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Der Sonnenweg

Schlüssel zur bewußten Evolu-tion

Ins Deutsche übersetzt von Cay Hehner

epub

 
  

Vielleicht finden wir,
wenn alles übrige gescheitert ist,
verborgen in uns
den Schlüssel zur vollkommenen Wandlung1.

– Sri Aurobindo

Table des matières

1 Die mentale Festung

2 Die große Wandlung

3 Der Sonnenweg

4 Die Weggabelung

5 Das neue Bewußtsein

6 Das Durchbrechen der Grenzen

7 Das Feuer der Neuen Welt

8 Wandel der Sicht

9 Das größere Selbst

10 Harmonie

11 Wandel der Macht

12 Die Soziologie des Übermenschen

13 Und danach?

14 Der Sieg über den Tod

15 Das transformierte Wesen

16 Die Zeit der Wahrheit

 

Einleitung

Die Geheimnisse sind einfach.

Denn die Wahrheit ist einfach, sie ist die einfachste Sache der Welt – deswegen sehen wir sie auch nicht. Es gibt nur eine Sache auf der Welt und nicht zwei, wie den Physikern und Mathematikern langsam klar wird und wie es ein Kind wohl weiß, das der Welle zulächelt an einem sonnenverwehten Strand, an dem diesel-ben Schaumkronen sich aufzutürmen scheinen wie zu Anbeginn der Zeiten und sich dem großen Rhythmus einer vorzeitlichen Erinnerung anschließen, die die Tage und die Sorgen in einer einzigen Geschichte verschmilzt, so alt, als sei sie unwandelbare Gegenwart, so weit, daß sie ihre Unermeßlichkeit selbst an die Schwingen einer Seemöwe heftet. Und alles ist in einer einzigen Se-kunde enthalten, die Totalität aller Zeiten und Seelen, in einem einfachen Punkt, der einen Augen-blick im wilden Schaum aufleuchtet. Diesen Punkt aber haben wir verloren, auch dieses Lächeln und die singende Sekunde. So versuchten wir die Einheit durch Addieren wiederherzustellen: 1 + 1 + 1 ... wie unsere Taschenrechner, als ergäbe die Summe allen möglichen Wissens über alle möglichen Punkte schließlich den richtigen Ton, den einzigen Ton, der die Welt und das Herz eines vergessenen Kindes bewegt und zum Klingen bringt. Diese Einfachheit haben wir für jede Brieftasche zu fabrizieren ver-sucht, und je mehr sich unsere technischen Tastat-uren vervielfältigten, das Leben vereinfachten, desto mehr entfloh uns der Vogel und das Lächeln, selbst der schöne Schaum ist durch unser Kalkül ver-schmutzt. Wir sind nicht einmal mehr sicher, ob un-ser Körper noch uns gehört – die schöne Maschine hat alles verschlungen.

Dabei ist diese ein-zige Sache zugleich die einzige Macht, denn das, was in einem Punkt aufleuchtet, leuchtet zugleich in allen anderen Punkten auf. Ist das einmal begriffen, ist auch alles übrige begriffen – es gibt nur eine Macht auf der Welt und nicht zwei. Ein Kind begreift das sehr wohl: es ist König, es ist unverwundbar. Aber das Kind wächst auf und vergißt. Ebenso wuchsen die Menschen, die Nationen, die Zivilisa-tionen auf. Jeder suchte nach seiner Façon das große Geheimnis, das einfache Geheimnis – mit Waffengewalt, durch Eroberungen, durch Medita-tionen, durch Magie, durch Schönheit, Religion oder Wissenschaft. Und, offen gestanden, sind wir nicht sicher, wer fortgeschrittener ist, die Erbauer der Ak-ropolis, der Magier von Theben, der Astronaut auf Cape Kennedy oder selbst der Zisterzienser; denn die einen lehnten das Leben ab, um es zu verstehen, die anderen ergriffen es, ohne es zu verstehen, die dritten hinterließen eine Spur von Schönheit darin und wieder andere einen Silberstreifen in einem un-veränderten Himmel – wir sind lediglich die letzten auf der Liste. Und unseren eigenen Zauber haben wir noch immer nicht gefunden. Der Punkt, der win-zig-mächtige Punkt ist immer zugegen auf dem Strand der weiten Welt, er glänzt für jeden, der Augen hat zu sehen, so wie er glänzte, als es noch nicht uns Menschen unter den Sternen gab.

Dennoch haben an-dere das Geheimnis berührt: die alten Griechen kan-nten es vielleicht und auch die Ägypter und sicherlich die indischen Rishis des vedischen Zeitalters. Aber mit den Geheimnissen geht es wie mit den Blüten an einem schönen Baum, sie haben ihre eigene Zeit, ihr unmerkliches Wachstum, ihr plötzliches Aufblühen. Für alles gibt es einen richtigen “Augenblick”, selbst für die Konjunktion der Sterne über unseren Köpfen und den Flug des Kormorans über den schaum-weißen Klippen und vielleicht sogar für die Schaumkrone selbst, die einen Augenblick lang vom Schwall der Wellen aufgeworfen wird. Alles bewegt sich einem einzigen Ritus gemäß. Selbst der Mensch. Ein Geheimnis – das heißt ein Wissen, das heißt eine Macht – hat seine eigene organische Zeit, und eine einzelne kleine Zelle, weiter entwickelt als alle anderen, kann nicht die Macht ihres Wissens verkörpern, das heißt die Welt verändern, die Blütezeit des großen Baumes beschleunigen, wenn nicht das übrige evolutionäre Terrain bereit ist.

Aber die Zeit ist ge-kommen.

Sie ist gekommen, treibt Knospen, schlägt überall auf der Erde aus, selbst wenn diese unsichtbare Blume noch als Eiter-beule erscheint: Studenten in Kalkutta enthaupten eine Statue Gandhis, die alten Götter zerfallen zu Staub, die intellektuellen und philosophischen Geis-ter schleudern Parolen der Zerstörung in die Welt und rufen die Barbaren der Fremde, wie die alten Römer, um ihr eigenes Gefängnis niederreißen zu helfen; andere rufen nach künstlichen Paradiesen – gleich welcher Weg, bloß nicht mehr dieser eine! Und die Erde keucht und ächzt aus all ihren Rissen und Spalten, ihren unzähligen Spalten, aus allen Zel-len ihres großen, sich wandelnden Körpers. Die sogenannten “Übel” unserer Epoche sind heimliche Geburtswehen, die wir noch nicht zu verstehen gelernt haben. Wir stehen vor einer neuen evolu-tionären Krise, die nicht minder radikal ist als die er-ste menschliche Abweichung unter den großen Af-fen.

Da aber der irdische Körper eins ist, ist das Heilmittel eins, genauso wie die Wahrheit, und ein einziger transmutierter Punkt transmutiert alle übrigen. Dieser Punkt liegt jedoch in keiner Reform unserer Gesetze, Systeme, Wissen-schaften, Religionen, weltanschaulichen Schulen oder “ismen” jedweder Farbe – all dies ist noch Teil der alten Mechanik, es gilt nicht irgendeinen Bolzen irgendwo fester anzuziehen, etwas hinzuzusetzen oder zu verbessern, wir stecken voll und ganz in der Erstickung. Dieser Punkt liegt ebensowenig in un-serer Intelligenz – sie hat ja die ganze Mechanik konzipiert – noch in einer Besserung des Menschen, denn das wäre nichts als eine Verherrlichung seiner Schwächen und seiner vergangenen Größe. “Die Unvollkommenheit des Menschen ist nicht das letzte Wort der Natur,” sagte Sri Aurobindo, “seine Vollkommenheit jedoch ist ebensowenig der letzte Gipfel des Geistes2.” Dieser Punkt liegt in einer für unseren Intellekt unvorstellbaren Zukunft, die aber im Herzen des Wesens wächst wie die Blüten des Flamboyanten, nachdem alle Blätter gefallen sind.

Nichtsdestoweniger gibt es einen Hebel in die Zukunft, begeben wir uns nur zum Herzen der Sache. Was aber ist dieses Herz, wenn es nicht in all dem zu finden ist, was wir nach unseren menschlichen Normen für schön, gut und wahr halten?... Eines Tages versuch-ten die ersten Reptilien, die das Wasser verlassen hatten, zu fliegen, die ersten Primaten, die den Dschungel hinter sich gelassen hatten, warfen einen fremdartigen Blick in die Welt: ein und derselbe un-widerstehliche Drang veranlaßte sie, einen anderen Zustand zu betrachten; und vielleicht war die ge-samte transformative Kraft in diesem einen ein-fachen Blick auf etwas anderes enthalten, als besäße dieser Blick – dieser Ruf, der unbekannte Punkt, der schreit – die Macht, die Quellen der Zu-kunft zu öffnen.

Denn dieser Punkt enthält in Wahrheit alles, vermag alles, ist ein Funke des solaren Selbst, unzählig und einzig, der im Her-zen der Menschen und Dinge scheint wie in jedem Punkt des Raumes, in jeder Sekunde der Zeit, in jeder Schaumflocke, der unablässig zu jenem Im-mer-Mehr wird, das er im Bruchteil einer Lichtse-kunde erblickte.

Die Zukunft gehört jenen, die sich vorbehaltlos der Zukunft hinge-ben.

Und wir behaupten, daß es eine Zukunft gibt, die weit herrlicher ist als alle elektronischen Paradiese des Mentals: der Mensch ist ebensowenig das Ende, wie der Ar-cheopteryx die Krönung der Reptilien war – denn wo überhaupt könnte die große evolutionäre Welle enden? Und heute ist es klar erkenntlich: Wir scheinen immer neue und immer groß-artigere Maschinen zu entwerfen, stecken die Grenzen des Menschlichen immer weiter aus, dringen selbst bis Jupiter und Venus vor. Tatsächlich aber erscheint es nur so, die Lage wird zunehmend unerträglicher, nähert sich dem Ersticken, und nichts wird in Wahr-heit weiter gesteckt: Wir katapultieren ein mitleider-regendes kleines Menschenwesen bis an die Gren-zen des Kosmos, obwohl es sich nicht einmal um seine eigene Sippschaft zu sorgen versteht und nicht weiß, ob seine Höhlen einen Drachen oder ein weinendes Baby beherbergen. Unser Fortschritt ist in Wirklichkeit gleich Null, einzig unser mentaler Heißluftballon schwillt maßlos an, auf daß er uns jeden Augenblick ins Gesicht platzt. Wir haben den Menschen nicht verbessert, wir haben ihn nur kolos-salisiert. Und es konnte nicht anders sein, der Fehler liegt in keinem Mangel unserer Tugend oder unseres Intellekts, denn selbst aufs äußerste angestrengt, können diese nichts anderes ergeben als Superas-keten oder Supermaschinen: also Monster. Ein as-ketisches Reptil in seinem Loch stellt nicht mehr einen evolutionären Gipfel dar als ein asketischer Mönch. Oder steigen wir gleich aus. In Wahrheit be-steht der Gipfel des Menschen – oder der Gipfel von was auch immer – nicht in der graduellen Ver-vollkommnung der betreffenden Gattung sondern in “etwas” radikal anderem, das nicht seiner Gattung angehört und das zu werden er bestrebt ist. So lautet die evolutionäre Gesetzmäßigkeit. Der Mensch ist kein Endzweck, er ist ein “Übergangswesen”, wie Sri Aurobindo vor langer Zeit sagte3, er befindet sich auf dem Weg zum Übermenschen, so unabdingbar wie die äußerste Knospe des äußersten Astes bereits im Samen des Mangobaumes enthalten ist. Und unsere einzige wirkliche Aufgabe, unser einziges Problem, die einzige Frage aller Zeiten, die es zu lösen gilt und die unser riesiges irdisches Schiff in all seinem ächzenden Spanten- und Sparrenwerk auseinanderreißt, ist: Wie läßt sich der Übergang bewerkstelligen?

Auch Nietzsche hatte das gesehen. Sein Übermensch allerdings war eine Kolossalisierung des Menschlichen, wir haben ihn über Europa stürmen sehen; damit war kein evolu-tionärer Fortschritt erreicht, sondern ein Rückfall in die alte Barbarei der blonden oder brünetten Bestie des menschlichen Egoismus. Kein Supermann tut uns not sondern etwas anderes, das bereits im Her-zen der Menschen stammelt und das sich so sehr vom Menschen unterscheidet wie Bachs Kantaten von den ersten Grunzlauten der Hominiden. Und in Wahrheit sind Bachs Kantaten armselig, wenn das innere Ohr sich den Harmonien der Zukunft zu öff-nen beginnt.

Diese Öffnung, diesen Übergang wollen wir im Lichte dessen zu er-gründen versuchen, was wir von Sri Aurobindo und jener, die sein Werk weiterführte, gelernt haben, den modus operandi des Übergangs, damit wir den He-bel selbst ergreifen und methodisch an unserer ei-genen Evolution arbeiten können – experimentelle Evolution betreiben können –, so wie andere in Re-agenzgläsern Embryos züchten, wobei sie vielleicht nichts weiter als das Echo ihrer eigenen Ungeheuer zu hören bekommen.

Das Geheimnis des Lebens liegt nicht im Leben selbst, jenes des Men-schen nicht im Menschen, wie auch “das Geheimnis des Lotos nicht im Morast liegt, aus dem er treibt,” wie Sri Aurobindo sagt4, und dennoch verbinden sich Morast und Sonnenstrahl und erlangen zusam-men einen höheren Grad von Harmonie. Diese Ver-bindungsstätte, diesen Transmutationspunkt gilt es zu finden. Dann werden wir vielleicht wiederent-decken, was ein stilles Kind am Strand in der wilden Schaumflocke sah, und die höchste Musik, die die Welten webt, und das eine Wunder, das seiner Zeit harrt.

Und das, was men-schenunmöglich erschien, wird ein Kinderspiel.

1 Die mentale Festung

Unsere Schwierig-keiten entstammen stets der Illusion, daß wir die ein-zigen seien, die sie zu lösen hätten. Wenn unsere intellektuelle Macht (oder Ohnmacht) nicht eingreift, wenn unsere mehr oder weniger großen Fähigkeiten nicht engagiert sind, glauben wir unser Bemühen zum Scheitern verurteilt. Derart ist die tiefsitzende Überzeugung des mentalen Menschen. Ihre Folgen kennen wir nur zu gut. Aber auch wenn sie innerhalb ihres Rahmens fehlerlos wäre, birgt diese Vor-gangsweise doch einen kapitalen Fehler, nämlich nur das erreichen zu können, was bereits in unserer Intelligenz und unserer Muskelkraft angelegt ist – ausgenommen das Leben vereitelt unsere Pläne durch unvorhergesehene Einflüsse. Mit anderen Worten: unsere mentale Existenz ist ein geschlosse-nes System. Nichts kann in sie eindringen außer dem, was wir hineinstecken. Hier liegt der Grund-stein der großen Festung. Ihre zweite unausweich-liche Charakteristik ist die strenge Mechanik ihrer Abläufe: alles verläuft im geschlossenen Kreislauf des Denkens, der Planung oder der besagten Mus-kelkraft, die wir einsetzen, da ja nichts hinzuzutreten vermag als das, was wir selbst zusammengebraut haben. Und alles ist quantifiziert bis auf das kleinste Dyn, Zentidyn und Millidyn, das wir aufwenden: das Maß stimmt – oder ist knapp, aber auch dies wurde im eingesetzten Intelligenz-Quotienten bereits berücksichtigt. Das heißt, das System ist bis in die letzte Ritze hermetisch vernietet und versiegelt. Es gibt nicht den geringsten Sprung darin, außer, wied-erum, das Dasein wirft unsere unantastbaren Mes-sungen mehr oder weniger unpassend über den Haufen. Ihre dritte unausweichliche Charakteristik folgt aus den beiden anderen, es handelt sich um ihre vollkommene “Objektivität”: nichts entgeht ihrer Aufmerksamkeit, oder das, was ihr entgeht, ist von vornherein genau kalkuliert, in Gleichungen gesetzt und “programmiert”, um in den Kreislauf der Maschine zurückgeführt werden zu können und den Ballon weiter aufzublasen, wenn es an der Reihe ist. Selbstverständlich ist alles objektiv, denn jedermann trägt ja identisch getönte Gläser, selbst unsere In-strumente gehen auf das genaueste mit den Ergeb-nissen konform, die wir von ihnen erwarten. Kurz, das System ist durch und durch auf das Vollkom-menste und Strengste vorprogrammiert. Wir haben einen mentalen Kreis gezogen, wie der Zauberer von damals, sind mitten hineingetreten, und dort stehen wir nun.

