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Mutters

Agenda

ersten Band

15. November 1960

Ich weiß nicht, ob es mit Gs Besuch zusammenhängt 1 oder ob einfach die Zeit gekommen war und die Dinge übereinstimmten (denn meistens geschieht es so), jedenfalls kam eine ganze Vergangenheit zum Vorschein – keine rein persönliche Vergangenheit: Kontakte, die ich früher geknüpft hatte, eine ganze Ansammlung von Dingen, die ein etwas kollektiveres Leben darstellen (wie man es immer ist: man stellt immer eine Kollektivität dar, ohne es zu merken; würde man etwas davon wegstreichen, geriete alles aus dem Gleichgewicht). Eine ganze Ansammlung von Dingen, die völlig aus dem Gedächtnis gefegt worden waren (sie müssen irgendwo im Unterbewußtsein vergraben gewesen sein, oder im Halbbewußtsein, jedenfalls unbewußter als das Unterbewußte), es kam alles zurück! Dinge, Dinge... Hätte man mich noch vor zwei Wochen gefragt: "Erinnerst du dich daran?" hätte ich geantwortet: "Überhaupt nicht!" Es kam von allen Seiten zurück. Solche Armseligkeiten! (Armselig vom Gesichtspunkt des Bewußtseins, der Erfahrung, der Handlung.) Und so grau, so neutral, so platt! Heute morgen (es kam noch heute morgen, während ich mich auf das Darshan vorbereitete), ich fragte mich: "War es möglich, so zu leben?"

Dann wurde so deutlich, daß hinter all dem stets dieselbe leuchtende Gegenwart stand, die immer hinter allem steht, überall, die über alles wachte.

Jetzt betrachtete ich das Leben, die Dinge, das Ganze, die Leute, und ich sah, daß es haargenau dasselbe ist, von diesem Bewußtsein aus gesehen: so öde, so neutral, so eintönig, so grau, ohne Interesse, ohne Leben... Oh, aber das gesamte Leben, WAS ES AUCH SEI, ist aus der Sicht dieses Bewußtseins so!

Dann verstand ich, daß dies einem bestimmten Erfahrungsgebiet entsprechen muß; ich verstand all die Leute, die sagen: "Wenn es nicht anders sein kann als dies, dann..." (dieser Widerstand, diese Kluft zwischen einem WAHREN Leben, einem WAHREN Bewußtsein, einer WAHREN Tätigkeit, etwas Lebendigem, Mächtigen, Verwirklichenden, und dem Leben wie es jetzt ist), wenn immer diese Diskrepanz besteht zwischen dem physischen Ausdruck, wie er gegenwärtig ist, wie er unter den gegenwärtigen Bedingungen sein kann, und dem wahren Leben, dann... Wenn trotz allem, trotz dem ungeheuren Unterschied in meinem Dasein (diese Erinnerungen reichen an die sechzig Jahre zurück), mit all der aufsteigenden evolutionären Anstrengung, die ich seitdem IN DER MATERIE unternahm (ich sage nicht, unter Vernachlässigung der Materie, sondern IN der Materie, IN der Aktion), wenn das nicht weiter führt als diese Diskrepanz zwischen dem wahren Bewußtsein und der möglichen materiellen Verwirklichung, dann versteht man – versteht die Leute, die sagen: "Es ist hoffnungslos." (Selbstverständlich hat das "Hoffnungslos" keinen Sinn für mich.)

Aber ich... ich erlebte ihre Erfahrung, ich erlebte das; und selbst die Ereignisse, die von weitem betrachtet und so, wie sie den anderen erscheinen, außerordentlich aussehen, selbst die markanten Ereignisse oder jene, die der Transformation der Erde halfen, zu den Umbrüchen beitrugen – die großen Geschehnisse, die sogenannten großen Werke –, sie sind aus DEMSELBEN Stoff gewoben, es ist DASSELBE! Betrachtet man es von weitem als Gesamtheit, mag es einen Eindruck machen, aber das Leben jeder Minute, jeder Stunde, jeder Sekunde ist aus DEMSELBEN Stoff gewoben, eintönig, neutral, geschmacklos, OHNE WAHRES LEBEN – nur ein Widerschein des Lebens, eine Illusion des Lebens –, ohne Kraft, ohne Licht und ohne irgend etwas, das im entferntesten der Freude ähnlich wäre. Oh!... wenn es immer so bleiben muß, dann will man nichts damit zu tun haben.

Das ist der Eindruck.

Nur weil ich WEISS, daß es etwas Anderes werden kann und muß, das macht den Unterschied; dieses ganze Bewußtsein, das zugegen ist, in dem ich lebe und das diese Vision der Welt hat, das muß sich in der Vibration JEDER Sekunde manifestieren – nicht in der Gesamtheit, die man von ferne sieht und die interessant erscheint, sondern in der Vibration jeder einzelnen Sekunde, im Bewußtsein jeder Minute, dort muß es kommen, sonst...

