Mutters
Agenda
ersten Band
25. Mai 1959
(Brief von Mutter an Satprem)
Dienstag, 1 Uhr (25. Mai 1959)
Satprem, mein liebes Kind,
Ich kann nur das Gebet wiederholen, das ich heute morgen an den Höchsten Herrn richtete:
"Möge Dein Wille geschehen, in allem und jederzeit.
Möge Deine Liebe sich manifestieren."
Für Dich, ich erhielt Dein feierliches Versprechen in einem Augenblick klaren Bewußtseins, und ich bin sicher, Du wirst darin nicht wanken.
Meine Liebe ist mit Dir.
Mutter
(Satprems Antwort)
Mutter,
Wenn es geschieht, um mir all meine Fehler vorzuhalten, daß Du mich an mein "feierliches Versprechen" erinnerst, bin ich bereit, alle Fehler zuzugeben. Ich bin schuldig ohne mildernde Umstände und erwarte keinerlei Nachsicht.
Ich kann mir gut vorstellen, daß Deine Aufgabe hier auf der Erde nicht besonders ermutigend ist und Du unsere menschliche Substanz idiotisch und widerspenstig findest. Ich möchte nicht noch mehr Schlechtes auf Dich werfen, als Du schon empfängst, bitte Dich aber auch, meine Lage zu verstehen. Ich bin nicht geschaffen für dieses ausgetrocknete Leben, nicht geschaffen, den ganzen Tag Sätze zusammenzufügen, nicht geschaffen, um alleine in meinem Loch zu leben, ohne einen Freund, ohne Liebe, ohne anderes als Mantras und die Erwartung eines Besseren, das nicht kommt. Jetzt will ich schon seit drei Jahren abreisen und gebe jedesmal wieder nach, aus Skrupeln, daß ich Dir fehlen könnte und weil ich auch an Dir hänge. Doch nach dem [Buch über] "Sri Aurobindo" wird es wieder etwas anderes sein, immer wird irgend etwas meine Abreise zu einem "Verrat" machen. Ich bin es leid, in meinem Kopf zu leben, immer nur im Kopf, mit Papier und Tinte. Das war nicht mein Traum, als ich zehn war und über die wilde Heide lief. Ich ersticke. Du verlangst zu viel von mir; oder besser gesagt, ich bin nicht wert, was Du von mir erwartest.
Was mich hätte hier halten können, ist, Dich zu lieben. Und ich empfinde für Dich Hingabe, Hochachtung, Respekt, Anhänglichkeit, aber nie dieses Wunderbare und Warme und Volle, das einen in einem gemeinsamen Pochen mit einem Wesen verbindet. Aus Liebe könnte ich alles tun, alles akzeptieren, alles ertragen, alles aufgeben – doch ich fühle nicht diese Liebe. Man kann sich nicht nur mit dem Kopf "hingeben", durch eine mentale Entscheidung. Seit fünf Jahren versuche ich das zu tun. Ich versuche Dir nach bestem Vermögen zu dienen. Aber ich kann nicht mehr. Ich ersticke.
Ich mache mir keine Illusionen und bilde mir keineswegs ein, mein Leben würde anderswo endlich erfüllt werden. Nein, ich weiß, daß all das verdammt ist, aber dann soll es wenigstens wirklich verdammt sein. Will das Göttliche mir nicht seine Liebe gönnen, soll er mir seinen Fluch geben. Nicht aber dieses Leben zwischen zwei Welten. Oder wenn ich zu widerspenstig bin, soll er mich brechen. Nicht aber diese Lauheit, dieses Ungefähr.
Ich bin nicht wirklich schlecht, Mutter. Ich halte dieses Leben ohne Liebe nicht mehr aus. Das ist alles.
Jemand hier hätte mich retten können, weil ich sie hätte lieben können. Oh, es ist nichts von alledem, was Du Dir vielleicht vorstellst. Meine Seele liebt ihre Seele. Etwas sehr Ruhiges. Wir kennen uns jetzt schon seit fünf Jahren, und es wäre mir nie auch nur in den Sinn gekommen, das Liebe zu nennen. Doch alle äußeren Umstände sind gegen uns. Und ich will niemand von Dir abkehren. Jedenfalls sage ich mir, wenn ich schon auf den Boden des Lochs sinke, ist das kein Grund, jemand anderen dorthin mitzuschleppen. Das ist deshalb ein weiterer Grund für mein Weggehen. Ich will nicht weiter alleine in meiner Ecke ersticken. (Es ist nutzlos, mich nach ihrem Namen zu fragen, ich werde nichts sagen.)
Du bürdest mir eine weitere Probe auf, indem Du mich bittest, nach Rameswaram zu gehen. Ich akzeptiere Deinetwegen. Aber ich werde mit meinem härtesten Eisen gewappnet dorthin gehen und nicht nachgeben, weil ich weiß, daß alles immer von neuem zu wiederholen ist. Mir liegt nicht daran, ein "großer Tantriker" oder dies oder jenes zu werden, ich will nur lieben. Und weil ich nicht lieben kann, gehe ich fort. Ich werde morgen früh um 2 Uhr in Rameswaram ankommen und um 11 Uhr wieder mit dem Zug abreisen.
Nach Neukaledonien will ich gehen. Dort oder woanders... Dort gibt es Wälder. Afrika verschließt sich. Du mußt mir ein letztes Mal helfen, indem Du mir die Mittel gibst, fortzugehen und mit einem Minimum an Erfolgschancen etwas anderes zu versuchen – obwohl ich mich dort, wo ich jetzt stehe, ziemlich wenig um "Chancen" kümmere. Ich bräuchte 2000 Rupien, wenn Dir das möglich wäre. Wenn Du nicht willst, oder nicht kannst, gehe ich trotzdem, egal wo, egal wie.
Und noch einmal, Du kannst alle Urteile über mich fällen, ich gestehe alle Fehler ein. Ich bin schuldig in einer schuldigen und idiotischen Welt (die wahrscheinlich ihre Idiotie noch liebt).
Satprem
Die "Aphorismen" für morgen sind fertig.
Mehr habe ich nicht zu sagen.
(Mutters Antwort)
Satprem, mein liebes Kind,
Heute morgen erschien mir das Problem und seine Lösung sehr deutlich; da ich aber aus offensichtlichen Gründen in dieser Angelegenheit Richter in eigener Sache bin, kann ich keine Entscheidung treffen; nicht daß mein Urteil notwendigerweise egoistisch wäre, aber es besäße keine Autorität.
Allein jemand, der Dich liebt und der das Wissen hat, kann die wahre Lösung des Problems finden. X erfüllt diese Voraussetzungen bestens. Gehe zu ihm und zeige Dich ihm so, wie Du bist, ohne zu verschlechtern oder zu verschönern, mit der Aufrichtigkeit und Einfachheit eines Kindes. Er kennt Deine Seele und ihre Aspiration; erkläre ihm Dein physisches Leben und Dein Verlangen nach Raum, Einsamkeit, wilder Natur, einfachem und freiem Leben. Er wird verstehen, und in seiner Weisheit wird er erkennen, was am Besten zu tun ist.
Was er entscheidet, werden wir tun.
Meine Liebe ist unveränderlich mit Dir.
Mutter