Doch genau das kann sich als ungeheure Illusion offenbaren.

Tatsächlich zerplatzt die Illusion uns selbst zum Trotz. Das, was uns als gräßliche Verwirrung erscheint, ist ein großes Auf-gebot neuer Energien, die einen frischen Wind in die Lungen von uns mentalisierten Erdlingen blasen ... “Neue Energien”, in diesen Worten schwingt etwas von Mystik mit, wogegen der Materialist heftig pro-testieren würde. Wir sollten uns aber eingestehen (bevor uns die Umstände mit der Nase im Staub dazu zwingen), daß unsere Materialisten von heute ebenso veraltet sind wie die Religionsanhänger von gestern, ihr System ist kurzgeschlossen, vernietet, vorprogrammiert und veraltet. Der eine wie der an-dere ist ein Produkt des mentalen Kreises, die Kopf- und Kehrseite derselben Medaille, die sich zuneh-mend als Falschmünze erweist. Es geht nicht um Gott oder Nicht-Gott, sondern um etwas anderes; es geht darum, aus dem Kreis auszutreten und zu ent-decken, wie man auf der anderen Seite atmet – und man atmet dort sogar ausgezeichnet, als hätte man niemals vorher geatmet, als wäre es überhaupt un-ser erster Atemzug auf der Welt.

Wir bewerkstelligen den Übergang also nicht aus eigener Kraft; wäre das die Bedingung, könnte keiner es tun außer den spiri-tuellen Athleten. Aber selbst diese Athleten, randvoll von ihren Meditationen, Konzentrationen und Aske-sen, schaffen es nicht wirklich, auch wenn sie den Anschein geben mögen: sie blähen lediglich ihr spiri-tuelles Ego auf (eine schlimmere Form als die an-deren, viel tückischer, denn es kleidet sich in ein Körnchen Wahrheit), und ihre Erleuchtungen sind nichts weiter als die Entladungen der Wolken, die sie um sich gesammelt haben. Die innere Logik des Übergangs ist einfach: man kann nicht allein durch die Kraft des Kreises aus dem Kreis ausbrechen, sowenig der Lotos allein durch die Kraft des Mo-rastes aus diesem herauswächst. Es erfordert einen kleinen Sonnenstrahl. Und weil sie nur die ätherischen Gipfel des mentalen Ballons berührt hat-ten, produzierten die Asketen, die Heiligen und Re-ligionsstifter aller Epochen die eine oder die andere Kirche, die auf seltsame Weise dem geschlossenen System glich, von dem sie ausgegangen waren, das heißt, es gab ein Dogma, eine Reihe von Bestim-mungen, eine Gesetzestafel, einen einzigen und alleinseligmachenden Propheten, der das Licht der Welt im gesegneten Jahr 000 erblickte und um den sich die Heilsgeschichte dreht, auf immer fixiert auf das Jahr 000, so wie das Elektron um den Atomkern, die Sterne um die Achse des Kleinen Bären und der Mensch um seinen Nabel. Oder, sind sie tatsächlich aus dem Kreis ausgebrochen, dann nur im Geiste, und die Erde und die Körper wurden ihrem ge-wohnten Zersetzungsprozeß überlassen. Es mag wohl sein, daß jede dieser neuen Weltachsen weiser, leuchtender, wertvoller und tugendhafter war als die vorangehenden und dem Menschen geholfen hat, doch am mentalen Kreis hat sich nichts geändert, wie man seit Jahrtausenden sieht – denn ihr Licht war nur die Kehrseite ein und desselben Schattens, das Weiß des Schwarz, das Gute des Bösen, die Tugend der entsetzlichen Misere, die uns alle in den Windungen unserer Höhlen packt.

Diese unversöhnliche Dualität, die das gesamte Leben des mentalen Men-schen überschattet und beherrscht – ein Leben, das nur ein Leben des Todes ist –, kann augenfälliger-weise auf dieser Ebene der Dualität nicht gelöst werden: ebensogut könnte man seine rechte Hand nehmen und damit die linke niederzukämpfen ver-suchen. Genau dies hat das menschliche Mental, ohne großen Erfolg, auf allen Ebenen seiner Exis-tenz zu leisten versucht: Es hat seinen Himmel der Hölle gegenübergestellt, seine Materie dem Geist, seinen Individualismus dem Kollektivismus oder gleich welchem anderen der verschiedenen “ismen”, von denen es in dieser unglücklichen Sphäre nur so wimmelt. Der Ausweg liegt in keinem Erlaß irgendeines perfektionierten “ismus”: ihres Himmels beraubt, ist unsere Erde ein armselig leerlaufendes Getriebe; seiner Materie beraubt, ist unser Himmel ein bleicher Nebel, in dem die schweigenden Me-dusen entkörperter Geister schweben; und der Indi-viduen beraubt, sind unsere Gesellschaften ein gräßlicher Ameisenhaufen; selbst seiner “Sünden” beraubt, verliert das Individuum einen Spannungs-pol, der ihm in seiner Entwicklung half. Die Wahrheit ist, daß keine Idee, so großartig sie auch sein mag, die Macht hat, die Konstrukte des Mentals aufz-ulösen – aus dem guten Grunde, weil diese Kon-strukte ihren Wert und ihre Zeit haben. Aber auch es hat seine Zeit, so wie die Spore, die über das Land streicht, bis sie eines Tages günstigen Boden findet und aufbricht.

Und tatsächlich be-steht der Ausweg nicht in einer Idee sondern in einem organischen Faktum.

Die Natur lehrt uns beständig, daß sie ausgezeichnete Gründe für ihr Wirken hat; wir halten uns für ihr überlegen, weil wir sie mentalisieren, klassifizieren und einige ihrer Ge-heimnisse ausbeuten, doch bei all dem unterliegen wir immer noch ihren Gesetzen. Wenn sie wirklich fähig war, aus fahlem Protoplasma die schillernden Tentakel der Seeanemonen zu entwickeln, damit diese ihre Beute besser greifen können, und all die Millionen Arten bildete, um uns die Regenbogenpal-ette dieser guten Erde darzubieten, dann ist anzunehmen, daß sie auch gute Gründe hatte, die menschlichen Seeanemonen zu bilden, von denen jede im polychromen Netz ihrer Tausenden von Ge-danken, Gefühlen und Impulsen die Beute ergreift, die sie packen kann. Wenn der mentale Kreis, diese furchterregende Hydra, sich um unsere menschliche Art gelegt hat, dann ist das mit Sicherheit keine nutzlose Falle, über die wir uns hätten hinwegsetzen können, wären wir nur etwas gewitzter gewesen. Denn wozu ihn schaffen, wenn er zu nichts weiter da ist, als überwunden zu werden? Hätte einer der vi-sionären Hirten aus der Zeit der Upanischaden bereits unmittelbar den Sprung zum Übermenschen schaffen können, so wäre es evolutionär unerklär-lich, wofür all der Schmerz und all das Blutvergießen gut gewesen sein sollen. Nichts auf der Welt ist überflüssig – das Leiden, das nicht eine geheime Sprengkraft des Wachstums in sich birgt, muß erst noch gefunden werden.

Doch der Nutzen des Mentals liegt überhaupt nicht in dem, was es sich in der Arroganz seines Wissens und seiner Entdeckun-gen gerne einbildet, denn das Mental verwechselt stets das Instrument mit dem Meister. Wir hielten das mentale Werkzeug für Zweck und Mittel zugleich und glaubten, dieser Zweck bedeute eine zuneh-mend größere, siegreichere und strengere Herr-schaft des mentalen Terrains, das es mit prächtigen Städten und weniger prächtigen Vorstädten ausges-tattet hat. Hierbei handelt es sich aber lediglich um einen Sekundärzweck, um ein lautes Nebenprodukt, und es zeigt sich, daß die fundamentale Wirkung des Mentals im Menschen nicht die ist, ihn intelligenter zu machen (intelligent in Bezug auf was? die Maus in ihrem Loch besitzt eine ausgezeichnete Intelligenz für das ihr eigene Revier), sondern ihn innerhalb seiner eigenen Art zu individualisieren und ihm die Fähigkeit zur Abweichung, zur Veränderung zu ge-ben – wohingegen die übrigen Arten unveränderlich und allein als allgemeiner Typus individualisiert waren – und ihn schließlich zu befähigen, einen Blick vorauszuwerfen auf das, was seinen eigenen Zustand überschreitet. Mit dieser Individualisierung und der Macht der Veränderung nehmen die “Irrtümer” des Menschen, seine “Sünden”, seine schmerzliche Zerrissenheit ihren Anfang; seine Macht zum Irrtum aber ist gleichfalls seine ver-borgene Macht zum Fortschritt, und eben aus die-sem Grund scheitern unsere selbstgerechte Moral und unsere makellosen Himmel und werden das bis in alle Ewigkeit weiter tun: denn ohne Irrtum und Ta-del wären wir eine stagnierende und unfehlbare Art wie die Mollusken oder das Opossum. Anders gesagt, das Mental ist ein Instrument der beschleunigten Evolution, ein “Evolutionär” oder Entwickler. In fünfzig Jahren wissenschaftlicher Entwicklung hat der Mensch größere Fortschritte gemacht als in allen vorwissenschaftlichen Jahr-tausenden zusammengenommen. Aber Fortschritte in welchem Sinne? Gewiß nicht im Sinne seiner eitlen, trügerischen Herrschaft, nicht in einem besseren Leben oder besseren Sein, sondern im Sinne der mentalen Sättigung der Art. Einem Kreis kann man nicht entrinnen, bevor man ihn individuell und kollektiv voll und ganz durchlaufen hat. Es ist nicht möglich, allein auf die andere Seite zu gelan-gen. Der Übergang gelingt jedermann (oder steht zumindest jedermann offen) oder niemandem, die Art als Ganzes entwickelt sich weiter, denn es gibt nur einen menschlichen Körper. Anstelle einer Handvoll Eingeweihter, die unter einer Masse von ignoranten und semi-animalischen Menschen ver-streut sind, ist es die Spezies als Ganzes, die im Be-griff steht, ihre Initiation zu bewerkstelligen, oder in der Sprache der Evolution, die ihre äußerste Veränderung bewirkt. Wir haben den mentalen Kreis nicht durchlaufen, um Raketen zum Mond zu schießen, sondern um individuell, unzählig und wil-lentlich fähig zu sein, den Übergang in den höheren Kreis zu vollziehen. Der Bruch des alten Kreises ist das große organische Faktum unserer gesamten Epoche. Und alle Dualitäten, die Gegenpole, die Laster der Tugenden und die Tugenden der Laster, das gesamte schillernde Chaos sind Arbeitsinstru-mente, Spannungsfelder oder “Tensoren”, wenn man so will, die uns auf Biegen und Brechen gegen die eiserne Mauer drängen – eine Mauer der Illusion. Doch die Illusion fällt erst dann, wenn man gewillt ist, sie also solche zu erkennen.

Soweit unsere gegenwärtige Lage. Die Illusion ist noch nicht be-siegt, sie tobt sogar mit nie dagewesener Gewalt, gerüstet mit all den Waffen, die wir so eilfertig für sie auf-poliert haben. Doch dies sind die letzten Konvul-sionen eines Kolosses, der auf tönernen Füßen steht – der in Wahrheit ein Gnom ist, ein überdimen-sionierter Gnom mit Stahlhelm und eisernen Kiefern. Die Weisen des alten Indiens wußten das sehr wohl. Sie gliederten die menschliche Evolution in vier kon-zentrische Kreise: denjenigen der Weisen und Gele-hrten (Brahmanen), die in der Frühzeit der Menschheit, in dem “Weltalter der Wahrheit” lebten; den darauffolgenden der Edlen und Krieger (Kshatriyas), in dem nur “dreiviertel der Wahrheit” verblieben; den nächstfolgenden der Händler und Bürger (Vaishyas), die nur noch die “Hälfte der Wahrheit” besaßen; und schließlich den unsrigen, die Epoche des “kleinen Menschen”, der Shudras, der Knechte und Diener (der Maschine, des Egos, der Gier), des großen Prole-tariats der reglementierten, parzellisierten Freiheiten – des “Finsteren Weltalters”, des Kali Yuga, in welchem überhaupt keine Wahrheit mehr verbleibt. Gerade weil jedoch dieser letzte Kreis der extremste ist, weil alle Wahrheiten versucht und erschöpft wur-den, weil alle nur möglichen Wege und Irrwege durchlaufen sind, berühren wir nun die echte Lösung, die wahre Lösung im Anbruch eines neuen Weltalters der Wahrheit, dem “supramentalen Zeital-ter”, von dem Sri Aurobindo sprach, wie die Butter-blume, die ihre letzte Hülse bricht, bevor sie ihr gold-enes Inneres freilegt. Wenn die Entsprechung zwischen dem großen Kollektivkörper und unserem Körper stimmt, könnte man sagen, daß das Zentrum, welches das Zeitalter der Weisen beherrschte, sich auf der Höhe der Stirn befand, während dasjenige des Zeitalters der Edelleute auf dem Niveau des Herzens situiert war, dasjenige des Zeitalters der Händler sich auf den Bauch konzentrierte und schließlich das für unser Zeitalter zutreffende auf dem Niveau der Materie und des Geschlechts liegt. Der Abstieg ist vollendet. Dieser Abstieg aber bein-haltet einen Sinn und zwar einen Sinn für die Ma-terie. Wären wir für immer und ewig auf dem Stirnniveau der göttlichen Wahrheiten des Mentals verblieben, so wäre diese Erde, dieser Körper nie-mals transformiert worden, und die Lösung wäre al-ler Wahrscheinlichkeit nach eine Flucht in irgendeinen Himmel des Geistes oder eine Au-flösung in irgendein Nirvana gewesen. Jetzt hingegen muß alles transformiert werden, selbst die Materie und der Körper, denn wir stecken voll und ganz in ihm; durch eine sublime Ironie erscheint dies als größter Dienst, den das finstere Weltalter uns mit seiner Wissenschaftlichkeit und seinem Materialis-mus erwiesen hat: ein solches Eintauchen des Geistes in die Materie zu erzwingen, daß nichts mehr bleibt, als sich in ihr zu verlieren oder sich mit ihr zu verwandeln. Das absolute Schwarz ist nichts als der Schatten einer gewaltigeren Sonne, welche die Abgründe durchpflügt, um eine dauerhafte Schönheit hervorzubringen, die sich auf den gek-lärten Grund unseres irdischen Unterbewußtseins gründet und bis in die letzten Zellen unseres Körpers aufrecht in der Wahrheit steht.

