Mutters
Agenda
achten Band
Heute morgen hatte ich zwei Stunden lang wirklich die wunderbarste Erfahrung meines Lebens, was Vision und Wissen betrifft. So total... von der wesentlichsten Wahrnehmung dessen, was oberhalb der Schöpfung liegt, bis zur Wahrnehmung der Zellen des Körpers, auf diese Weise: von oben nach unten. Und auf jeder Ebene die Vision der Schöpfung.
Das dauerte zwei Stunden. Ich ging umher, machte meine Toilette, all das war absolut unwichtig, im Gegenteil: hinzu kam das Wissen, wie der Körper handeln kann, ohne den Bewußtseinszustand zu stören.
Danach gab es eine kleine Abweichung, denn es kam... ich kann nicht sagen, die Erinnerung (es war keine Erinnerung) aber all die Klagen: dasselbe wie auf dem Balkon am Tag des Darshans – die menschliche Haltung dem Höchsten gegenüber ist nur die, sich zu beklagen und zu fordern, sich zu beklagen... Voilà. Das kam wieder. Vorher war es die ganze Vision auf diese Art (Geste von oben nach unten), großartig, wirklich großartig: jede Sache, alles, die ganze Menschheitsgeschichte, die ganze Geschichte der geistigen und materiellen Evolution, alles-alles auf diese Weise, jede Sache an ihrem Platz. Es war wirklich gut. Und nachher kam diese Welle der Klagen.
Es war, als ob der Körper sagte: "Welche Haltung (das stellte die Verbindung her), welche Haltung soll ich einnehmen? Was soll ich tun?..." Denn es war die Vision des Lebens, des Todes, von allem, was sich ereignet, alles-alles war da. Das volle Wissen von allem. Oh, all die Geschichten des Todes – das war hoch interessant: wie die Menschheit zu verstehen suchte, und wie man die verschiedensten Lösungen fand, die verschiedenen lückenhaften Ansätze, und all das war Teil des Ganzen.
Und die Schlußfolgerung... Oh, in dem Augenblick hätte ich vieles sagen können über die verschiedenen intellektuellen und sogar spirituellen Haltungen der Menschheit... Es bestehen keine großen Unterschiede. Die spirituellen Haltungen... was man gewöhnlich "spirituell" nennt, läuft darauf hinaus, daß man das Göttliche zu finden versucht, indem man die Schöpfung aufhebt, genau dies hielt man für das spirituelle Leben (deshalb wurde das Wort entstellt). Die Schöpfung aufzuheben, um das Göttliche wiederzufinden... Und dann HEUTE: die heutige Schau. Offensichtlich nähert man sich dem Augenblick, wo es möglich wird... Es ist eine Frage der Zeit – es kann nicht im menschlichen Maßstab geschehen, aber man steht am Rande.
Wie ich dir sagte, bat der Körper... oh, es gab einen so wunderbaren Augenblick – einige Minuten lang –, wo er WUSSTE, wie er sein müßte. Das war großartig. Dann kam diese Erfahrung 1 . Bis dahin ließ es sich nicht ausdrücken: Es wurde gelebt, es war ein lebendiges Bewußtsein, aber das Mental war sehr ruhig geworden, daher war es unausdrückbar. Dann kam diese große Klage der Welt zurück, und die Erfahrung begann sich auszudrücken (Mutter sucht eine Notiz). Sie begann sich auszudrükken, weil es nicht nur das anonyme Verlangen von Tausenden von Leuten war: es hagelt buchstäblich von Briefen, von Fragen, von Forderungen – Leute, die glauben, daß sie Teil der Arbeit, des Werkes sind, die glauben, sich gegeben zu haben, und was für Fragen... so unnütze Fragen, die ihnen von kapitaler Bedeutung zu sein scheinen, die aber so kindisch, dumm und unbedeutend sind: wie man ein Geschäft organisieren soll, das Datum der Eröffnung, der Name eines Hauses, eine Botschaft für ein Treffen... es hagelt nur so von allen Seiten. All das wurde mit dieser neuen Haltung gesehen – nicht "neu", das Bewußtsein war da, voll, es gab eine ganze Tendenz, diese Haltung mehr und mehr einzunehmen, aber nun war es GEWUSST, vollkommen gewußt: Was und wie man sein soll. Da stieg ich herab, um auf all dies zu antworten.
