Ein Gespräch mit dem Engländer Peter Watson, Autor von "Der deutsche Genius", über Deutschland und die Deutschen
In diesen Zeiten der Spezialisierung ist Peter Watson eine Ausnahme. 2008 veröffentlichte er "Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne". Sein aktuelles Buch lautet auf deutsch "Der deutsche Genius: Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI" und auf englisch "The German Genius: Europe's Third Renaissance, the Second Scientific Revolution and the Twentieth Century". Der Begriff "Renaissance" ging im deutschen Titel verloren, ist aber ein Kernbegriff im Buch. Craig Morris aus den USA sprach mit dem Engländer darüber, wie sehr sie beide von Deutschland beeindruckt sind.
In den 1990ern unterrichtete ich an der Universität Freiburg. In einem Kurs ging es um den Einfluss der Deutschen auf die USA. Ein Student aus Skandinavien wollte von mir wissen, warum die Deutschen auf fast jedem Gebiet führend sind - nicht nur in der Wirtschaft und in der Forschung, sondern auch in der Kunst, Musik, usw. Ich konnte ihm keine Antwort geben, aber mir wurde dabei klar, dass die Annahme hinter der Frage richtig war. Anderthalb Jahrzehnte später haben Sie seine Frage für mich beantwortet - über tausend Seiten. Wie hätten Sie ihm geantwortet?
Peter Watson:: Deutschland steht für das Zeitalter der gebildeten Mittelschicht. In meiner Forschung fürs Buch beeindruckte mich am meisten, dass so viele kreative Menschen - Philosophen usw. - die Söhne und Töchter von Pfarrern waren. Angela Merkel ist selbst Tochter eines Pfarrers. Diese Menschen sind vielleicht selbst nicht gläubig, aber dank ihres Hintergrunds sind sie gut gebildet und ernsthaft. Wir sprechen hier vom deutschen Pietismus im 17. und 18. Jahrhundert.
Diese grundsätzliche Ernsthaftigkeit in Deutschland hatte im 19. Jahrhundert großen Erfolg, als die moderne Forschung und Wissenschaft entstanden. Man bedenke nicht nur die Bücher, die im 19. Jahrhundert verfasst wurden, sondern auch den wirtschaftlichen Fortschritt Deutschlands: die Erfindungen, die Patente. Dank des gebildeten Beamtentums hatte diese Vorgehensweise auch den Segen des Staates. Deutschland war in all diesen Hinsichten seiner Zeit weit voraus, und der Vorsprung zahlte sich etwa zwischen 1850 und 1933 mächtig aus. Das alles ist heute wieder auf dem Vormarsch, nicht nur seit 1945, sondern auch seit 1989.
Wenn man eine große Buchhandlung in Deutschland betritt, findet man einen ganzen Raum, der der Philosophie gewidmet ist, mit einer ganzen Wand von Audiobüchern - drei Bände Adorno, sieben Scheiben Kant. Das ist in Amerika, Großbritannien und Frankreich undenkbar. Natürlich haben auch wir Philosophie-Regale - so groß wie ein Fenster. Der Historiker Heinrich Winkler sagte einmal, dass Deutschland seinen langen Weg nach Westen endlich zurückgelegt habe, aber diese grundsätzliche Ernsthaftigkeit macht den größten Unterschied. Man sieht das meines Erachtens auch, wenn man sich den deutschen Einfluss auf Amerika anschaut. Amerika spricht vielleicht englisch, denkt aber deutsch - was auf die große deutschstämmige Bevölkerung dort zurückzuführen ist. Die ganze öffentliche Kultur dort, die Universitäten - es ist alles eher deutsch als britisch. Das wäre meine Erklärung für Ihren skandinavischen Studenten.
Sie sprechen von einer "deutschen Renaissance". Man denkt beim Wort "Renaissance" eher an Italien. Hat die deutsche Renaissance strukturell etwas mit der italienischen gemein? Das Italien, das die Renaissance hervorbrachte, bestand - wie Deutschland damals - aus starken Fürstentürmern und Städten; die Zentralmacht war eher schwach. Sie nennen das Beispiel, dass Deutschland im Jahre 1800 ganze 47 Universitäten hatte, als es nur 4 in Großbritannien gab. Vergleicht man Deutschland mit Großbritannien und Frankreich, würden Sie sagen, dass die zentralistischen Tendenzen in den beiden letzteren - im Vergleich zur verteilten Macht in deutschen Landen - eher zu einer Konzentration elitärer Unis führten, während Deutschland/Italien zersplittert war, d.h. ihre Länder mussten miteinander in Wettbewerb treten, was zu einem völlig anderen Ergebnis führte. Wie Sie ja sagen, hatte Deutschland als erstes das Analphabetentum weitgehend besiegt.