O Du gewaltenbeherrschtes, schicksalsgetriebenes,

erdgeborenes Geschlecht,

O Ihr kleinlichen Abenteurer einer unendlichen Welt,

Und Sklaven einer Zwergenmenschheit,

Wie lange wollt ihr in dem leeren Kreislauf des Mentals treten

Um Euer kleines Selbst und schale Dinge?...

Ein Seher, ein kühner Schöpfer lebt in Euch.

Makellose Größe schwebt über Euren Tagen,

Allmächtige Gewalten liegen in den Zellen der Natur verborgen5.

Diese (für uns) un-mögliche Aufgabe ist nichts weniger als unmöglich für die große Vollenderin, die das evolutionäre Spiel bis zu diesem kritischen Punkt getrieben hat. Sie ist es, die vermag. Ihre stillen Reserven gilt es zu er-greifen oder vielmehr sich von ihr ergreifen zu lassen und mit dem innigsten Verständnis der großen Wandlung an unserer eigenen Evolution mitzuar-beiten. Keine der athletisch-spirituellen Tugenden des alten geschlossenen Systems ist hier von Nutzen, sondern eine Art radikaler Sprung ist not-wendig, voll bewußt und mit weit offenen Augen, mit einer schlichten Hingabe seiner selbst an die Götter der Zukunft, mit dem entschiedenen Entschluß, die ungeheure Illusion bis in ihre letzten Winkel zu ver-folgen, mit einer höchsten Öffnung für die höchste Möglichkeit – die uns in ihre Arme nimmt und uns auf ihren Sonnenweg führt, bevor wir uns angeschickt haben, auch nur ein Viertel eines Schrittes auf sie zuzugehen. Denn in Wahrheit gibt es “Augenblicke, in denen der Geist sich unter den Menschen bewegt ... es gibt andere, in denen er sich zurückzieht und sie ihren Taten überläßt, der Kraft oder Schwäche ihres eigenen Egoismus gemäß. Ersteres sind Pe-rioden, in denen selbst eine kleine Anstrengung große Ergebnisse zeitigt und das Schicksal verändert6...”

In Wahrheit befinden wir uns in genau einem solchen Augenblick.

2 Die große Wandlung

Das Geheimnis eines Kreises liegt in dem unmittelbar folgenden Kreis, desgleichen wie das Geheimnis des Pfeils im Ziel liegt, das er verfolgt; und gelänge es uns, ihn bis zu seinem Meisterschützen zurückzuverfolgen, erhiel-ten wir das Geheimnis der Geheimnisse, den zen-tralen Punkt, der diesen Kreis bestimmt, das Ziel al-ler Ziele. Aber es heißt, die Entdeckung sei lang-wierig und daß wir Schritt für Schritt zurückgehen müssen, vom Werkzeug zur Hand, die dieses Werkzeug führt, da wir ja selbst am Anfang dieses Werkzeug gewesen sind: eine kleine vitale Antenne, die um ein Selbst im Leben herum tastet, bevor sie sich als Nachtfalter oder als Tausendfüßler erkennt, eine kleine mentale Antenne, die unerklär-licherweise im Radius eines agilen Selbst vibriert, bevor sie sich als Mensch unter Menschen entdeckt, und dann diese andere, noch undefinierte Antenne, die sich der Sinne und des Denkens zu entschlagen scheint, um uns auf ein anderes, noch größeres Selbst stoßen zu lassen. Bis auf den Tag, an dem wir das große Selbst erreichen und unsere Erfüllung finden; dann werden wir den Meister aller Werkzeuge gefunden haben und die volle Bedeu-tung der Reise.

Für uns aber, die wir am Ende des mentalen Kreises stehen, in diesem Zeitalter der Sklaven des Egos und der zweifelhaften Genüsse eines kleinen denkenden Ichs, wie können wir das Geheimnis dessen in Erfahrung bringen, was uns jetzt noch als unbegrenztes und beunruhigendes Nicht-Ich und vielleicht sogar als destruktiv erscheint gegenüber dem, was wir so unverrückbar als Ich kennen?... Um die Wahrheit zu sagen, der Weg ent-steht, indem man ihn geht, so wie im Urwald. Es gibt keinen Weg, er existiert nicht: man muß ihn bahnen. Und haben wir die ersten blinden Schritte gewagt, so stellen wir fest, daß dieses Vortasten uns zu einer ersten Lichtung führt und daß wir die ganze Zeit, selbst in unserem dunkelsten Straucheln, von einer unfehlbaren Hand geleitet wurden, die bereits unsere Tausendfüßler-Wanderungen leitete, da in Wahrheit das Ziel, das wir suchen, bereits in uns liegt, es ist ein ewiges Ziel. Es hat eine jahrmillionenalte Zu-kunft, die so jung ist wie ein Kind, das gerade ge-boren wird: es öffnet allem gegenüber die Augen, steht in andauerndem Staunen. Es finden bedeutet, in einen Zustand beständigen, höchsten Erstaunens einzutreten, in eine Weltengeburt in jedem Augen-blick.

Zumindest haben wir verschiedene Orientierungspunkte, um die ersten Schritte zu tun, und wenn wir uns fragen, wie die Zu-kunft des Menschen aussieht (“fragen” nicht im Sinne des Theoretikers, der sein eitles Netz webt und eine Idee an die andere reiht, allein um die ewiggleiche Geschichte aufzubauschen, sondern im Sinne des Seemannes, der den Kurs für den näch-sten Tag bestimmt und sein Kap anpeilt, weil er eine Meeresenge zu bewältigen hat und die Brecher über die Klippen rollen), dann können wir vielleicht einige Koordinaten entdecken, indem wir den alten animal-ischen Kreis betrachten, als wir noch die Zukunft des Affen waren.

Das Tier ist einfach. Es geht ganz auf in seinen Krallen, seiner Beute, seinen Sinnen, im Nordwind, der den unmerklichen Geruch des Regens herüberträgt, und dem Bild einer Hirschkuh zwischen den hohen Gräsern. Ist es nicht mit etwas beschäftigt, so ist es vollkommen ruhig, ohne die leiseste Regung eines Zweifels über Ver-gangenes oder Erwartung des Zukünftigen. Es tut genau das, was notwendig ist, in der Minute, in der es notwendig ist. Und was das Übrige angeht, befin-det es sich in Harmonie mit dem universellen Rhythmus. Als jedoch die ersten Menschenaffen ihre Wälder verließen, war das schon nicht mehr so, sie warfen einen weniger unmittelbaren Blick in die Welt: die Vergangenheit hatte bereits ihr Gewicht und die Zukunft ihre Sorgen – sie waren dabei, die Selbsterkenntnis ersten Grades zu vollziehen, etwas, das wir mit seiner Bürde des Schmerzes und des Irr-tums nur zu gut kennen. Und das, was von der Logik des Affen aus betrachtet als solch eitle und nichtige Übung erschien, wurde zum Grundstein unseres gewaltigen mentalen Gebäudes: alles, selbst Ein-stein, war darin enthalten, in dieser ersten vollkom-men überflüssigen Bewegung. Und am Rand jener anderen Art von Wäldern aus Beton und Titanstahl befinden wir uns vielleicht vor einem ähnlichen, noch gewaltigeren und ebenso “überflüssigen” Geheimnis, wenn wir inmitten des Ansturms der Außenwelt einen Augenblick innehalten, diesmal nicht, um zu reflektieren, sondern um einen stummen und wie geblendeten Blick auf diese erste Person zu werfen, die denkt, kalkuliert, leidet und kämpft. Hier setzen wir eine seltsame neue Antenne ein, die kaum einen Sinn hat, sich wie in pechschwarzer Nacht vortastet, und die doch das Geheimnis des nächsten Kreises in sich birgt und Wunder, neben denen sich die prächtigen Raketen des zwanzigsten Jahrhunderts wie barbarisches Kinderspielzeug ausnehmen. Wir vollziehen die Selbsterkenntnis zweiten Grades; wir schlagen an die Tür des Unbekannten des dritten Kreises und folgen dem Leitfaden der großen Wand-lung.

Die Geheimnisse sind einfach, haben wir gesagt; unglücklicherweise machte das Mental sich dies zunutze, wie es sich alles zunutze macht, und stellte es in den Dienst seines mentalen, vitalen und spirituellen Egos. Es entdeckte die Kräfte der Meditation und Konzentra-tion, die subtilen Energien, die höheren Ebenen des Mentals, die gleich dem göttlichen Ursprung unserer Existenz waren, Lichter, die weder vom Mond noch von den Sternen kamen, unmittelbarere und beinahe übermenschliche Fähigkeiten – es erklomm die Le-iter des Bewußtseins. All das aber hatte nichts weiter zur Folge, als eine abgehobene Menschheit noch weiter abzuheben und zu sublimieren; sie in der Tat so weit zu sublimieren, daß es keinen anderen Ausweg aus diesem Kletterakt mehr zu geben schien als einen letzten verzweifelten Sprung aus der Zerrissenheit der Dualität heraus in den un-veränderlichen Frieden der ewigen Wahrheiten. Und einige Seelen mögen “gerettet” worden sein, während die Welt weiter ihre obskure Runde dreht, die immer noch obskurer wird. Und das, was das Geheimnis der Erde hätte sein sollen, ist zum Ge-heimnis des Himmels geworden. Die entsetzlichste Kluft aller Zeiten tat sich auf, die finsterste aller Du-alitäten schrieb sich in das Herz der Erde. Und genau jene, welche die höchsten Einiger der menschlichen Gattung hätten werden sollen, wurden ihre Zerteiler, wurden die Väter des Atheismus und des Materialismus und all der “ismen”, die sich um die Welt reißen. Die verhöhnte Erde hat keine an-dere Wahl, als ausschließlich an sich selbst und ihre eigenen Kräfte zu glauben.

Der Schaden reicht aber noch weiter: es gibt nichts Klebrigeres als die Lüge, sie haftet selbst dann noch an unseren Fersen, wenn wir uns vom falschen Weg abgewandt haben. Einige sahen die irdische Bedeutung der großen Wandlung – die Zen-Buddhisten, Tantriker, Sufis und andere –, und die desorientierten Geister finden wieder zu ihr und zu sich selbst zurück: nie zuvor hat es eine solche Flut mehr oder weniger ini-tiatorischer Schulen gegeben. Der alte Irrtum aber ist hartnäckig (eigentlich wissen wir nicht, ob man hier oder irgendwo von Irrtum sprechen kann, denn es zeigt sich jedesmal, daß der sogenannte Irrtum ein verschlungener Umweg derselben Wahrheit ist, um eine weitere Vision ihrer selbst zu erlangen). Es kostete die Weisen jener Zeit und die minder Weisen dieser Zeit so viel Mühe und so viele unabdingbare Voraussetzungen des Friedens, der Askese, der Stille und der Reinheit, ihre mehr oder weniger licht-vollen Ziele zu erreichen, daß sich in unserem unter-bewußten Mental der Gedanke wie mit rotglühendem Eisen eingebrannt hat, daß es ohne besondere Voraussetzungen und besondere Meister und mehr oder weniger besondere und mystische angeborene Eigenschaften nicht möglich ist, sich auf diesen Weg zu begeben, oder daß der Ertrag bestenfalls mager ist und nur im Verhältnis zur aufgewendeten Kraft steht. Und selbstverständlich war es ein individuelles Unterfangen, eine hochgestochene Erweiterung bloßen Bücherwissens. Diese neue Entzweiung droht schwerer zu wiegen als die vorherige und noch abwegiger zu sein: die Entzweiung in eine uner-leuchtete Masse und eine “erleuchtete” Elite, die mit Lichtern jongliert, über die sich alles und nichts sagen läßt, da sie sich durch kein Mikroskop prüfen lassen. Auch Drogen eröffnen einen billigen Eintritt in abgründige Einblicke und blendende Lichter.

Und es fehlt uns noch immer der Schlüssel, der einfache Schlüssel. Dennoch ist da die große Wandlung, die einfache Wandlung.

Die Methode muß einen tiefgreifenden Fehler bergen, angefangen mit einem Fehler im verfolgten Ziel – was wissen wir ta-tsächlich vom Ziel, wir, die wir in die Materie ver-sunken sind, geblendet durch den Ansturm der Welt? In unserer ersten unmittelbaren Reaktion rufen wir aus: Hier kann es nicht sein, nicht hier! Nicht in diesem Morast, dieser Schlechtigkeit, diesem Lärm, nicht auf dieser obskuren und lästigen Erde, wir müssen ihr unter allen Umständen entfliehen, uns der Bürde des Fleisches und des Lebenskampfs entledigen, uns von dieser schleichenden Erosion befreien, die uns in Tausende von gierigen Nichtig-keiten hinabzuschlingen droht. Und wir erklärten, das Ziel sei über uns, in einem Himmel der freien Ge-danken, einem Himmel der Kunst und der Dichtung und der Musik – gleich welcher Himmel, nur nicht mehr dieser beklemmende Schatten! Wir befinden uns einzig auf Erden, um uns die Freizeit unseres Privathimmels zu verdienen, sei er nun buchstaben-grau, fromm, malerisch oder schöngeistig: die großen Ferien des endlich freien Geistes. So stiegen wir weiter und weiter auf, poetisierten, intellektualis-ierten, evangelisierten, warfen alles ab, was besch-werlich sein könnte, errichteten einen Schutzwall aus eremitischen Kontemplationen, Yogamethoden in Klausur, privaten Meditationen, zogen als neue Zauberer der Spiritualität den weißen Kreis des Geistes, traten mitten hinein, und dort stehen wir nun.

Vielleicht begehen wir aber gerade damit einen ebensogroßen Fehler wie der Lehrlingsmensch in seinen ersten Pfahldör-fern, der erklärt hätte, das Ziel sei der mentale Himmel, den er tastend entdeckte, es läge nicht in der Widrigkeit seines Alltags, in den zu schnitzenden Werkzeugen, den zu fütternden Mäulern, den lästi-gen Fallschlingen, den unzähligen Fangnetzen son-dern in einem fernen Gletscher-Schlupfwinkel oder der australasiatischen Wüste – und der seine Werkzeuge weggeworfen hätte. Und Einsteins Gleichungen hätten niemals das Tageslicht erblickt. Indem der Mensch sein Werkzeug verliert, verliert er sein Ziel; indem wir diese Widrigkeit, Schlechtigkeit, Finsternis und Last des Lebens verlieren, werden wir vielleicht sanft in den Seligkeiten des Geistes ein-schlummern, landen aber weitab vom Ziel, denn vielleicht liegt das Ziel letztlich hier, genau hier in dieser Grobheit, in dieser Finsternis, in dieser Schlechtigkeit und dieser Last – die nur deshalb so grob und finster und belastend sind, weil wir sie für schlecht halten, gleich wie der Menschenlehrling seine Werkzeuge für schlecht hielt, unfähig zu se-hen, wie die Geste, die den Feuerstein mit der Keule verband, bereits die unsichtbare Verbindung unserer Gedanken mit der Bewegung von Jupiter und Venus herstellte, und wie sich dieser mentale Himmel, in Wahrheit, überall hier unter uns regt und bewegt, in all unseren Gesten und entbehrlichen Handlungen, so wie unser nächster “Himmel” sich bereits unter unseren Augen regt, lediglich verborgen durch un-sere falsche spirituelle Sichtweise, gefangen im weißen Kreis eines sogenannten “Geistes”, der nichts weiter ist als eine ungefähre Annäherung un-sererseits an das nächste Stadium der Evolution. “Das Leben, allein das Leben ist das Terrain unseres Yogas”, schrieb Sri Aurobindo7.

