Mutters
Agenda
elften Band
21. Oktober 1970
Ich habe alte Papiere gefunden.
(Satprem liest)
"Man sagt mir, daß du beabsichtigst, Kopien des Porträts, das du von mir gezeichnet hast, zu verteilen. Es wäre besser, in diese Versammlung nichts Persönliches einzubringen, das die Atmosphäre einer entstehenden Religion suggerieren könnte."
Das war für Auroville, und zwar ein von Y gemaltes Porträt. Hast du es gesehen? Du hast es gesehen! (Mutter lacht)
Das war eine höfliche Weise, es ihr zu sagen. Aber sie hörte nicht auf mich und verteilte es trotzdem.
*
* *
(Dann hört sich Mutter die englische Übersetzung gewisser Auszüge der "höllischen" Agenda vom 9. September an, die Satprem in den nächsten "Notizen auf dem Weg" veröffentlichen wollte. Nolini liest seine Übersetzung.)
Das ist nicht interessant.
Es ist zu persönlich...
(Mutter schüttelt den Kopf und versinkt)
Mir erscheint das zu persönlich, um veröffentlicht zu werden.
(Mutter versinkt erneut)
Ich weiß nicht...
Es ist vorbei, es ist zu Ende.
Ich möchte, daß ihr beide absolut aufrichtig seid (Nolini und Satprem) – dachte wirklich nichts in euch: "Nein, das kann man nicht veröffentlichen"?
(Satprem:) Ich hatte nicht diesen Eindruck. Ich hatte den Eindruck, es könnte nützlich sein. Aber ich glaube, Nolini wird objektiver sein, weil er nicht da war, als du gesprochen hast.
(Zu Nolini:) Sag mir absolut aufrichtig, was du fühlst.
(Nolini:) Ich fand, daß es etwas zu persönlich war.
(Mutter stimmt zu) Zu persönlich.
(Nolini:) Nicht alles, aber teilweise. So ist mein Gefühl.
(Schweigen)
Ich fürchte, das könnte der Anlaß sein für... das könnte die Leute zu morbiden Erfahrungen ermuntern.
(Satprem:) Ja, das ist wahr.
Genau das stört mich. Besser nicht. Es würde bedeuten, die Leute zu morbiden Dingen zu ermutigen.
Ja, solche sind mir schon begegnet.
*
* *
(Dann schickt sich Satprem an, ein weiteres Kapitel seines Buchs vorzulesen: "Die Weggabelung")
Die Einleitung muß ins Hindi übersetzt werden. Ich werde das mit R besprechen.
Weißt du, daß C.S. [ein deutscher Übersetzer] hier ist? Hast du ihn gesehen?
Nein, liebe Mutter.
Noch nicht?
Nein, seine Beziehung zu mir ist nicht sehr gut.
Ach? Warum?
Seit fast zwei Jahren habe ich viel für ihn getan. Und jedesmal... bekam ich Dutzende von Briefen, in denen sich immer mehr eine Art mikroskopischer mentaler Besessenheit zeigte, etwas sehr Kleines, sehr Häßliches, das sich immer festbiß... Das ist schwer zu sagen. In ihm ist etwas wie ein kleiner mentaler Zwerg, voller Galle, voller Bitterkeit. Da ist etwas, das gar nicht schön ist. Jedesmal, wenn ich versuchte... (wie soll ich sagen?) ihm etwas Heilsames zuzusenden, um ihm zu helfen, antwortete er mir mit einem Brief voller Galle. Nach ein oder zwei Jahren merkte ich, daß ich seine Reaktion nur verstärkte. Eines Tages schrieb ich ihm deshalb: "Jetzt ist es in Mutters Händen; ich kann nichts mehr für Sie tun."
Aus welchem Anlaß geschah das?
Wegen nichts! Er sagte mir, mein Buch Das Abenteuer des Bewußtseins sei eine enorme Lüge...
Er sagt das?
Ja! Er sagt, sein ganzes Leben habe ihm gezeigt, daß mein Buch eine Lüge ist, weil er nichts von dem verwirklicht hat, was ich sagte, und alles eine Lüge ist. In jedem Brief kam er darauf zurück: "Ja, Sie in Pondicherry sagen das, denn Sie sind im Licht und in der Stille, aber wir hier unten... Ihr Buch ist eine Lüge!"
Was hat er dann hier zu suchen?
Ich weiß es nicht... Aber er leidet, verstehst du. Er ist unglücklich, der arme Mann. Von seiner guten Seite wird er in die eine Richtung gezogen, von seinem kleinen Gnom in die andere. Ich habe die Beziehung zu ihm nicht aus persönlichen Gründen eingestellt, denn ich lasse mich überhaupt nicht kränken, sondern weil ich sah, daß ihm das nicht half – das ist alles. Sonst habe ich nichts gegen ihn; der arme Mann leidet.
Ich habe nie mit ihm gesprochen.
Er hat eine mentale Entstellung. Eine Art Groll, weißt du, Bitterkeit, Haß.
Für die deutsche Übersetzung habe ich noch niemanden gefunden...
In Auroville?
(Schweigen)
Du könntest A fragen, liebe Mutter, er kennt alle Deutschen, die hierherkommen.
A ist kein Psychologe. Wir sollten lieber warten, um sicher zu sein.
Ach, ich bin ganz Ohr!
Soll ich dir trotzdem vorlesen? Du bist nicht müde?
Nein, nein... Ich habe bemerkt, daß ich nicht mehr weiß, was es heißt, müde zu sein – selbst körperlich.
Ein ungeheurer Wandel ist eingetreten, aber es ist noch nicht... man kann nichts darüber sagen.
(Lesung)