Peter Watson: Ich sage eigentlich, dass es dreimal eine Renaissance gab. Die erste begann am 12. Jahrhundert in Frankreich, als die Universität erfunden wurde und die Städte sich entwickelten. Dann kam die italienische, an die wir alle beim Wort "Renaissance" denken. Von daher ist die deutsche Renaissance in meiner Betrachtung die dritte.
Aber das, worauf Sie hinauswollen, stimmt, denn damit wird angedeutet, dass es sich hier um Organe handelt, die miteinander konkurrieren können. Das war bestimmt so. Frankreich und Großbritannien haben diese dominanten Hauptstädte - Paris und London -, während Deutschland noch heute wohl sieben oder acht große Städte hat, jede mit ihren eigenen wirtschaftlichen Einzugsgebieten, Verlagen, usw. Das ist viel gesünder und hilft, das Land vorne zu halten. Gleichzeitig würde ich anmerken, dass London - wo ich wohne - für mich der beste Wohnort ist. Leider wurde London aber auf Kosten vom Rest Großbritanniens hervorgebracht. Andere Städte sind hoffnungslos, wenn es um Theater, das intellektuelle Leben, usw. geht. Und hier ähneln sich wieder Deutschland und Amerika mit ihren fünf, sechs, sieben oder acht akzeptablen Städten, die als Kulturzenten gegeneinander antreten. Sicherlich spielt der Wettbewerb eine wichtige Rolle. Einige der 47 deutschen Unis im Jahre 1800 waren freilich sehr klein, aber sie machten trotzdem Druck auf die Großen.
Und dann gab es die Höfe, die arme, aber helle Jungs finanziell unterstützen und auf die Uni schickten - oft waren es Pastorensöhne. Man hatte also die ganze Zeit intellektuelle und soziale Aufstiegschancen in Deutschland. Es gab diesen Mechanismus, der helle Jungs unter den Armen aufspürte - und die durften zeigen, was sie drauf hatten. Herder ist ein gutes Beispiel. Und die Auswirkung auf die deutsche Kultur war phantastisch.
Wie wohl die meisten Menschen lese ich eher Bücher, die meine Meinung stärken, und ich ändere meine Meinung nicht gerne. Sie haben mich in einem Punkt eines Besseren belehrt. Im Bologna-Prozess werden die Unis EU-weit harmonisiert; dabei gehen manche deutschen Traditionen verloren. Einige Deutsche behaupten, dass ein verschulter Unterricht unabhängiges, kritisches Denken ersetzt. Ich habe immer gedacht, die sollen sich nicht so anstellen. Schließlich sind deutsche Unis in internationalen Rankings nicht gerade oben - das sind vielmehr ein paar Unis in den USA und Großbritannien. Sie zeigen jedoch, warum solche Unis wie Göttingen und Halle so wichtig waren - und dass deutsche Unis schon immer anders tickten. Sie erklären, dass Deutschland nicht nur führende Wissenschaftler hervorbrachte, sondern oft auch die Fächer selbst erfand, sondern dass die Deutschen auf eine Art die Forschung selbst aus der Taufe hob. Lebt einiges davon heute fort und verlieren wir etwas, wenn deutsche Uni-Traditionen zugunsten von EU-weit harmonisierten Studiengängen aufgegeben werden?
Peter Watson: Ich weiß nicht, ob ich dazu was sagen kann. Sie wissen vielleicht nicht, dass ich kein Deutsch kann. Ich arbeitete mit Dolmetschern und Übersetzern. Aber ich habe sie selten nötig gehabt, denn meine Gesprächspartner konnten alle Englisch. Viele von ihnen waren auf der London School of Economics, die den Briten einen wunderbaren Einblick in die deutsche Kultur bietet, eventuell weil Dahrendorf dort Chef war. Ich würde sagen, dass das deutsche System bis 1933 sehr gute Dienste geleistet hat und allen anderen weit überlegen war. Früher haben die Briten nach ihrem Studium ein Jahr in Deutschland verbracht.