Und doch ist da die Wandlung, die große Wandlung, so wie sie schon im Pleistozän begann – dieser Augenblick des Innehal-tens, die Selbsterkenntnis zweiten Grades –, ta-tsächlich aber ist die Bewegung, welche sie dem Af-fen offenbarte, und jene, welche sie dem Spiritual-isten der vergangenen (oder verstorbenen) Epochen eröffnete, kein Indiz für die einzuschlagende Rich-tung: es besteht keine Kontinuität, sie ist eine Illu-sion! Es gibt keine Verfeinerung innerhalb derselben Bewegung, keine Verbesserung des Affen oder des Menschen, keine Vervollkommnung des Feuerstein- oder des Mental-Werkzeuges, keinen stärker forci-erten Aufstieg, keinen raffinierteren Gedanken, keine tieferen Meditationen, keine Entdeckungen, die nichts anderes wären als eine Verklärung des Be-stehenden, keine Sublimierung der alten Haut, keinen erhabenen Heiligenschein zur Beschönigung der alten Bestie – ETWAS ANDERES, etwas radikal anderes, eine andere Schwelle muß überschritten werden, so radikal verschieden von der unsrigen, wie etwa die Schwelle der Pflanze von der Schwelle des Tieres verschieden war, eine andere Ent-deckung des Bereits-Bestehenden, die unsere Welt so völlig verändert, so wie die Anschauung des Menschen die Welt der Raupe veränderte – dennoch dieselbe Welt, aber mit zwei verschiedenen Blicken gesehen –, ein anderer Geist, wenn wir so wollen, einer, der so völlig verschieden ist vom religiösen und intellektuellen Geist oder vom großen nackten Geist auf den Höhen des Absoluten, wie das Denken des Menschen verschieden ist vom ersten Zittern der wilden Rose unter der Sonne – und dennoch der-selbe Geist überall, wenn auch in einer zunehmend größeren Konkretisierung seiner selbst, denn die Bewegung des Geistes vollzieht sich in Wahrheit nicht von unten nach oben sondern von oben nach unten, und er wird zunehmend dichter in der Materie, denn er ist die eigentliche Materie der Welt, mehr und mehr befreit von unserem falschen Blick als Raupe oder unserem falschen Blick als Mensch oder unserem falschen spirituellen Blick – oder man kön-nte sagen: mehr und mehr wiedererkannt durch un-seren wachsenden wahren Blick. Diese neue Schwelle der Sicht hängt vor allem von einem Augenblick des Innehaltens in unserer gewohnten mentalen und visuellen Routine ab – und das ist die große Wandlung, die Selbsterkenntnis zweiten Grades. Der Weg aber ist gänzlich neu: es gilt ein neues Leben für die Erde, eine andere Entdeckung zu machen; und je weniger wir mit den Weisheiten der Vergangenheit belastet sind, mit vergangenen Höhenflügen, vergangenen Erleuchtungen, ihren Disziplinen und Tugenden, dem ganzen gespreizten Theater der alten Heiligkeiten des “Geistes”, desto freier und unbefangener sind wir angesichts der an-stehenden Entdeckung und desto unmittelbarer springt uns der Weg wie zauberhaft unter die Füße, als entspränge er gerade dieser totalen En-theiligung.

Der Übermensch, von dem wir sagten, er sei das kommende Ziel der Evolution, ist deshalb in keiner Weise ein äußerster Grad des Menschlichen, eine vergoldete Hypertro-phie mentaler Fähigkeiten, genauso wenig ist er ein spiritueller Paroxysmus, eine Art Halbgott in lichtem Glanz, der ein immenses Bewußtsein wie einen gi-gantischen Schneeball vor sich her rollt und mit Blitzen und fabulösen Phänomenen und “Erfahrun-gen” um sich schlägt, die den armen Normal-Nachzügler der Evolution vor Neid erblassen lassen. Wahr ist, daß beides möglich ist, beides existiert: es gibt prächtige Erfahrungen; es gibt übermenschliche Fähigkeiten, die den guten Mann auf der Straße erbleichen lassen würden. Das ist kein Mythos; es ist ein Faktum. Dabei ist die Wahr-heit einfach wie immer. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, den neuen Weg zu entdecken, sie be-steht darin, das zu bereinigen, was den Blick ver-sperrt. Der Weg ist neu, vollkommen neu, er ist noch nie unter menschliche Augen gekommen, nie von den Athleten des Geistes durchlaufen worden und wird doch täglich von einer Million normaler Men-schen begangen, die nicht wissen, welchen Schatz sie unter ihren Füßen haben.

Wir theoretisieren nicht darüber, was der Übermensch sei, wir wollen ihn nicht erdenken: wir wollen ihn erbauen, wenn möglich unter Vermeidung der alten Mauern, der al-ten Lichter, indem wir uns so vollkommen offen wie nur möglich halten, so getreu wie nur möglich gegenüber der großen Wandlung der Natur – einfach indem wir vorwärts schreiten, denn das ist der ein-zige Weg, es zu tun, solvitur ambulando. Selbst wenn wir nicht sehr weit kommen, wer weiß, der Zufall mag uns wenigstens zu einer ersten Lich-tung führen, die unsere Herzen, Seelen und Körper mit Sonne erfüllt, denn alles hängt zusammen und alles wird gemeinsam erlöst oder nichts.

Danach werden an-dere kommen und zu einer zweiten Lichtung gelan-gen.

3 Der Sonnenweg

Es gibt zwei Wege, pflegte Sri Aurobindo zu sagen, den Weg der An-strengung und den Sonnenweg. Der Weg der An-strengung ist uns wohl bekannt, er herrschte seit Anbeginn über unser mentales Leben, denn wir stre-ben immer nach etwas, das wir nicht haben oder nicht zu haben glauben. Wir sind Wesen voller Defiz-ite, schmerzvoller Löcher und innerer Leeren, die nach Erfüllung heischen, sich aber nie füllen lassen, denn kaum ist eines gefüllt, kommt ein anderes zum Vorschein und zieht uns erneut in seinen Bann. Wir gleichen einer Abwesenheit von etwas, das nie seine Anwesenheit finden kann, außer in seltenen Stern-stunden, die alsbald vergehen und eine noch größere Leere zu hinterlassen scheinen. Wir mögen behaupten, dieses oder jenes oder wiederum etwas anderes fehle uns, es fehlt aber nur eines in alldem: wir fehlen selbst, es besteht eine Abwesenheit des Selbst. Denn das Selbst, das, was ich in Wahrheit ureigentlich selber bin, ist voll und erfüllt, weil es ist: alles andere vergeht, ist ein einziges Kommen-und-Gehen, ist dabei aber in gar keiner Weise. Wie kann das, was ist, ein Bedürfnis nach etwas anderem haben? Das Tier ist vollkom-men in seinem animalischen Selbst, und sobald es seine unmittelbaren Bedürfnisse befriedigt hat, be-findet es sich im Gleichgewicht, in Harmonie mit dem Universum. Der mentale Mensch lebt nicht in seinem Selbst, obwohl er dies glaubt – er glaubt sogar an die Größe seines Selbst, denn auch dies muß sich ja quantifizieren lassen, wie alles übrige, es muß also kleinere und größere Größen des Selbst geben, mehr oder weniger gefräßig, mehr oder weniger ger-issen oder heilig oder erfolgreich; indem er dies tut, bezeugt der Mensch aber seine eigene Schwäche, denn wie kann das, was Selbst ist, mehr oder weni-ger Selbst sein? Es ist oder es ist nicht. Der mentale Mensch lebt nicht in seinem Selbst: er lebt wie der Maulwurf oder das Eichhörnchen in der Vorrat-skammer seiner Anschaffungen.

Wo aber ist dieses schwer faßbare Selbst zu finden?... Diese Frage stellen heißt, an das Tor des nächsten Kreises zu schlagen, heißt eine Selbsterkenntnis zweiten Grades zu vollziehen. Wiederum gibt es nichts darüber zu theoretisieren, was denn dieses Selbst kennzeichne, sondern es experimentell zu ent-decken und zu erforschen. Nun, wir haben gesagt, die Methode entfalte sich im Leben und in der Ma-terie, denn wir können uns gut in unserem Zimmer einschließen und uns vom Lärm der Welt befreien, uns ihrer Begierden, ihrer Spannungen, ihrer unzäh-ligen Tentakel entschlagen und uns alles auf Arme-slänge weit vom Halse halten und in unserem kleinen inneren Kreis vielleicht einige Glimmer des Selbst erhaschen, Zustände einer unsagbaren Tran-szendenz entdecken. In der Minute aber, da wir die Tür unseres Zimmers öffnen und die Armeslänge Abstand aufgeben, fällt alles auf uns zurück, wie ein Algenvorhang, der sich um den Taucher legt, und wir stehen genauso da wie zuvor, einzig etwas weniger fähig, den Lärm und den Schwarm kleiner Begierden auszuhalten, die auf ihre Stunde warten. Nicht kraft unserer Tugend oder unserer außergewöhnlichen Meditationen befreien wir uns von diesem Vorhang sondern durch etwas anderes und auf andere Weise. Denn in Wahrheit ist dieses Selbst, das es zu finden gilt, kein Über-Ich oder Super-Ego, es ist etwas ganz anderes. Wir beginnen folglich dort, wo wir sind, und so, wie wir sind, auf der physischen Ebene, auf der wir uns befinden.

Wir heißen Bieder-mann oder Jedermann, ein juristisches Konstrukt, das uns in die große Mechanik eingliedert und in einen vagen Stammbaum, von dem wir nicht viel mehr wissen, als daß wir der Sohn des Vaters sind, welcher der Sohn des Vaters war, welcher der Sohn des Vaters war, und daß wir dementsprechend der Vater des Sohnes sein werden, welcher der Vater des Sohnes sein wird, welcher der Vater des Sohnes sein wird, und dies endlos ohne Ausnahme im sel-ben Stil. Und wir kommen und gehen auf der großen Weltstraße, hier oder dort, in einem Paris, welches mehr und mehr Tokio gleicht, welches mehr und mehr Mexiko-City gleicht und schließlich allen Städ-ten der Welt gleicht wie ein Ameisenhaufen dem an-deren. Wir nehmen zwar den Jumbojet, doch wir be-gegnen überall nur uns selbst. Wir sind Franzosen oder Deutsche, aber offengestanden ist das eine Sache der Geschichte oder der Reisepässe, ein weiteres Konstrukt, das uns an diese oder jene Mechanik kettet, und unser Bruder aus Kalkutta oder Rangoon durchmißt mit seinen Schritten eine gleiche Straße mit der gleichen Frage, unter einer gelben, roten oder orange-farbenen Fahne. All das sind Überreste aus der Zeit der Jagdgründe, doch es bleibt nicht mehr viel zu jagen übrig, außer uns selbst, und auch wir stehen im Begriff, durch die Planierwalze der großen Mechanik fein säuberlich eliminiert zu werden. Wir fahren die Rolltreppen hinauf und hinunter, treffen telefonische Verabre-dungen und hetzen uns ab für längere Ferien und einen größeren Lebensgenuß, genau wie unser Bruder unter seiner braunen oder gelben Haut: auf französisch, englisch oder chinesisch werden wir von allen Seiten bestürmt und getrieben und sind uns nicht einmal sicher, ob wir das Leben genießen oder ob das Leben uns genießt. Dessen ungeachtet läuft alles weiter und weiter. Doch in all dem gibt es etwas, das auf- und absteigt, hin- und her-hetzt, und mitunter, für eine Sekunde, entsteht ein zaghafter Schrei tief innen: Wer bin ich? Wer bin ich? Wo bin ich selbst? Wo ist dieses Ich?

Und diese kleine Se-kunde, so eitel und nichtig in dieser gigantischen Hast, ist der wahre Schlüssel der Entdeckung, der allmächtige Hebel, der nach nichts aussieht. Aber die Wahrheit, wohlverstanden, sieht nach nichts aus, denn sähe sie wie irgend etwas aus, hät-ten wir ihr bereits den Hals umgedreht und sie klassi-fiziert und in die Mechanik eingespannt. Sie ist so leicht, daß sie einem durch die Finger läuft. Sie ist ein Hauch, der verstreicht und alles erfrischt.

Und die Frage dringt etwas tiefer. Tatsächlich dringt sie nicht tiefer oder intensiviert sich: sie ist wie ein erster Ruf nach Sau-erstoff, der uns plötzlich deutlich erkennen läßt, wie sehr wir eigentlich in der Erstickung leben; und tief-ere Schichten werden sichtbar, subtilere Deckmäntel zeigen sich. Wir sind sehr wohl Karl Jedermann, dieses legale und nationale Konstrukt, dieses Zahnrad, das nur zu gerne aus der Mechanik aussteigen möchte, aber dahinter – was ist hinter Karl Jedermann? Da ist dieser Mensch, der über die Straße geht, der auf der großen mentalen Achter-bahn auf- und abfährt, der Tausende und Aber-tausende von Gedanken wiederkäut, von denen nicht einer wahrhaftig zählt, noch seinen Schmerz stillt oder sein Verlangen; da ist das, was der letzte Bestseller darlegte, was diese Plakatwand oder jene Schlagzeile in die Welt schreit, das, was der Schul-meister oder der Professor zu sagen hatte und der Freund und der Kollege und der Nachbar – Tausende von Passanten, welche die innere Hauptstraße bevölkern –, wo aber ist der, der nicht vorbeigeht, wo ist der Bewohner unserer Be-hausung? Da ist die Erfahrung von gestern, die mit dem Unfall von vorgestern zusammenhängt, der mit ... ein immenses telekommunikatives Netzwerk mit seinen Schalttafeln, Relais und Direktverbindungen, die in Wahrheit nichts verbinden, außer derselben immerwährenden Geschichte, die sich in den ei-genen Schwanz beißt, sich immer weiter aufbläht, sich in sich selbst verwickelt und uns eine Summe der Vergangenheit vor Augen hält, aus der nie die wahre Gegenwart wird, oder eine Zukunft, die nichts weiter ist als die Addition einer Million Handlungen, deren Resultat gleich Null ist. Wo ist die Handlung, die wahre Handlung? Wo ist das Ich dieser Addition, die Minute des Seins, die kein Ergebnis der Vergan-genheit ist, der reine Sonnenstrahl, welcher dieser noch mitleidloseren Mechanik entgeht? Da ist das, was die Väter und die Mütter uns mitgegeben haben und die Bücher, die Priester, die Partisanen und der Tumor des Großvaters und die Wollust des Großonkels und das Wohl des einen und das Un-wohlsein des anderen; da sind die eisernen Geset-zestafeln, die Du-kannst-das-nicht, Du-darfst-jenes-nicht, Newton und die Kirchen, Mendel und das Ge-setz von der Teilung der Keimzelle – was aber keimt darinnen wirklich? Wo ist der Keim, der uner-wartete reine Samen, der plötzlich aufbricht, das Du‑kannst gleich einem plötzlichen Einbruch von Gnade in diese gnadenlose Runde, bedingt durch die Väter unserer Väter im Schoße der men-talen Festung? Da ist der kleine Biedermann, der seine Straße entlanggeht, der tausendmal in der gleichen Straße auf- und abgeht; innen, außen, es ist alles gleich, gleich einem Nichts, das ins Nichts geht, egal wer in egal was, Peter oder Paul mit einem kleinen Unterschied in der Krawatte: zwischen dieser Straßenlaterne und der nächsten ist nichts passiert. Es ist nichts geschehen, keine einzige Sekunde existierte!

