identifikation mit dem Bewußtsein bestehen, in dem du dich findest, wenn du ruhig sitzt. Verstehst du? Darauf kommt es an.
Nur das zählt.
(Satprem legt seine Stirn auf Mutters Schoß, Sujata nähert sich)
Ich beginne zu verstehen, warum Sri Aurobindo immer sagte, daß die Frau (Mutter streichelt mit einem Finger Sujatas Wange) die Verbindung zwischen den beiden herstellen könne. Ich beginne zu verstehen. Eines Tages werde ich es erklären. Ich beginne zu verstehen. Sri Aurobindo sagte immer: Die Frau kann die Verbindung zwischen der alten Welt und der supramentalen Welt herstellen. Ich verstehe.
(Satprem:) Ja, ich verstehe es auch.
Dann geht es gut. Wir müssen Geduld haben.
(Mutter drückt ihren Zeigefinger auf Sujatas Brust:)
Wirst du dich an das erinnern, was ich sagte?
1 "Indien wird seinen wahren Platz in der Welt nur einnehmen, wenn es gänzlich der Botschafter des Göttlichen Lebens wird."
2 Nixon.
3 "Watergate" wird zwei Monate später, am 17. Juni beginnen. Nixon wird im November trotzdem mit großer Mehrheit wiedergewählt werden.
4 Beim Darshan vom 24. April.
5 Mutter sagt dies zum zweiten oder dritten Mal seit Beginn dieses Jahres (siehe das Gespräch vom 23. Februar: "die Formation des Todes").
6 Satprems neues Haus in Nandanam.
7 Ausschnitte von Szenen aus Satprems Buch "L'Orpailleur" dargestellt von Aurovillianern (die seitdem Auroville verlassen haben).
8 Satprem muß gestehen, daß er in der Mitte wegging – er konnte einfach nicht bis zum Ende bleiben.
9 Seltsamerweise hatte Satprem in dem Buch nicht von dieser Erfahrung gesprochen, aber sie war in seinem Bewußtsein eingeprägt geblieben, und daran erinnerte sich Mutter: an Satprems eigene Erinnerung. Eines Tages fand er sich im südamerikanischen Urwald vor einem riesigen umgestürzten Baum – wenn ein Riese einstürzt, werden zehn Bäume um ihn herum mitgerissen –, in einer Art grünem Kataklysmus, der nach aufgewühlter Erde roch, und in einem Schweigen wie vom Ende der Welt.