(Schweigen)

Jene, die nicht wissen – oder denen nicht gezeigt oder offenbart wurde, daß wir auf etwas Anderes ZUGEHEN, und daß es etwas Anderes SEIN WIRD – wie gut ich sie verstehe!... Ein solches Gefühl der Nutzlosigkeit, der Dummheit, der Vergeblichkeit, und ohne jegliche... jegliche Intensität, jegliches Leben, jegliche Realität, jegliche Inbrunst, jegliche Seele – pah! abscheulich.

All das kehrte zurück, und ich fragte mich: "Wie ist das möglich?..." Denn als ich das damals erlebte (jetzt stehe ich außerhalb dieser Dinge: ich führe sie aus, stehe jedoch gänzlich außerhalb davon, da bekümmert mich das nicht mehr; sie mögen so sein oder so, das hat keinerlei Bedeutung; ich tue meine Arbeit, das ist alles), aber damals war ich zwar bereits bewußt, doch ich stand trotzdem IN dem, was ich tat, zu einem gewissen Grad; ich befand mich IN diesem Gewebe des gesellschaftlichen Lebens (Gott sei Dank, daß es nicht hier in Indien war, denn hier hätte ich es nicht ausgehalten! Ich glaube, ich hätte alles zerschlagen, schon ganz klein, denn hier ist es noch schlimmer als drüben). Drüben ist es trotz allem... ein bißchen weniger eng, ein bißchen lockerer, man kann durch die Maschen schlüpfen, ein bißchen, um ein wenig Luft zu bekommen; doch hier, nach allem, was ich von den Leuten hier hörte und was Sri Aurobindo mir sagte, ist es vollkommen unerträglich (in Japan ist es dasselbe: völlig unerträglich). Das heißt, man kann nichts anderes tun, als alles zu zerschlagen. Drüben bekommt man von Zeit zu Zeit einen Lufthauch, aber auch das ist noch sehr relativ. Heute morgen fragte ich mich... (denn ich lebte jahrelang darin: Jahre über Jahre) und als ich mich fragte: wie war es MÖGLICH, daß ich in all dem lebte, ohne genau nach allen Seiten Tritte zu geben? Sofort, als ich das betrachtete, sah ich über all dem, über dieser... (es ist schlimmer als ein Horror, eine Art... Oh! keine Verzweiflung: nicht einmal diese Intensität der Empfindung – es ist NICHTS! Eintönig, eintönig, eintönig und grau, grau, grau, so eng, ein enges Netz, das weder Luft noch Licht noch Leben durchläßt – es ist nichts), da sah ich augenblicklich, darüber, eine Pracht von einem so sanften Licht – so sanft, so voller wahrer Liebe, wahrem Mitgefühl, etwas so Warmes, so Warmes... der Trost, der Trost einer Ewigkeit von Sänfte, Licht, Schönheit, in einer Ewigkeit von Geduld, die nicht die Zeit verstreichen fühlt, nicht die Sinnlosigkeit und die Dummheit der Dinge fühlt – so wunderbar! Es war ganz und gar das, ich sagte mir: "DAS ist es, was dich leben ließ, ohne DAS hättest du es nicht ausgehalten." Oh! Ich hätte es nicht gekonnt – ich hätte keine drei Tage so leben können! DAS war zugegen, IMMER zugegen, wartete auf seine Stunde, daß wir es endlich eintreten lassen.

(Schweigen)

Und jetzt ist es dasselbe; nur bin ich jetzt hier (Geste oberhalb des Kopfes), ich stehe dort, und das ist eine andere Angelegenheit.

Man schaut nicht mehr von hier nach oben, sondern von oben... schaut, als würde jeder Blick auf jedes Ding eine Verbindung herstellen.

Heute morgen am Balkon war es das.

Die Regenzeit ist so ausdruckskräftig für diesen Zustand der Dinge. So war es: innerhalb dieses endlosen Grau-in-grau, eine Herabkunft von leuchtender Sänfte (Sänfte ist nicht das richtige Wort, es muß ein Sanskritwort dafür geben, aber dies ist alles, was wir haben!...) unermüdlich.