Doch plötzlich geschieht etwas, dort auf dieser Straße, gleich einem Ersticken zweiten Grades. Man hält inne, schaut, was passiert ist. Schaut wohin? Man weiß es nicht, aber man schaut. Mit einem Schlag steckt man nicht mehr in der Mechanik; man steckt nicht mehr drin, ist nie drin gewesen! Man ist nicht mehr dieser Karl Jedermann, ist weder Berliner oder Deutscher noch der Sohn des Vaters noch der Vater des Sohnes, weder seine Gedanken noch sein Herz noch seine Emotionen noch heute noch morgen noch dieses Geschlecht noch irgend etwas von all-dem – man ist etwas ganz anderes. Man weiß nicht, was, aber es schaut. Man gleicht einem hohen Fen-ster, das sich öffnet.

Und dann vergeht es, und die Mechanik setzt wieder ein.

Legt man sich aber Rechenschaft ab über den Tag, am Abend, allein in seinem Zimmer, und betrachtet die tausend Gesten und Schritte und Gesichter, das Kommen-und-Gehen des turbulenten Graus, in dem nichts geschehen zu sein scheint, diesen Tag unter den Tausenden von Tagen, die sich wie ein entvölkerter Halbschatten ausnehmen, so sieht man auf einen Schlag, daß ein kleiner Lichtfunken bestehen bleibt, oh, so winzig, so flüchtig, kaum wie ein Leuchtkäfer, der durch die Nacht flattert, und da ist diese einzige kleine Sekunde, in der man innehielt inmitten der Hast, diese kleine Sekunde aus Nichts, dieses un-selige Straucheln, dieser Gedankensprung, dieser Sprung des Seins – das ist alles, was bleibt, es ist die einzige existierende Sekunde, der einzige be-wohnte Augenblick, alles, was gewesen ist in einer Million Minuten wie der Wind.

Von diesem Augen-blick an wird das Ersticken sehr intensiv. Es ist, als hätte unser Wesen einen unmerklichen Riß im Dunkeln verspürt, einen Spalt, von dem man noch nicht einmal weiß, daß er lichtdurchlässig ist – und was für ein Licht, wo doch alles im Gegenteil noch schwärzer erscheint als vorher? Und uns selbst zum Trotz kommen wir darauf zurück. Es gleicht einem Hauch eines anderen Sauerstoffs, einer ungreifbaren Veränderung der atmosphärischen Dichte und zugleich einem Feuer, das sich entfacht – ein obsku-res, schwarzes Feuer, das nichts weiß, außer daß es ein Verlangen hat, ein so dringendes Verlangen nach etwas anderem.

Genug, genug des Denkens, seines Kerzenscheins,

Entfacht, entfacht die Sonnen, die nie vergehen8!

Karl Jedermann – der wirklich nichts mehr ist, der weniger und weniger et-was ist, dessen Identität sich durch die Poren der Haut verflüchtigt – hält wieder inne, hält immer häufiger inne inmitten des Ansturms, er stellt keine Fragen mehr, erwartet keine Antwort mehr: er ist die Frage geworden, ein lebendiges Feuer von ich-weiß-nicht-was, eine reine, pochende Frage, eine wachsende Abwesenheit, so brennend und heftig, daß sie fast Anwesenheit wird. Jedermann stoppt hier und da, richtet einen stummen Blick auf diesen Anschlag, jenen Herrn im braunen Anzug, diese Millionen von Menschen wie Schatten; er ist nicht einmal mehr ein Gedanke, nicht einmal mehr ein Gefühl: er steht einen Schritt hinter sich selbst, hinter diesem etwas, das sich bewegt, das auf- und abgeht, diesem Relais aus Gedanken und Gefühlen, aus Erinnerungen und Begierden, alles gleicht einem gut aufgezogenen Uhrwerk – wie lange schon auf-gezogen? –, das sich wieder und wieder abspult, in-nen, außen, es ist alles gleich. Aber er ist dieser Punkt des plötzlichen Innehaltens, dieser Schrei des Erstickens, dieser blinde Blick des Neugeborenen in einer Welt, die noch nicht zu sein scheint und die doch pocht und sich regt, als sei sie das Allein-Existierende in dieser ganzen Inexistenz. Jedermann befindet sich in einem Niemandsland des Seins, in einem herzzerreißenden Nicht-Ich, mitunter so herzzerreißend, daß diese Zerrissenheit der einzige Punkt des Seins darin ist.

Jetzt das Ödland, jetzt die Stille

Eine nackte schwarze Wand

Und dahinter

Himmel9

So betrachtet er wieder den Tag, am Abend, allein in seinem Zimmer, und er sieht diese kleinen Sekunden, die unerklärlich funkeln, die sogar so stark strahlen, als würden sie überfließen und alles, was sie berühren, in ihr Licht tauchen; und der Mann in Braun, das absurde Poster, der Sonnenstrahl auf der Bank sind wie von einem besonderen Leben erfüllt, wie photographisch im kleinsten Detail festgehalten – sie sind präsent, sie sind. Alles andere ist wie Staub, von einer Tundra der Nichtexistenz verschlungen. Und doch war kein Gedanke in ihm, keine Empfindung, keine Erinnerung, nicht einmal ein Ich, vor allem kein Ich, es war gerade die einzige Sekunde, in der er von alldem frei war, Hals über Kopf in ein schwindelerre-gendes Nicht-Ich gestolpert.

Und jetzt macht der unbestimmte Wanderer eine andere Entdeckung: Diese kleinen Tropfen von Licht, die überall verstreut sind (ist es Licht? Sie gleichen mehr einem plötzlichen Aufbersten in etwas anderes, einer Schwingung, die so schnell ist, daß sie unserer ge-wohnten Wahrnehmung und unseren gefärbten Übersetzungen entgeht: es schwingt, da ist etwas, das schwingt, gleich einer Note einer anderen Musik, für die wir noch keine Ohren haben, gleich einem Farbstrich eines anderen Landes, für das uns noch die Augen fehlen), diese Punkte einer anderen In-tensität, diese Koordinaten einer blinden Geographie erscheinen unzerstörbar. Sie leben und bleiben le-bendig, lange nachdem sie verstrichen sind, als kön-nten sie nie vergehen. Und tatsächlich vergehen sie nicht; sie sind sogar das einzige, das nicht vergeht. Dieser kleine Riß angesichts eines Plakats oder einer Bank, dieses plötzliche Staunen vor nichts scheint seine Intensität zu bewahren; dieser kleine Tropfen von etwas anderem, dieser plötzliche Schrei um nichts scheint fortzubestehen, sich in einem ge-heimen Schlupfwinkel unseres Wesens einzunisten und dort zu schwingen, und ein Tropfen reiht sich an den anderen, ohne sich jemals zu zerstäuben, ohne sich je zu verlieren und das wächst und wächst weiter, als hätten wir dort eine unerschöpfliche Re-serve, einen Schutzhafen, der sich mehr und mehr anfüllt, einen Akkumulator, der sich nach und nach mit einer anderen Intensität von Kraft auflädt und der wie ein Anfang des Seins ist.

Und wir beginnen den Sonnenweg einzuschlagen.

Wir sind nicht mehr ganz in der Mechanik gefangen, sie mag uns noch das eine oder andere Mal unterpflügen, jedoch nur, um uns ihre vernichtende Spannung spüren zu las-sen, ihr finsteres Rotieren um nichts, das in nichts greift, welches wiederum in nichts greift – wir haben einen anderen Sauerstoff zu spüren bekommen, auch wenn dieser sich wie nichts ausnimmt. Diese Inexistenz, die sich vom einen Ende des Planeten zum anderen bewegt, von einem Telefon zum näch-sten, von einer Verabredung zur nächsten, die wieder und wieder das ewig öde Uhrwerk aufzieht, ist nicht mehr auszuhalten, und es geschieht nie et-was, außer der ewig gleichen, immerwährenden Geschichte mit wechselnden Gesichtern, wech-selnden Namen, wechselnden Worten auf dieser Straße oder einer anderen – auf daß es sei. Daß zwischen diesem Neonlicht und dem nächsten, zwischen dem dritten Stockwerk und dem vierten, zwischen 9:00 Uhr und 9:30 Uhr einer Digitalan-zeige, die nichts anzeigt, etwas sei, etwas lebe, daß dieser Schritt seinen ewigen Sinn erhalte, als sei er der einzige Schritt unter einer Mil-lion Stunden der Zeitanzeige, daß diese Geste von jemandem ausgefüllt werde, dieser Zeitungsstand an der Straßenecke, dieser Riß im Teppich, diese Türk-lingel vor uns, auf daß diese Sekunde – diese Sekunde – ihre einmalige und unveräußerliche Le-bensfülle erhalte, als sei sie der einzige Schimmer in den Ewigkeiten der Zeit, oh! nur nicht dieses umher-irrende Nichts im Nichts: auf daß es sei, daß es sei, daß es sei!... auf daß wir uns erinnern, für immer er-innern, und nicht wie entgeisterte Medusen über die Straßen huschen. – Uns woran erinnern? Man weiß selbst nicht mehr, woran man sich erinnern soll, nur nicht an das Ich oder an die Mechanik und an nichts, was sich wieder ineinander verzahnt – eine klare Er-innerung, die schließlich einem Ruf gleicht, ein bren-nendes Feuer für nichts, eine kleine Schwingung des Seins, die uns überallhin begleitet und die alles durchdringt, alles erfüllt – jeden Schritt, jede Geste, jede Sekunde –, die sich sogar hinter uns erstreckt, als bewegten wir uns in einem anderen Raum mit diesem kleinen Jedermann vor uns, der hin- und her-läuft, aber nicht mehr ganz bei der Sache ist, der sich bereits aus dem Staub gemacht hat, eine an-dere Luft atmet, ein anderes Lied hört, sich in einem anderen Rhythmus bewegt – fast wie ein Rhythmus der Ewigkeit, so unermeßlich und so sanft. Dann hebt er plötzlich seinen Kopf inmitten der Straße, hebt ihn über den vorbeirasselnden Strom, und sein Blick ist so klar, so leuchtend, beinahe freudvoll, funkelnd und weit, sonnenerfüllt, er umfaßt alles in einem Blick, so erhaben, so sicher, kristallin: plötzlich königlich. Man ist, es ist!

Man befindet sich auf dem Sonnenweg und ist wie getragen von dieser kleinen wachsenden Schwingung des Seins.

Und es erforderte keine Stille, keine isolierte Zelle, wir mußten uns nicht vor den Tentakeln des Lebens schützen – im Gegenteil, je stärker sie ausgreifen und uns zu er-sticken drohen, je mehr das Spektakel und der Tau-mel des Lebens uns zu betäuben drohen, desto mehr brennt es in uns, desto glühender ist das Ver-langen, das und wieder das zu sein, dieses Andere, das schwingt und ohne das man nicht atmen noch leben kann – es auch nur für eine Sekunde zu vergessen, heißt der Erstickung zu erliegen. Wir ge-hen auf dem Sonnenweg inmitten der Düsternis der Welt – innen, außen, es ist alles gleich, allein oder in der Menge, wir sind für immer sicher, nichts und niemand kann uns das nehmen! Wir tragen unser geheimes Königtum, wohin wir auch gehen, tasten uns in einer anderen Geographie vor, in der sich ge-heime Häfen auftun und unerwartete Fjorde, Konti-nente des Friedens und Ausblicke auf weite unerfor-schte Meere, die vom Echo eines größeren Daseins widerzuhallen scheinen. Es gibt kein Wollen oder Nicht-Wollen mehr in uns, keinen Druck, dies oder jenes zu erwerben, zu kämpfen, um zu leben, zu kämpfen, um zu werden und zu wissen: wir werden durch einen anderen Rhythmus getragen, der sein spontanes Wissen, sein klares Leben, seine unvor-hersehbaren Willensakte und seine blitzartige Wirk-samkeit offenbart. Ein anderes Königreich beginnt, sich uns zu eröffnen, wir schreiten mit einem an-deren Blick durch die Welt, noch ein bißchen ge-blendet und noch nicht sehr wissend, aber empfind-sam und wie erfüllt von einer noch ungeborenen Wirklichkeit, weiter geworden durch eine noch nicht formulierte Erkenntnis – ein stilles, scheues Staunen. Und vielleicht sind wir wie dieser Bruder Affe aus noch nicht so fernen Zeiten, der einen befremdeten Blick auf seinen Wald richtete und auf all jene, die so schön klettern, laufen und jagen, die jedoch nicht diese unmerkliche klare Schwingung kennen, dieses fremdartige Wunder, das plötzliche Innehalten, das die Schwerwetterwolken zu zerreißen scheint und das sich so weit, weit ausdehnt in eine Weite, die voller kreativer Möglichkeiten vibriert.

4 Die Weggabelung

An dieser Stelle tut sich eine Gabelung vor uns auf, und sich für den einen oder den anderen Weg zu entscheiden, zieht ungeheure Folgen nach sich, Folgen, die sich über ein ganzes Leben erstrecken können. Nicht, daß der eine wahr, der andere falsch sei, denn uns scheint letztendlich alles wahr zu sein, weil es ist, aber es ist eine im Werden begriffene Wahrheit, und die Lüge besteht allein darin, zu zögern oder auf einer Wahr-heit zu beharren, deren Zweck und Zeit vergangen ist. Sobald wir uns von der Mechanik losgekoppelt haben, sowohl der äußeren als auch der inneren – erstere ist in Wirklichkeit die Widerspiegelung oder der Ausdruck der zweiten, und sobald wir uns inner-lich verändert haben, verändern wir uns zwangsläufig auch äußerlich; wenn wir aufhören, das Leben zu “mentalisieren”, wird es aufhören, eine mentale Mechanik zu sein, und es wird ein anderes Leben werden –, beginnt uns ganz wörtlich genom-men eine gewisse “Breite” eigen zu sein; nicht mehr an diesem kleinen Schatten zu haften wie die ange-bundene Ziege am Pfahl, bedeutet, uns in zwei prin-zipielle Richtungen bewegen zu können: Wir können den Weg des Aufstiegs vorziehen, uns mehr und mehr verfeinern, uns mehr und mehr der irdischen Last entledigen, mit dieser kleinen bezaubernden Leuchtrakete emporschießen, die wir nun in uns zu erahnen beginnen, und freiere Bewußtseinsregionen berühren, schwerelose Weiten erforschen, die höheren Ebenen des Mentals entdecken, die der klaren Quelle von all dem gleichen, was hier als De-formation und Annäherung abläuft, und die das Engelsgesicht dessen sind, was uns hier mehr und mehr als Karikatur erscheint10. Und dies sind verführerische Aussichten, in der Tat so verführerisch, daß all die Weisen und die etwas eili-gen Sucher und selbst jene, die wir heute fortschrit-tliche Geister oder Genies nennen, sich für diesen Weg entschieden haben – und das seit Jahr-tausenden. Unglücklicherweise fällt es einem, einmal dort oben angekommen, reichlich schwer, wieder in niedere Gefilde hinabzusteigen, und selbst wenn man durch einen humanitären oder karitativen Zug motiviert hinabsteigen möchte, stellt man fest, daß den Mitteln aus höheren Höhen hier so gut wie keine Macht zukommt. Es scheint eine unüberbrückbare Kluft zwischen jenem Licht und dieser Finsternis zu bestehen, und das, was wir von dort herabbringen wollen oder können, trifft hier vermindert, verdünnt, verunstaltet, beschwert ein und verliert sich schließlich ganz im großen Morast der Mechanik.

Zu hell waren unsere Himmel, zu fern,

Zu fein ihr ätherischer Stoff,

Zu herrlich und heftig, unser Licht hielt nicht stand,

Die Wurzeln waren nicht tief genug11.