Seit einiger Zeit stellten die Leute haufenweise Fragen – ich weigerte mich, ich lehnte es ganz einfach ab zu antworten, ich antwortete mit einem Scherz: "Ich bin keine Wahrsagerin." Oder auch: "Das kümmert mich nicht, es ist nicht meine Angelegenheit." Solche Scherze, und manchmal sagte ich: "Ach nein, sollen sie mich doch in Ruhe lassen, das sind Kindereien." Leute, die glauben, sie hätten sich hingegeben, zum Beispiel ein Mann, der schon mindestens eine Million Rupien gab (er weiß nur zu gut, daß er sie gab, aber immerhin hat er gegeben!), und er will arbeiten, um noch mehr zu bringen, aber nun seine Fragen... Anstatt mit witzigen Bemerkungen zu antworten (das war meine letzte Erfahrung; die Antworten wurden diktiert, aber es sind witzige Bemerkungen), kam heute morgen etwas auf englisch (Mutter liest ihre Notiz):
We are not here to make our life easy and comfortable.
We are here to find the Divine, to become the Divine, to manifest the Divine.
What happens to us is the Divine's outlook, it is not our concern.
The Divine knows better than us what is good for the progress of the world and our own.
Wir sind nicht hier, um ein leichtes und bequemes Leben zu führen.
Wir sind hier, um das Göttliche zu finden, das Göttliche zu werden, das Göttliche zu manifestieren.
Was uns widerfährt, liegt in der Verantwortung des Göttlichen und ist nicht unsere Aufgabe.
Das Göttliche weiß besser als wir, was gut ist für den Fortschritt der Welt und für unseren eigenen.
Alle kommen, um sich zu beklagen, daß der eine gestohlen hat, daß seine Frau ihn nicht liebt, daß sein Bruder ihn im Stich läßt, daß... All die dummen Geschichten – zu Hunderten, verstehst du, es prasselt nur so herab.
*
* *
(Etwas später, eine Sympathisantin des Ashrams, Mme Z, betreffend, die nicht aus ihrem Christentum herauskommen kann 2)
Hast du diese Dame nun getroffen?
Ich habe den Eindruck, daß es möglich ist, etwas auszurichten... Wie ist dein Eindruck?
Heute morgen war auch das Christentum unter all den Dingen.
(Schweigen)
Hinter dieser ganzen irdischen Evolution steht mehr oder weniger bewußt (es ist eher ein unausgedrücktes Bedürfnis als ein präzises Bewußtsein) das Bedürfnis, das Göttliche zu leben – man kann es auch anders ausdrücken: göttlich zu leben. Offensichtlich waren das, was durch die verschiedenen Religionen ausgedrückt wurde, individuell gefundene Lösungen ("gefunden" und vielleicht teilweise gelebt). Hier [in Indien] lautete die Lösung: um wirklich wieder göttlich zu werden, darf es keine Schöpfung mehr geben. Das war die Lösung des Nirvana. Instinktiv hatte die Menschheit gefühlt, daß der Tod die Verneinung des Göttlichen war. Aber wie jede Verneinung konnte er den Weg zeigen und öffnen. Die Lösung des Christentums war nicht völlig neu, es war die Anpassung einer alten Lösung: ein Leben in anderen Welten – was sich durch die ganz kindliche Auffassung des Paradieses ausdrückt. Aber dies war eine Auffassung für den allgemeinen Gebrauch: das Leben in der Gegenwart des Göttlichen, ausschließlich beschäftigt mit dem Göttlichen, man sang, man... Es ist rührend in seiner Einfachheit. Sie stellten sich jedenfalls eine Welt vor, in der sich ein göttliches Leben verwirklicht hatte (es war aber keine materielle Welt). In den alten indischen Traditionen gab es Andeutungen von Welten, die schon göttlich waren – wie eine Reaktion auf den Nirvanismus: Wenn wir göttlich sein wollen, müssen wir aufhören zu sein, oder wenn das Göttliche rein sein will, darf es sich nicht mehr manifestieren... All das sind ungeschickte Versuche, um einen Weg zu finden, und vielleicht innere Vorbereitungen, um fähig zu werden, wirklich in Beziehung zum Göttlichen zu treten. Dann gab es die große Reaktion des Kultes der Materie, der VIEL dazu beigetragen hat, sie zu kneten, sie weniger unbewußt ihrer selbst werden zu lassen: das führte das Bewußtsein mit Gewalt in die Materie zurück. Vielleicht war all das eine genügende Vorbereitung, so daß der Augenblick der totalen Manifestation (Geste des Herabstiegs) gekommen ist.