*
*   *

(Etwas später im Gespräch kommt Mutter auf dasselbe Thema zurück:)

Das begann am Tag, als ich die Nachricht erhielt, daß G ankam. Ich dachte mir: "Gut! Hier ist ein Stück Leben, das mir übergeben wird, um es zu klären. Daran muß gearbeitet werden." Aber damit hörte es nicht auf... Es ist wirklich seltsam, wie diese ganze Vergangenheit weggefegt worden war: ich erinnerte mich nicht an die Daten, wußte nicht mehr, wann G hier gewesen war, erinnerte mich nicht mehr an die Geschehnisse, all das war weggefegt worden – das heißt, es war ins Unterbewußte befördert worden. Ich wußte nicht einmal mehr, wie ich früher mit ihm sprach, nichts mehr, alles war verschwunden. Nur ein oder zwei Bewegungen oder Tatsachen, die in direkter Beziehung zum psychischen Leben, zum psychischen Bewußtsein standen, die waren lebendig geblieben – aber nur zwei oder drei solche Erinnerungen; alles andere war verschwunden.

Dieser ganze Abschnitt kehrte zurück; aber damit nicht genug! Das dehnt sich aus, immer weiter, und es reicht weit, Dinge von vor sechzig Jahren kehren jetzt zurück, sogar davor, vor siebzig, fünfundsiebzig Jahren. Jetzt muß all dies geordnet werden.

Das Erstaunliche, das, was mich am meisten interessierte, war, daß es kein persönliches Bewußtsein ist, nicht "jemand, der sich seines Lebens erinnert", sondern Fragmente, Fragmente von Lebenskonstruktionen, Gruppen von Leuten und Umständen, die auf diese Weise zurückkommen. Und das ist so deutlich, daß es unmöglich ist, die Individualität von allem Umgebenden zu trennen! Das hängt zusammen... (wenn man einen Teil ändert, verändert sich alles), das hängt zusammen wie eine gewachsene Masse.

Früher hatte ich das auf andere Weise entdeckt. Ganz am Anfang, als ich begann, das Bewußtsein der Unsterblichkeit zu erlangen und dieses wahre Bewußtsein der Unsterblichkeit der menschlichen Auffassung von Unsterblichkeit gegenüberstellte (die völlig anders ist), da sah ich so deutlich, daß das Wesen (selbst ein völlig gewöhnliches Wesen, das an sich keine Kollektivität darstellt, wie es zum Beispiel ein Schriftsteller, ein Philosoph oder ein führender Politiker täte), wenn es sich in seiner Vorstellung in das fortsetzte, was es als "Unsterblichkeit" bezeichnet (das heißt auf unbeschränkte Dauer), dann wird nicht nur es selber fortgesetzt, sondern immer, notwendigerweise, ein ganzes Gebilde, eine Gemeinschaft, eine Sammlung von Dingen, die das Leben und das Bewußtsein seines gegenwärtigen Daseins darstellen. Diesen Versuch machte ich mit einer Anzahl von Leuten; ich sagte ihnen: "Entschuldigen Sie, aber gesetzt, Ihr Leben würde durch eine besondere Disziplin oder eine besondere Gnade unbeschränkt verlängert; notwendigerweise sind es die Umstände ihres Lebens, die Formation, die Sie um sich gebildet haben und die aus Leuten, Beziehungen, Tätigkeiten und einer ganzen Sammlung von mehr oder weniger lebendigen oder inerten Dingen besteht – das ist es, was Sie fortsetzen. Aber das KANN NICHT so fortgesetzt werden! Weil sich all das ständig verändert. Und Sie werden folgen müssen: um unsterblich sein zu können, müssen sie ohne Unterlaß dieser Veränderung folgen; sonst geschieht ganz natürlich das, was jetzt geschieht: eines Tages sterben Sie, weil Sie nicht mehr folgen können. Demnach, wenn Sie folgen, fällt das von Ihnen ab! Begreifen Sie, daß das, was fortgesetzt wird, etwas in Ihnen ist, daß Sie nicht sehr gut kennen, das aber das EINZIGE ist, was sich fortsetzen kann – alles andere wird ständig abfallen... Liegt Ihnen immer noch daran, unsterblich zu sein?" – Nicht einer unter zehn sagte mir Ja!... Mir gelang es, sie das konkret fühlen zu lassen, da sagten sie: "Ah, nein! Ah, nein! Dann kann man ebensogut seinen Körper wechseln, wo alles andere wechselt! Was kann das schon noch ausmachen!" Aber was bleibt, ist DAS; und DAS zu bewahren muß unser wirkliches Anliegen sein; doch dazu müßt ihr wirklich DAS sein, nicht diese ganze Ansammlung. Was ihr jetzt "euch" nennt, ist nicht DAS, sondern eine ganze Sammlung von Dingen!