Es ist die uralte Geschichte von Ideal kontra “Realität” – das Ideal realisiert sich unweigerlich, weil es lediglich eine et-was fortgeschrittenere Zukunft ist, der Kurs dorthin aber zieht sich in die Länge, und die Wahrheit er-scheint darin wie hintertrieben und verhöhnt. Diesen Kurs, die fehlerhafte Übertragung zwischen den “Gipfeln” und den “Niederungen” gilt es also zu verkürzen.

Aber vielleicht befin-det sich der “Gipfel” gar nicht dort oben. Vielleicht liegt er überall hier, auf der Höhe Null, lediglich ver-deckt durch die Mechanik und die aufgehäuften Schichten unserer Evolution, wie der Diamant im Ganggestein. Ist der aufsteigende Weg der einzig mögliche Ausgang, dann bleibt uns allen nichts an-deres übrig, als durch ihn ein für alle Male auszusteigen. Und wenn der Heilige tatsächlich die letzte Krönung des Affen sein sollte, kann man zurecht bezweifeln, ob die Evolution jemals ihr be-friedigendes und gesegnetes Ziel erreicht und ob die Erde als Ganzes geheiligt wird: was ist mit den an-deren, denjenigen, die sich gegen die Heiligkeit sträuben? Wir halten es für unglaubwürdig, daß die Evolution als letzte Absicht eine moralische Scheidung in Auserwählte und Verdammte vorsieht. Die Evolution ist kein Moralist: sie ist, und sie treibt ihren Baum, damit er alle seine Blüten hervor-bringe; die Evolution ist kein Asket: sie umfaßt alles in einer üppigen, überfließenden Pracht; die Evolu-tion ist keine Abtrünnige der Erde, denn dann hätte sie niemals auf der Erde begonnen. Die Natur ist nicht zusammenhanglos: sie ist weiser als unsere mentalen Zusammenhänge, weiser noch als unsere Heiligkeiten.

Doch sie ist langsam, und das ist ihr Fehler.

Wir wollen also den Weg verkürzen. Wir wollen die Evolution beschleuni-gen, eine gebündelte, konzentrierte Evolution be-wirken, dabei aber ihre Methoden berücksichtigen. Und weil die Natur alles umfaßt, folgen wir ihrer Methode, denn sie versucht nicht, sich selbst zu ent-fliehen, sondern ist bestrebt, ihren Keim zur Frucht zu entwickeln. Also bemühen wir uns, diesen Keim zur Reife zu bringen, das, was bereits innen, außen und überall vorhanden ist, zur Blüte zu treiben. Es kommt nur darauf an, diesen Keim zu finden – und es gibt so viele wilde Keimlinge in der Welt, die ihren eigenen Reiz und Nutzen haben. Wir suchen un-seren Gipfel also nicht in fernen Höhen sondern ganz auf dem Grund, denn vielleicht befindet sich unser Geheimnis bereits dort, in der einfachen, un-fehlbaren Wahrheit, die eines Tages diesen Keim auf unserer guten Erde auswarf. Dann entdecken wir vielleicht, daß das, was wir suchen, so nah ist, daß es keinen langen Weg zurückzulegen gilt und keine unüberbrückbare Kluft gähnt, keine Übertragungs-fehler und kein Zerfließen der Macht in den Räumen des Bewußtseins drohen, und daß die Wahrheit blit-zartig und allmächtig in jedem Atom, in jeder Zelle, jeder Sekunde zugegen ist.

Insgesamt handelt es sich also nicht um eine verengende Methode, die alle Hindernisse zurückweist, um schlagartig in spiri-tuelle Höhen aufzusteigen, sondern um eine globale, allumfassende Methode; um keinen jähen Aufstieg, sondern einen Abstieg oder vielmehr ein Offenlegen der überall enthaltenen Wahrheit, bis hinab in die Zellen unseres Körpers.

5 Das neue Bewußtsein

Es gibt eine radikal neue Tatsache.

Sie ist nicht alt, sie reicht kaum einige Jahre zurück. Sie kennzeichnet einen neuen irdischen, vielleicht sogar universellen Anfang. So schlicht und ergreifend, wie das Auf-tauchen der ersten mentalen Vibration in der Welt der Menschenaffen gewesen sein muß.

Ein Anfang ist seiner selbst nicht bewußt, ist weder blitz-artig noch erder-schütternd sondern einfach und tastend, zart wie eine junge Knospe, und man ist sich noch nicht si-cher, ob es vorüberziehender Schnee von gestern oder ein neuer Atem ist, so ähnlich und doch so ver-schieden, der uns mit Staunen und Unglauben er-füllt, als würde man ein Wunder auf frischer Tat er-tappen, wie ein bestrickendes Lächeln, das erlischt, sobald man es genauer ansieht. Ein Anfang, das sind Tausende kleiner beginnender Striche, die kommen und gehen, vorüberstreichen und entsch-winden, die auftauchen, man weiß nicht wie und wo-her, denn sie folgen einem anderen Gesetz, die la-chen und spotten, denn sie folgen einer anderen Logik, die zurückkommen, wenn man sie für verloren hielt, die uns beschämen, wenn wir sie erfaßt zu ha-ben glaubten, denn sie folgen einem anderen Rhythmus und vielleicht auch einer anderen Art zu sein. Und dennoch ergeben diese kleinen Züge nach und nach einen Umriß, ein Bild; die kleinen wieder-holten Striche bilden ein Ich-weiß-nicht-was, das an-ders schwingt, das uns verändert, unmerklich für uns selbst, und eine Saite berührt, die sich noch nicht recht ihres Tons bewußt ist, die aber schließlich eine andere Musik ergibt. Alles ist gleich, und alles ist an-ders. Man wird geboren, ohne es zu merken.

Wir können also nicht genau erklären, wie alles vonstatten geht, sowenig wie die Menschenaffen darüber Bescheid wußten, was es erfordert, um Gedanken handzuhaben. Zu-mindest aber lassen sich einige dieser schwer faßlichen kleinen Züge beschreiben, läßt sich eine allgemeine Richtung angeben, und wir können mit unserem Reisenden der neuen Welt Schritt für Schritt den Leitfaden einer Entdeckung verfolgen, die mitunter zusammenhanglos erscheint, aber schließlich doch einen Zusammenhang ergibt. Das Land, das wir betreten, ist uns unbekannt, ja, es scheint sogar, als entstehe es unter unseren Schrit-ten oder wachse unmittelbar durch unseren Blick, als ob diese Kurve oder diesen beinahe schelmischen Schimmer wahrnehmen hieße, sie zum Gedeihen zu ermutigen, um unter unseren Schritten diese Punk-tierung, diese andere Kurve und schließlich einen bezaubernden Hügel zu umreißen, auf den wir uns mit klopfendem Herzen stürzen. Unser Reisender der neuen Welt ist vor allem anderen ein Beo-bachter: nichts entgeht seiner Aufmerksamkeit, kein Detail, nicht die geringste Begegnung, die unauffäl-ligste Parallele oder Beziehung – das Wunder ent-steht tropfenweise, als läge das Geheimnis im un-endlich Kleinen. Unser Reisender ist ein mik-roskopischer Beobachter. Und vielleicht gibt es keine “großartigen” und keine kleinen Angelegenheiten sondern nur einen gleichbleibenden höchsten Fluß, in dem jeder einzelne Punkt so voll an höchstem Bewußtsein und höchstem Sinn ist wie die Totalität des Universums, als sei in Wirklichkeit die Totalität des Ziels in jedem Augenblick enthalten.

Wir haben jedes der Ödländer unserer Tage gründlich ausgefüllt – auf daß nichts mehr vage sei – wir haben die Leere zwischen zwei Taten mit Sinn erfüllt, und unsere Taten selbst sind kein machtloser Teil der Mechanik mehr. Wir mögen uns unterhalten, telefonieren, schreiben, Leute treffen, doch im Hintergrund von alldem besteht etwas, das fortdauert, schwingt, ganz leise schwingt, wie das Rauschen eines weit ent-fernten Meeres, wie das Fließen eines Flusses in der Ferne, und halten wir einen Augenblick inne in un-serer Geste, treten wir einfach einen Schritt zurück, befinden wir uns im Nu mitten in diesem so er-frischenden kleinen Fluß, in der Weite der offenen See, dieser leichten Hochebene, und dort gleiten wir hinein wie in die Ruhe der Wahrheit, denn allein die Wahrheit ist Ruhe, weil sie ist. Alles übrige regt sich, vergeht und transformiert sich. Seltsamerweise aber raubt uns diese Abweichung oder Verschiebung des Seinszentrums nicht den Zugriff auf das Leben, ver-setzt uns nicht in einen Traum-zustand, den man versucht wäre, als hohl zu bezeichnen; im Gegenteil, wir befinden uns in einem Zustand vollkommener Wachheit – man könnte sogar sagen, der Schla-fende stecke in jenem, der spricht, schreibt, telefo-niert –, wir sind im Zustand einer höchsten Aufmerk-samkeit, einer Aufmerksamkeit jedoch, die sich nicht auf den Ablauf der großen Mechanik oder auf das Spiel der Physiognomien, das Kalkül des nächsten Schritts oder den Ansturm der Erscheinungen richtet: sie richtet sich auf etwas anderes, als hörten wir gleichsam auf etwas hinter unserem Kopf, auf diese schwingende Weite, auf diesen weiten ruhigen Fluß, und mitunter nehmen wir Unterschiede der Intensität wahr, Veränderungen im Rhythmus, plötzliche Emp-findungen eines Druckes, als ob ein leuchtender Finger eine Weile dort ruhte, etwas aufzeigte, uns an einem Punkt festhielte, seinen Strahl darauf richtete. So äußern wir einige Worte, ohne zu wissen warum, machen eine Geste oder werden im Gegenteil davon abgehalten, wenden uns hierhin statt dorthin, lächeln, obwohl unser Gegenüber so unangenehm erscheint, oder im Gegenteil entlassen ihn abrupt trotz seines wohlmeinenden Anscheins. Und alles ist vollkommen genau, auf die Sekunde. Man weiß auf das genaueste, was zu sagen oder zu tun ist, wohin es sich zu wenden gilt, um diesen Unfall zu vermei-den oder jene Begegnung herbeizuführen. Und zwei Tage oder zwei Stunden später erkennen wir mit Er-staunen den Sinn und die Genauigkeit unserer Handlung. Es ist, als beträten wir die Funktionsweise der Wahrheit.

Und eine erste Be-sonderheit überrascht uns. Die Anzeichen, die wir aufnahmen, diese Wahrnehmungen oder jener plötzliche Druck haben absolut nichts gemein mit dem, was von oben kommt, wenn man den aufstei-genden Weg verfolgt: es sind keine Offenbarungen, keine Inspirationen oder Visionen oder Erleuchtun-gen, nicht die Blitz- und Donnerschläge der höheren Ebenen des Mentals. Eher erscheinen sie als eine sehr bescheidene und materielle Funktionsweise mit einer Sorge für das kleinste Detail, den geringsten vorüberstreichenden Hauch, diese Straßenecke, jene unwillkürliche Geste und die tausend anderen kleinen Regungen und Bewegungen, fast eine Funk-tionsweise auf Bodenhöhe.

Zu Beginn ist diese Funktionsweise noch unsicher. Jeden Augenblick werden wir wieder von der alten Mechanik eingeholt, von der Gewohnheit, Gedanken zu mahlen, zu urteilen, zu folgern, zu berechnen, und augenblick-lich scheint ein Schleier zu fallen, ein Filter schiebt sich zwischen die ruhige Klarheit im Hintergrund und den mühseligen Wirbel vorne: die Kommunikation ist gestört. Von neuem gilt es, einen Schritt zurückzutre-ten, die großräumige Weite wiederzufinden – die be-unruhigend ist und den Anschein erweckt, uns nichts sagen zu wollen, uns vollkommen fallenzulassen, und uns ein neutrales Schweigen, eine ununterbro-chene Leerstelle entgegenhält auf die Frage, die wir ihr stellen und die doch nach einer sofortigen Ant-wort heischen würde. Wir geben also wieder nach, kurbeln die alte Mechanik wieder an – nur um festzustellen, daß die innere Leerstelle gerade deswegen entstand, weil es notwendig war, äußer-lich unbewegt zu bleiben. Und daß der Augenblick für die Antwort nicht gekommen war. Wir stolpern und beharren vertrauensvoll, jedoch äußerlich (oder vordergründig) ungeschickt, gerade wenn die äußeren Umstände nach dringlicher Entscheidung und Effizienz verlangen, und wer nach dem Diktat der alten Verstandesmuster handelt, findet Grund genug zum Spotten, so wie sich einst die Tüchtig-sten der Anthropoiden über die Albernheiten des Menschenlehrlings mokierten: Man verfehlt seinen Ast im Sprung. Man fällt und rafft sich auf. Man geht weiter. Langsam aber sicher jedoch, je mehr unsere “Ent-Mechanisierung” an Boden gewinnt, sich be-hauptet und vervollkommnet, wird die Kommunika-tion klarer, werden die Wahrnehmungen richtiger und genauer: man beginnt ein ganzes verworrenes Netzwerk zu entdecken, das uns früher noch als die Folgerichtigkeit selbst erschien. In der ruhigen Klar-heit nimmt man eine Vielzahl von Bewegungen wahr, die von unten aufsteigen, von außen eindringen, von anderen übergreifen; ein Geflecht von Schwingun-gen, eine Kakophonie winzigster Impulse, ein Schlachtfeld, eine Arena, auf der finstere Kombattan-ten auf- und abziehen, obskure Triebe, schwarze Blitze, mikroskopische Willensregungen, die sich hartnäckig anklammern. Und unverhofft fällt ein kleiner Tropfen unseres ruhigen Flusses in all das hinein – ohne daß man es wollte, ohne daß man danach suchte, selbst ohne daß man danach rief – und alles entwirrt sich, glättet sich, erlischt und löst sich auf, und dieses Gesicht dort vor uns, dieser kleine schwierige Umstand, der schier unauflösliche Knoten, der hartnäckige Widerstand verschwindet, schmilzt, weicht zurück, öffnet sich wie durch Zauberei. Ein Anfang der Meisterschaft!

Allerdings handelt es sich um eine kuriose Art von Meisterschaft: sie ge-horcht uns in gar keiner Weise. Im Gegenteil, ver-suchen wir sie für eine Tat einzusetzen, entschwin-det sie, zerrinnt sie uns zwischen den Fingern und läßt uns ähnlich dumm dastehen wie der Bildhauer-lehrling, der die Meißelschläge seines Meisters zu imitieren sucht: man haut daneben. Vielleicht haut man sich sogar auf die Finger. Und man lernt. Vielleicht lernt man, nicht zu wollen. Es ist allerdings etwas komplizierter als das (komplizierter von un-serem Standpunkt aus gesehen, wohlverstanden, denn hier ist alles kompliziert – es ist die Kom-pliziertheit schlechthin). Tatsächlich ist es einfach. Man erlernt die Gesetzmäßigkeit des Rhythmus. Denn die Wahrheit ist Rhythmus.