Heute morgen während der Erfahrung spürte der Körper die ganze Glückseligkeit des Zustandes, aber er war sich seiner Unfähigkeit bewußt, sie zu manifestieren. Er war sehr bewußt, in einem so vollkommenen Frieden (Geste nach oben geöffneter Handflächen), wo nicht einmal die Intensität des Bedürfnisses bestand. Es war einfach eine Vision, wie die Dinge beschaffen waren, wie der Zustand war. In etwa so: Die irdischen Bedingungen, die Bedingungen der Substanz sind derart beschaffen, daß eine lokale und vorübergehende Manifestation als Beispiel nicht unmöglich ist, daß aber die Transformation, die die neue Manifestation des supramentalen Wesens ermöglicht – nicht nur als isolierter Fall, sondern mit seinem Platz und seiner Rolle im irdischen Leben –, nicht unmittelbar erreichbar zu sein scheint. So war der Eindruck.
Es bestand kein starker Drang, etwas zu wissen, keineswegs, es war einfach eine sehr ruhige Schau der Dinge, fast aller Bedürfnisse entleert: es war so (die gleiche Geste mit geöffneten Handflächen), so friedlich, wie man nur sein kann, lächelnd, ruhig, mit einem Gefühl der Ewigkeit... All das in diesem Körper, der sich seiner Unfähigkeit voll bewußt war. Natürlich hat der Körper sehr wohl das Empfinden, weder zu wissen, noch wissen zu können, noch wollen zu können, noch handeln zu können: einfach so (Geste mit geöffneten Handflächen), so friedlich offen, empfänglich, hingegeben wie nur möglich. Das war dann die Folge davon (die Vision, daß die Manifestation nicht unmittelbar bevorsteht).
Es endet immer auf die gleiche Art: "Was Du willst."
Aber eine sehr klare Vision, daß eine ausreichend kollektive Transformation, um eine neue Rasse auf Erden zu schaffen, erst in einiger Zeit stattfinden kann... ohne Einschätzung der Dauer, aber jedenfalls nicht unmittelbar bevorstehend.
Die Tatsache ist gewiß.
Die Tatsache ist gewiß – es ist keine bloße Möglichkeit, sondern eine TATSACHE. Aber was sich im irdischen Bewußtsein durch Zeit ausdrückt, war unabschätzbar, man kann es nicht berechnen.
1 Mutter scheint sagen zu wollen, daß die Frage des Körpers "der Vermittler" war, der die Erfahrung dieser großen Vision des Ganzen auslöste.
2 Durch ein recht verblüffendes Zusammentreffen fiel seit Mutters Vision vom 29. Juli ("das Christentum vergöttlicht das Leiden") das ganze Christentum über Mutter her: Mönche, kirchliche Würdenträger usw., darunter die Dame, die mehrmals in dieser Agenda auftritt. Was zeigt, daß Mutters Visionen tatsächlich Handlungen sind.