Das war damals der erste Schritt (vor sehr langer Zeit). Jetzt ist es so sehr etwas anderes... Man fragt sich, wie es möglich ist, in so vollkommener Blindheit gelebt zu haben, das je in seinem Leben "sich selbst" genannt zu haben! Das ist eine Ansammlung von Dingen... Und welche Beziehung hatte es, daß man es "sich selbst" nannte? – Das ist schwieriger zu finden. Nur wenn man sich in die Höhe begibt, dann erkennt man: aber DAS, das arbeitet dort, und das könnte ebenso gut hier oder dort oder dort arbeiten... Plötzlich kommt manchmal etwas wie ein Tropfen (oh! heute morgen SAH ich es – es war wie ein Tropfen, ein winziger Tropfen, aber von einem SO intensiven Licht, und so vollkommen...), und dort, wo DAS fällt, dort bildet es sein Zentrum und beginnt zu strahlen und zu handeln. Und DAS kann man "ich" nennen – nichts anderes. Und gerade unter so schrecklich uninteressanten, nicht-existenten Umständen war es DAS, was einem ermöglichte zu leben. Und in dem Augenblick, wo man das IST, sieht man, wie nicht nur in diesem Körper, sondern in allen Körpern und durch alle Zeitalter hindurch, das lebte und das sich aller Umstände bediente.

Im Grunde ist das die Erfahrung; es ist nicht mehr das Wissen. Jetzt verstehe ich deutlich den Unterschied zwischen diesem Wissen, das man von der ewigen Seele, dem ewigen Leben durch alle Veränderungen hindurch hat, und der KONKRETEN Erfahrung der Sache.

Das ist sehr bewegend.

Heute morgen war es seltsam... Ich kam mit einigen Minuten Verspätung. (Ich schob die Schuld den Uhren zu, die falsch gingen, aber die Uhren waren nicht verantwortlich!) Ich machte mich gerade fertig, da kam es auf einmal – ein Augenblick... vielleicht ein oder zwei Minuten oder einige Minuten, nicht viele – oh! die Emotion der Erfahrung war... sehr absorbierend.

Es war nicht mehr dies (das Leben, wie es auf der Erde ist), das sich Dessen bewußt wurde (der ewigen Seele, dieses "Teils des Herrn", wie Sri Aurobindo sagt), sondern die ewige Seele, die das Leben betrachtete... auf ihre Weise – aber ohne Trennung, ohne Trennung, nicht etwas, das von oben blickt und sich als etwas anderes fühlt... Wie seltsam! Es ist nicht etwas anderes, es ist NICHT etwas anderes; nicht einmal eine Entstellung, nicht einmal... Es verliert diesen Charakter der Illusion, der in den alten Spiritualitäten beschrieben wird – das ist es nicht! Hier, in meiner Erfahrung, war gerade eine... eine Emotion... ich kann es nicht beschreiben, dafür gibt es keine Worte. Kein Gefühl, es war etwas wie eine Emotion, eine Vibration... zugleich von einer so VOLLKOMMENEN Nähe und einem Mitgefühl, einem Mitgefühl der Liebe (ach! wie schrecklich sind die Worte!...) Das eine war dieses Äußere, das zugleich die vollkommene Verneinung des anderen und GLEICHZEITIG das andere war, ohne jede Trennung. ES WAR das andere. Es ließ im anderen entstehen, was es im einen entstehen ließ, in diesem ewigen Licht. Gerade diese Sanftheit der Identität; der Identität, die notwendigerweise ein so umfassendes Verständnis mit einer so vollkommenen Liebe ist – aber "Liebe" ist ein armseliges Wort und alle Worte sind armselig! Das ist es nicht! Es ist etwas anderes. Etwas, das nicht gesagt werden kann.

Das erlebte ich heute morgen, oben.

Und dieser Körper ist... oh, wie schwach und arm er ist: das einzige, was er finden kann, um sich auszudrücken, sind feucht werdende Augen! Warum? – Wir wissen es nicht.

Noch viel bleibt zu tun, bis wir stark genug sind, das zu LEBEN.

Es war noch gegenwärtig, als ich zum Balkon kam, etwas wie eine Sanftheit... Da ist der Gedanke, daß die Leute, die Dinge, das Leben, all das "anders" sei, völlig undenkbar! Unmöglich. Selbst der Gedanke ist seltsam!

(Schweigen)

Oft fällt es mir schwer, vom Balkon wegzugehen. Und nur dieser selbe Herr... (du weißt, der "Kritiker") kommt und sagt mir: "Du hältst sie da draußen im Regen, nur weil du selber in Ekstase bist; du läßt sie da stehen, naß und mit steifem Hals vom Hochschauen, wirst du sie nicht gehen lassen!" – Wenn er dann zu sehr drängt, gehe ich!

Vielleicht ist er deshalb noch hier, sonst würde ich vergessen... (Mutter lacht)

 

1 Unterhaltung vom 8. November, der "künstlerische" Schüler mit den lockeren Lebensgewohnheiten.

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