Vor allem kommt in Deutschland jetzt die außeruniversitäre Forschung zurück, zum Beispiel an Max-Planck-Instituten, die weltweit ganz vorne mitspielen. Die Unis bieten viel in Sachen Unterricht, und die Institute bieten Forschung. So muss man diejenigen, die lieber forschen, nicht zum Unterrichten zwingen und umgekehrt. Dieses System entstand im 19. Jahrhundert in Deutschland und wurde von den Nazis unterbrochen. In den letzten 20 Jahren kommt es wieder ganz stark zum Vorschein. Das ist vermutlich nicht das, was die Studenten meinten, als sie das alte System zurückforderten, aber dort sehe ich die Stärken im deutschen System.
Ich habe den Eindruck, dass Sie mit diesem Buch ein Ziel verfolgen. Sie sagen immer wieder, dass sich die deutsche Geschichte nicht auf 12 Jahre reduzieren lässt - was ich übrigens auch schon geschrieben habe (Das Bild des Anderen). Wenn aber die Deutschen so was sagen, wirft man ihnen Relativismus und Revisionismus vor. Machen wir hier Fortschritte?
Peter Watson: Jein. Am Anfang dieses Projekts sagte mir Fritz Stern, dass kein Deutscher dieses Buch schreiben könnte - man würde ihm Triumphalismus vorwerfen. Und viele andere haben mir seitdem das Gleiche gesagt. Ich spreche die Briten an; die haben den Zweiten Weltkrieg immer noch nicht überwunden. Wenn ich Vorträge halte, sage ich all das, und dann geht es doch immer wieder um das Dritte Reich. Nachher kommen meine deutschen Zuhörer zu mir und sagen leise: "Wir sind so froh, dass Sie dieses Buch geschrieben haben." Im Forum sagen Sie es nicht.
Neulich hielt ich eine Rede in Birmingham, und die Zuhörer waren alle Dozenten der Germanistik von Beruf. Und am Ende ging es doch nur um den Krieg. Ich unterbrach die Diskussion und bat die Deutschen im Plenum - der deutsche Botschafter war auch dabei - um Wortmeldungen. Und sie sagten alle, dass solche Diskussionen nur in Großbritannien möglich sind. Sie sagten, dass so was nicht vorkommt, wenn das Forum in Polen oder sonst wo stattfindet. Das heißt, sie teilten meine Ansicht, dass die britische Obsession mit dem Krieg einzigartig ist. Deswegen habe ich das Buch geschrieben, aber ich kenne viele Deutsche in London, und ich halte sie alle für gut gebildet. Sie sagen mir: "Nun, wir schauen auch nicht vor 1933 zurück." Das ist doch eine ungewöhnliche Aussage für heutige Deutsche. Deswegen sind die Deutschen wohl auch eine treffende Zielgruppe für das Buch.
Neuerdings zeigen Umfragen, dass Deutschland sehr beliebt ist. Sie sagen, dass Deutschland ein gutes Beispiel für die Welt setzt. Ist die Welt bereit, die Nazis Vergangenheit sein zu lassen und Deutschland als Beispiel zu akzeptieren?
Peter Watson: Ich glaube ja. Manche verweisen auf die Fußballweltmeisterschaft 2006, aber ich nicht. Ich glaube, dass viele auf Deutschlands wirtschaftliche Macht neidisch sind. Und dann halten viele Briten die Deutschen für humorlos. Woher wollen sie das wissen, wenn nur ein britischer Student aus hundert Deutsch kann? Die sprechen kein Deutsch, und deshalb wissen sie es nicht. Es ist höchste Zeit, dass wir darüber hinwegkommen. Aber ich glaube, dass wir harte Arbeit schätzen - jedenfalls diejenigen von uns, die protestantischer Abstammung sind.
Wir sind aber nur auf halber Strecke. In meinen Gesprächen stelle ich fest, dass es nicht allgemein bekannt ist, dass Deutschland mehr als Amerika exportiert, mehr als China, mehr als jedes andere Land jedenfalls bis 2009. Das heißt, viele sind einerseits auf Deutschland neidisch, während es andererseits weitgehende Unkenntnisse über ganz einfache Sachen gibt. Aber diejenigen, die den Zusammenhang begreifen, würde Mark Mardell von der BBC beipflichten: "Deutschland ist heute wohl das erwachsenste Land der Erde."