Sie besteht aus schnellen Strömen, plötzlichen Kaskaden, gemäch-lichen Strecken, die tief ineinander fließen, einem Meere gleich, das in ein tieferes Meer strömt, oder wie der große Vogel im unendlichen Blau. Sie hat abrupte Dringlichkeiten, winzige diamantene Punkte, die vorstoßen und eindringen, große weiße Stillen gleich einer Steppe in der Ewigkeit der Zeiten, gleich einem grundlosen Blick, der Leben um Leben um-spannt, Ozeane von Schmerz und Mühsal, Konti-nente eines Niemandslands, endlose Wege des Ge-bets und der Inbrunst; sie enthält brüske Ausbrüche, zauberhafte Plötzlichkeiten oder eine unermeßliche Geduld, die mit jedem Schritt, jeder Geste, jedem Schauer des Seins einhergeht, gleich einem Mur-meln der Ewigkeit, das die Minute trägt. Und hinter diesem Augenblick, diesem schwertstreichartigen Blitz, dieser weiten Langsamkeit, die ihre Spur des Unendlichen nach sich zieht, hinter diesem plötzlich aufbrechenden glühenden Punkt, diesem gebi-eterischen Wort, jenem zwingenden Druck besteht immer so etwas wie eine leichte, ruhige Klarheit, eine kristallene Distanz, ein schneeweicher Ton, der weite Räume eines ruhigen Lichts durchquert zu ha-ben scheint, durchsickert von einer Unendlichkeit an Sanftheit, die schaut, aufperlend in kleinen Tropfen einer sonnenbeschienenen weiten Wiese, wo nie-mand leidet, niemand handelt, niemand wird – eine geräumige Weite, die den kleinen Ton trägt, die Geste trägt, das Wort trägt, und die Brutalität der Handlung entsteigt einem unergründlichen Frieden, wo der Lärm der Zeit und die Menge der Menschen und der Strudel der Schmerzen gekleidet sind in ihren Mantel der Ewigkeit, bereits geheilt, bereits vergangen, bereits verhallt. Denn die Wahrheit der Welt trägt die Welt wie in einem großen Gewand aus Sanftheit, wie in einer Unendlichkeit des Himmels, in den unsere schwarzen Vögel, unsere Paradies-vögel, die Schmerzen von hier und die Schmerzen von dort, die grauen Flügel und die rosaroten Flügel eintauchen. Alles wird eins, stimmt sich ein auf diesen Ton und wird rein, alles ist einfach und fleck-enlos, ohne Narbe, ohne Zweifel, denn alles fließt aus dieser einen Musik, und diese winzig kleine Geste eines Augenblicks richtet sich nach dieser einen großen Woge, die selbst dann noch weiterrollt, wenn wir nicht mehr sind.

Greift allerdings auch nur eine Minute das “Ich”, der kleine Wirbel, das kleine Ich, die kleine unnachgiebige Verhärtung, der kleine Eigenwille ein, so wird alles automatisch falsch, alles knirscht, gerät ins Stocken und will oder will nicht, zögert, tastet – eine augenblickliche Ver-wirrung: die Folge dieser Handlung, die Folge von allem, die quälende Erinnerung, diese Spur, die an den Fersen klebt, der Schmerz in allem. Denn es ist nicht genug, im Kopf klar zu sein, überall muß man klar sein.

In dieser ruhigen Klarheit im Hintergrund entdecken wir in der Tat eine zweite, tiefere Ebene der Wirrnis (es handelt sich entschieden um einen Weg des Abstiegs). Je mehr sich die mentale Mechanik beruhigt, um so deut-licher erkennen wir, wie sehr sie alles überzieht – das ganze Dasein, die geringste Geste, den unmerk-lichsten Lidschlag, die geringste Schwingung, gleich einer nimmersatten Hydra auf großem Raubzug –, und man sieht die seltsame Fauna, die sie ver-deckte, in grellem Tageslicht. Das ist keine Arena mehr sondern ein wimmelnder Sumpf, in dem es von psychologischen Mikroben nur so brodelt: eine Heerschar winzigster Reflexe gleich dem Zucken des Pseudopodiums, halbautomatische Reaktionen, willkürliche Impulse, Tausende von kleinen Gelüsten und dann die größeren gesprenkelten Fische un-serer Idiosynkrasien, unserer eingefleischten Geschmäcke und Abgeschmacktheiten, unsere “natürlichen” Neigungen und das ganze mißtönende Spiel von Sympathien und Antipathien, Vorlieben und Abneigungen – ein Uhrwerk, das bis auf das präkambrische Zeitalter zurückgeht, ein ungeheurer Restbestand der Gewohnheit, sich gegenseitig zu verschlingen, ein vielfältiger Taumel, in dem Wahlverwandtschaften kaum mehr als eine Er-weiterung der Nahrungswahl sind. Es gibt also nicht nur eine mentale sondern auch eine vitale Mechanik. Wir begehren und wollen. Und unglücklicherweise wollen wir alle möglichen sich widersprechenden Dinge, die sich mit den konträren Willensäußerungen des Nachbarn vermischen, eine blinde Verquickung ergeben, und es ist nicht einmal sicher, ob der Tri-umph dieser kleinen Willensäußerung von heute nicht unsere Niederlage von morgen vorbereitet, noch ob das erfüllte Begehren, die gestrenge und aufrechte Tugend, der erhabene Impuls, der so wohlmeinende “Altruismus”, das kompromißlose Ideal nicht ein Debakel anrichten, das schlimmer ist als alle Übel, deren Heilung sie bezweckten. Diese ganze vitale Kakophonie mit ihren mentalen Aufkle-bern und Rechtfertigungen, die schön daherredet und ihre herrlichen und unfehlbaren Gründe zelebri-ert, bekennt nun ihre wahre Farbe in der kleinen ru-higen Lichtung, in der wir uns jetzt eingerichtet ha-ben. Und auch hier nehmen wir nach und nach Zu-flucht zur Methode der “Ent-Mechanisierung”: Anstatt uns in unsere sinnlichen Wahrnehmungen, unsere Gefühle, unsere Vorlieben und Abneigungen, Si-cherheiten und Unsicherheiten zu stürzen, so wie sich das Tier auf seine Krallen abstützt, treten wir (wenn auch ohne die Instinktsicherheit des Tiers) einen Schritt zurück, halten inne, lassen die Wildflut verebben, den Reflex, das voreilige Urteil, das mehr oder weniger trübe Gefühl – aber trotzdem ist da eine Störung in diesem kleinen klaren Gewässer, das im Hintergrund fließt, in diesem unbeirrbaren Sonnenstrahl: schlagartig ist der Rhythmus gestört, das Wasser ist nicht mehr klar, der Strahl gebro-chen. Und diese Brüche, die Störungen, diese dis-harmonischen Überlagerungen werden zunehmend unerträglicher: Es ist, als fehlte es einem plötzlich an Sauerstoff, ein Sturz in den Schlamm, ein qualvolles Erblinden, ein Stocken der leisen Melodie im Hinter-grund, die das Leben so sanft und weit und rhyth-misch machte, gleich einer wogenden Wiese unter der sanften Berührung eines Passatwindes von woanders.

Denn es gibt tatsäch-lich einen Rhythmus der Wahrheit dahinter und da-rum herum und überall, einen weiten, ruhigen Fluß, einen Raum schwereloser Zeiten, in dem die Tage und die Stunden und die Jahre der unwandelbaren Bewegung der Sterne und Monde zu folgen scheinen, auf- und niedergehen wie die Brandung vom Anbeginn der Zeiten, sich mit der ganzen Ent-faltung verbinden und diese gegenwärtige Sekunde mit einer Ewigkeit des Seins erfüllen.

Wir haben uns in die-ser kleinen Lichtung eingerichtet; sie bildet unsere Basis, unsere große klare Freiheit, die überall gilt, unser Himalaya inmitten der Straßen, unsere leise unveränderliche Weise. Und schließlich werden wir gewahr, daß es nichts zu “tun” oder “nicht zu tun”, einzugreifen oder nicht einzugreifen, zu wollen oder nicht zu wollen, zu beherrschen und zu meistern gibt: es genügt, da zu sein, wirklich da zu sein, und diesen kleinen Rhythmus in die Dinge, diese kleine Kadenz in die Trübung der Umstände, dieses ruhige Licht auf alle Wesen fließen zu lassen. Und alles ordnet sich, richtet sich schlicht und wunderbar, ohne daß man weiß warum, durch die einfache Tatsache, daß man ist. Es gleicht einem Lösungsmittel für Schatten, einem Vermittler von Ordnung, einem Sender des Friedens und der Har-monie, einem Filter der Rhythmen – denn in Wahr-heit gibt es kein Übel, keine Feinde, keine Wider-sprüche: es gibt nur schlecht abgestimmte Rhyth-men. Und sind wir selbst stimmig, ist alles stimmig – allerdings nicht entsprechend unseren Vorstellungen von Gut und Böse, von Glück und Unglück, von Fehlschlag oder Erfolg, sondern gemäß einer an-deren Ordnung, die sich nach und nach als unfehlbar und mit großer Weitsicht ausgestattet offenbart – einer Ordnung der Wahrheit.

Und jede Minute wird klar. Jedes Gesicht hinter seinem Schatten, jeder Umstand hinter seinem Aufruhr, jeder Schritt des Zu-falls, jeder Unfall, jedes Stolpern offenbart seinen Sinn und seinen Kern reiner Wahrheit, der zu wer-den sucht. So gibt es kein Urteil, keine falschen Re-flexe, keine Hast oder Spannung mehr, keine Gier, keine Angst, zu verlieren oder nicht zu haben, keine beunruhigenden Unsicherheiten und keine schnell hinterfragten Sicherheiten: das fließt, ist wahr und sucht nur danach, wahrer und wahrer zu sein, denn die Wahrheit ist die große Sanftmut des Le-bens, der Frieden des Seins, die Weite und Mächtig-keit des Seins, die Präzision der Geste und die Vollkommenheit der Minute.

Wir sind in ein neues Bewußtsein eingetreten, in ein Bewußtsein der Wahrheit.

Und erneut über-rascht uns dasselbe Phänomen: es handelt sich nicht um ein erhabenes Bewußtsein von der Art, die man auf den Gipfeln des Geistes entdeckt, die nichts weiter ist als ein Paroxysmus des Selbst; es gibt hier keinen Funkenregen, und dennoch sind da winzige Funken, die unsere Sekunden mit der Sanftmut der Ewigkeit erfüllen; keine verblüffenden Unermeßlich-keiten und dennoch kleine Lichtungen, wo man jede Sekunde frei atmen kann; keine kosmischen Vi-sionen, aber kleine Tropfen an Wahrheit, die jeden Punkt mit einem vollkommenen Sinn auszufüllen scheinen; keine Weissagungen, keine Offenbarun-gen und keine Ekstasen, aber einen einfachen klaren Blick, der das bewirkt, was es zu tun gilt, in dem Augenblick, in dem es notwendig ist, und der bescheiden die kommenden Wunder vorbereitet; keine großen Revolutionen sondern die kleine Revo-lution eines jeden Augenblicks, um eine unsichtbare Sonne im Herzen der Dinge herum; keine großen oder geringen Ereignisse sondern eine ebenmäßige Wahrheit, die mit jedem Schritt und jeder Geste wächst. Fast könnte man sagen, ein Wahrheitsbe-wußtsein der Materie.

Das ist die große neue Tatsache auf der Welt. Es ist das neue Be-wußtsein, von dem Sri Aurobindo sprach. Es ist der mikroskopische Anfang einer Welt der Wahrheit. Und eben weil sie dies nicht sahen (oder weil der Moment dafür noch nicht gekommen war), erklommen die Weisen vergangener Zeiten auf der Suche nach dem Himmel die höchsten Höhen. Der Himmel aber ist unter uns: er wächst mit unserem Blick, er wird stärker mit jedem Hindernis, jeder Geste der Wahr-heit, jeder wirklich gelebten Sekunde, er zeichnet seine anmutigen Hügel unter unseren erstaunten Schritten und schwingt unmerklich in den keinen Ausbrüchen des Seins, die wir unseren großen Ödländern abgewinnen.

6 Das Durchbrechen der Grenzen

Wir hatten uns auf die Suche nach dem Selbst inmitten der ganzen in-neren und äußeren Mechanik gemacht, hatten ein so großes Verlangen nach etwas, das nicht diese ge-netische Summe sei, diese legale Fiktion, dieser Le-benslauf, der eher einem Todeslauf gleicht, diese Addition unserer Fakten und Gesten, deren Gesam-tergebnis Null ist oder eine ewige Hoffnung auf ich weiß nicht was, eine Krönung der Existenz, die unter unseren Schritten wegrutscht und in der Ferne verschwindet, einer anderen Welle entgegen, die nur die mehr oder weniger glückliche Wiederholung der einen selben Geschichte ist, des einen selben “Pro-gramms”, das dem Computer mit den Chromosomen unserer Eltern, unseren Studien, unseren prägenden Jahren und deren Fehlprägungen eingefüttert wird; etwas, das nicht dieser Aktenkoffer sei, den wir überall mit uns herumtragen, nicht das Stethoskop, nicht der Kugelschreiber, nicht die Summe unserer Empfindungen, nicht die Summe unserer immerglei-chen Gedanken, nicht die Summe von eintausend Gesichtern und Terminen, die nichts ändern in uns und unseren kleinen Inseln des Selbst, das nicht wir selbst ist sondern eine Million von Dingen, mit denen wir von außen, von der Umwelt, der Unterwelt, dem Himmel und den anderen überschüttet werden – wo bleibt das Selbst in all dem? Wo bin ich? Und diese Frage wurde so erstickend, daß wir eines Tages einen Schritt heraus getan haben – einen Schritt ins Nichts, das vielleicht doch etwas ist, das für uns alles war, der einzige Fluchtweg von dieser bleiernen In-sel. Und nach und nach, in dem kleinen Intervall zwischen dem Schatten eines mechanischen Selbst und dem Etwas oder Nichts, das all das betrachtet, sahen wir eine Flamme der Not in uns wachsen, eine Not, die um so intensiver und schreiender wurde, je mehr sich das Düstere in uns, um uns verdichtete, eine Flamme von ich weiß nicht was, die innerhalb dieser erdrückenden Nichtigkeit brannte. Und allmählich sahen wir kleine Lichtblitze aufleuchten, gleich den ersten vagen Anzeichen einer Morgendämmerung in der Nacht, gleich den Umris-sen einer fernen Stadt im Nebel, vage Vorboten, so vage, daß sie Irrlichtern auf einem dunklen Meer glichen, von denen man nicht wußte, ob sie zehn Meter oder zehn Meilen entfernt waren oder vielleicht nur der Widerschein eines Sterns oder phophoreszierendes Plankton unter den Wellen. Aber selbst dieses Nichts war bereits etwas in einer Welt von solch unübertroffener Nichtigkeit. So be-harrten wir. Die Flamme der Sehnsucht festigte sich in uns (oder außerhalb von uns oder an unserer Stelle?) wurde unser Begleiter, unsere Anwesenheit in dieser Abwesenheit von allem, unser Bezug-spunkt, unsere ewig brennende Vertrautheit. Und je mehr sie wuchs, je mehr sie in uns rief, so sehr in diesem brennenden und erstickenden Nichts rief, desto mehr häuften und präzisierten sich die Zei-chen, entzündeten sie sich unter unseren Schritten, wie um uns zu zeigen: “Siehst du, siehst du”, als be-wirkte bereits das Rufen nach der neuen Welt, daß sie entsteht, als würde etwas antworten. Und die schwach flackernden Feuer begannen sich langsam zu verbinden, sich zu stetigen, aufzuschließen, sich in Linien, Koordinaten, Fahrtrinnen abzuzeichnen, und wir betraten ein anderes Land, ein anderes Be-wußtsein, eine andere Funktionsweise des Seins – wo aber in alldem liegt das “Ich”, wo ist der-jenige, welcher besitzt und anordnet, dieser einzige Reisende, dieses Zentrum, das weder dem Affen noch dem Menschen angehört?

Wir haben uns gründlich rechts und links umgesehen: wo ist das Ich, wo bin ich ...? Es gibt kein Ich! Nicht eine Spur, nicht die Falte eines Ichs – wozu auch? Da ist dieser kleine Schatten im Vordergrund, der Gefühle, Ge-danken, Kräfte, Pläne einheimste und hamsterte, gleich einem Bettler, der Angst hat, bestohlen zu werden, Angst hat, nichts zu haben, der auf seiner Insel hortete und doch vor Durst umkam, immer-während Durst hatte inmitten der schönsten Wasser-fläche; der Verteidigungsgräben um sich zog und Festungen errichtete gegen diese Unermeßlichkeit, die zu groß für ihn war. Aber wir haben die bleierne Insel verlassen, haben die Festung aufgegeben, die doch nicht so fest war, wie es schien. Und wir tauch-ten in einen anderen, anscheinend unerschöpflichen Strom, einen Schatz, der sich unbekümmert ver-schenkte: denn was müssen wir von dieser Minute zurückbehalten – die folgende Minute enthält einen neuen Reichtum; was gilt es zu denken oder vorher-zusehen – das Leben verläuft nach einem anderen Plan, der allen unseren alten Plänen zuwiderläuft und mitunter in einem Aufleuchten wie ein Lachen etwas Wundervolles erahnen läßt, eine plötzliche Freiheit, eine vollständige Entfesselung des alten Programms, eine kleine schwerelose Gesetzmäßig-keit, die zwischen den Fingern zerrinnt, die Tore öff-net, den unausweichlichen Konsequenzen und alten eisernen Gesetzen ins Gesicht lacht und uns für einen verbotenen Augenblick auf die Schwelle eines unvorstellbaren Sonnenlichts versetzt, als wären wir in ein anderes Sonnensystem eingetreten – das vielleicht gar kein System ist –, als hätte das Dur-chbrechen der mechanischen Grenzen innen ein identisches Durchbrechen der mechanischen Gren-zen außen provoziert. Vielleicht deshalb, weil wir uns ein und derselben Mechanik gegenüber finden: Die Welt des Menschen ist das, was er von ihr denkt, seine Gesetze sind die Verkettung seiner eigenen Ketten.

Dennoch gibt es eine Logik in dieser anderen Art zu sein, und eben diese Logik gilt es, wenn möglich, zu begreifen, wollen wir den Übergang in den anderen Zustand bewußt aus-führen, nicht nur in unserem Innenleben sondern auch in unserem Leben außen. Man muß die Regeln des Übergangs kennen.

Offengestanden ge-ben sie sich nicht leicht preis – weil sie zu einfach sind. Man muß es unermüdlich ausprobieren, be-trachten, beobachten, und vor allem – vor allem – im mikroskopisch Kleinen verfolgen. Und wir nehmen an, daß früher die großen Primaten, die Menschen zu werden versuchten, das Geheimnis dieses an-deren Zustandes nach und nach entdeckten, durch Tausende kleiner Sekundenbruchteile, in denen sie wahrnahmen, daß diese mysteriöse kleine Schwin-gung, die sich zwischen sie und ihre mechanische Handlung zu schieben begann, die Macht hatte, die Geste und das Ergebnis der Geste umzugestalten: ein nicht-materielles Prinzip begann heimlich die Ma-terie und die Gesetze des Bäumekletterns zu verändern. Und nehmen wir weiter an, sie waren schließlich überrascht von der Bedeutungslosigkeit der Bewegung, die solch weitreichende Folgen auslöste (und ohne Zweifel entging sie ihnen aus diesem Grund so lange, sie war zu einfach): “das” befaßte sich nicht mit weitreichenden Operationen, mit großen Affenangelegenheiten, sondern im Gegenteil mit winzigen Gesten, mit diesem Kiesel, den man zufällig vom Wegrand aufgehoben und einen Augenblick in der Hand gehalten hatte, oder mit diesem kleinen Sonnenstrahl auf dem jungen Sproß unter den Millionen gleichen und eitlen Sprössen des Waldes. Diesen Sproß aber und diesen Kieselstein betrachtet man auf eine unter-schiedliche Weise. Und in diesem Unterschied liegt alles.

Es gibt also nichts, was zu geringfügig wäre für den Sucher der neuen Welt, und die kleinste Schwankung der inneren Schwingung wird sorgfältig notiert, nebst der Geste, die sie begleitet, den Umständen, die folgen, dem Gesicht, das sich im Vorbeigehen zeigt – aber wir sagten mit Bedacht “Schwingung”: Gedanken haben damit in der Tat sehr wenig zu tun, sie gehören zur alten mentalen Gymnastik und haben kaum einen größeren Effekt für das neue Bewußtsein als das Bäumeklettern für den ersten Gedanken. Eher gleicht es einer Veränderung der inneren Färbung, einem Spiel flüchtiger Schatten und Ausbrüchen plötzlichen Sonnenscheins, einem Spiel von Schwe-ben und Schwere, winzigen Änderungen im Rhyth-mus, von abrupten Stößen oder einem leichten Fließen, einem plötzlichen Druck, der unsere Auf-merksamkeit beansprucht, von schwebendleichten Momenten, Anfällen eines Unbehagens, eines unerklärlichen Absinkens. Und es gibt nichts Zweck-loses, keinen überflüssigen Sproß im Wald, keine “Hindernisse”, nichts, was es auszuschließen gälte, keine ärgerlichen Umstände oder ungünstigen Orte, keine unzeitigen Begegnungen oder unglücklichen Zufälle – alles ist gut für den Sucher der neuen Welt, alles dient ihm als Übungsfeld ... Alles scheint fast gegeben zu sein, damit er seine Lektion kapiere. Und der Sucher beginnt die erste Regel des Übergangs zu erkennen: Alles führt in die richtige Richtung. Alles unterstützt die Richtung! Es gibt keine Hindernisse, keine Widersacher, keine Wider-stände, keine Unfälle, nichts Negatives – alles ist in höchstem Maße positiv, ist uns ein Zeichen, drängt uns der Entdeckung entgegen. Es gibt keine unbe-deutenden Details, lediglich Augenblicke der Unbe-wußtheit. Es gibt keine widrigen Umstände, lediglich falsche Einstellungen.

Wie aber sieht die Einstellung aus, die das neue Bewußtsein entsprin-gen läßt, was für ein Blick ist es, der den ganzen Unterschied ausmacht? Die Einstellung ist einfach, das haben wir schon gesagt: Zuerst gilt es, sich ganz von der Mechanik loszukoppeln und in dieser Weite im Hintergrund zu leben. Wir sagen “im Hintergrund”, aber offengestanden wissen wir nicht so recht, ob es einen Vordergrund oder Hintergrund, ein Oben oder ein Unten gibt; es handelt sich einzig um einen Ab-stand von “uns selbst”, dem alten Schatten, eine Art souveräner Haltung abseits, als sei der alte Schatten ein Teil unter vielen anderen eines Bildes, das wir betrachten – wer aber betrachtet? Wo befin-det sich dieses Selbst, das betrachtet?... Es ist in der Tat ein seltsames Selbst, das nicht ich selbst ist. Man könnte meinen, dieses “Selbst” sei nicht mehr im Körper, im Zentrum des vitalen und mentalen Spinnennetzes, sondern der Körper befinde sich unter vielen anderen Dingen in diesem Selbst. Und je vollständiger das Loskoppeln ist, desto mehr scheint sich das Selbst auszuweiten, scheint viele Punkte zu berühren, scheint fähig zu sein, an ver-schiedenen Orten gleichzeitig zu leben, ohne Hin-derung durch Distanzen, als hinge es nicht mehr von den Sinnesorganen ab, und vielleicht könnte es un-zählig hier und dort leben, je nachdem, wohin sich der Strahl richtet ... Ein unzähliges Selbst.

Die Grundbedingung scheint also die kleine helle Weite “im Hintergrund” zu sein, dieser wachsende Strom: Das Medium muß klar und durchlässig sein, sonst trübt und verzerrt sich alles, es gibt überhaupt keinen Blick mehr, al-lenfalls das altbekannte Durcheinander. Diese Klar-heit allerdings ist nur eine Grundbedingung für etwas anderes: das Werkzeug wird für den Gebrauch gereinigt. Und wir kommen auf unsere Frage zurück: Was für eine Art von Blick ist das, der das neue Bewußtsein “ausgräbt”?... Denn es handelt sich sehr wohl um ein Ausgraben: es befindet sich hier vor unserer Nase, nicht eine Million Lichtjahre entfernt in erhabenen Himmeln oder im Raum. Es ist so nah, daß man es nicht wahrnimmt, es sieht ta-tsächlich so wenig nach etwas aus, daß man es im Vorbeigehen nicht einmal bemerkt, so wie der Affe tausendmal am Fluß vorbeigeht, ohne den Energi-estrom zu bemerken, der seine Welt transformieren könnte.

Unser Blick ist falsch, da er alles durch das verzerrende Prisma seiner Routine betrachtet, und diese ist unzählig und äußerst subtil, sie besteht aus Jahrtausenden von Gewohnheiten, die in ihrer Diabolik genauso verzer-rend sind wie in ihrer Weisheit: Es sind die Rück-stände des Anthropoiden, der Barrieren errichten mußte, um sein kleines Leben, seine kleine Familie, seine kleine Sippe zu schützen, der hier und dort Striche ziehen und Grenzsteine setzen mußte und sich allgemein seines gefährdeten Lebens zu versi-chern hatte, indem er es zu einem Panzer individuel-len und kollektiven Egos verhärtete. So gibt es Gut und Böse, Richtig und Falsch, Nützlich und Schädlich, Erlaubtes und Verbotenes – und langsam aber sicher verstrickten wir uns in ein gigantisches polizeiliches Netzwerk, in dem wir kaum mehr in spiritueller Freiheit atmen können; und selbst diese Luft ist verschmutzt von zahllosen Geboten und Ver-boten, die knapp einen Schritt über der kohlenmon-oxydverschmutzten Luft unserer Maschinen liegen. Kurz, wir sind ständig damit beschäftigt, die Welt zu “berichtigen”. Uns dämmert allerdings die Erk-enntnis, daß unsere Berichtigungen so ganz richtig nicht sind. Nicht einen Augenaufschlag lang legen wir unsere bunten Gläser ab, durch die wir die Dinge mit dem Blau unserer Hoffnung, dem Rot unseres Verlangens, dem Gelb unserer Moralvorschriften und vorgefertigten Gesetze und dem Schwarz oder end-losen Grau unserer bis in alle Ewigkeit laufenden Mechanik färben. Der Blick – der wahre Blick –, der die Macht haben wird, vom mentalen Bann wegzu-brechen, ist deshalb jener, der sich klar auf die Dinge richten kann, ohne sie augenblicklich zu “berichtigen”: sich auf das Gesicht, den Umstand, den Gegenstand zu richten, so wie man seinen Blick in die Weite des Meeres schweifen läßt, ohne etwas wissen oder verstehen zu wollen – vor allem nichts verstehen zu wollen, denn das ist noch immer die alte Mechanik, die alles verhärten will –, sich von dieser ruhigen fließenden Unendlichkeit tragen zu lassen, in dem, was man sieht, zu baden, in den Dingen zu fließen, bis langsam, wie aus weiter Ferne, wie vom Grunde des Meeres, eine Wahrnehmung der betrachteten Sache, des beunru-higenden Umstands, des Gesichts vor uns auftaucht; eine Wahrnehmung, die kein Gedanke ist, kein Wer-turteil, sogar kaum eine Wahrnehmung, sondern wie der Tenor, die wesentliche Schwingung der Sache, ihre besondere Seinsart, ihre Seinsqualität, ihre in-time Melodie, ihre Beziehung zum großen Rhyth-mus, der überall fließt. Dann wird der Sucher der neuen Welt langsam einer Art kleinen Funkens reiner Wahrheit gewahr, der im Herzen der Dinge, des Umstands, des Antlitzes, des Unfalls brennt, ein kleiner Schrei wahren Seins, eine wahre Schwin-gung unter all der schwarzen, gelben, blauen und roten Verkleidung – etwas, das die Wahrheit jeder Sache, jedes Wesens, jedes Umstands, jedes Un-falls ist, als sei die Wahrheit überall, in jedem Augenblick, in jedem Schritt, lediglich verschleiert durch das Schwarz. Somit berührt der Sucher die zweite Regel des Übergangs und das größte aller einfachen Geheimnisse: Betrachte die Wahrheit, die überall ist.

Mit diesen beiden Regeln gewappnet, fest verankert in seiner sonnen-haften Stellung, dieser schweigsamen Lichtung, bewegt sich der Sucher der neuen Welt innerhalb eines größeren, vielleicht unendlichen Selbst, eines, das diese Straße genauso umfaßt wie die Wesen und all die kleinen Gesten der Stunde; er bewegt sich ruhig, wie getragen von einem großen Rhyth-mus, der die Wesen und all die Dinge seiner Umge-bung ebenfalls trägt, die Tausenden von Begegnun-gen, die von man weiß nicht woher entspringen und in der Ferne verschwinden; er betrachtet diesen kleinen einherschreitenden Schatten, der schon seit so langer Zeit auf dem Weg zu sein scheint, der vielleicht seit vielen Existenzen und Leben auf dem Weg ist, dieselben unbedeutenden Gesten wieder-holt, hierhin und dorthin stolpert, dieselben modischen Worte wechselt, und alles ist sich so äh-nlich, von einer solchen Sanftheit durchdrungen, daß diese Straße und die Wesen und die verstrei-chenden Begegnungen in einem großen gleichen Fluß zu verschmelzen scheinen, der aus den Gründen der Nacht aufsteigt, zurückgekehrt aus der einen selben Geschichte, unter dem Himmel Ägyp-tens oder Indiens oder der Loire, heute oder gestern oder vor fünftausend Jahren – und was hat sich wirk-lich verändert? Da ist dieses kleine Wesen, das mit seinem Feuer der Wahrheit voranschreitet, mit seinem so intensiven Feuer der Not im Ansturm der Zeiten – ein Feuer, das ist vielleicht alles, was ihn wirklich ausmacht, ein Ruf zu sein aus dem Grunde der Zeiten, ein immergleicher Schrei im ungeheuren Fluß der Dinge. Und nach was ruft dieses Wesen, was schreit es? Befindet es sich nicht in diesem unermeßlichen wachsenden Sonnenlicht, in diesem Rhythmus, der alles trägt? Es ist und ist gleichzeitig wieder nicht, es steht mit einem Fuß in einer ruhigen Unendlichkeit, und der andere strauchelt, tastet um-her – der andere in einem kleinen Selbst aus Feuer, das diese Sekunde der Zeit, diese nichtige Geste, diesen Schritt unter all den Tausenden von gleichen Schritten mit der Fülle wahrer Existenz erfüllen möchte, so voll wie alle Jahrtausende zusammenge-nommen, mit einer so notwendigen Präzision wie die Ellipsen der Sternenbahnen über seinem Kopf, auf daß alles wahr sei, wahr, gänzlich wahr und voll von Sinn in diesem maßlosen Wirbel eitler Nichtigkeiten; auf daß diese Linie, die er überschreitet, die Straße, die er kreuzt, diese ausgestreckte Hand, das eben gesprochene Wort sich mit dem großen Fluß der Welten verbinde, mit dem Rhythmus der Sterne, mit den Linien, den unzähligen Linien, die dieses Uni-versum durchfurchen und einen alles umfassenden Gesang ergeben, eine volle Wahrheit erfüllt mit dem Ganzen und jeder Parzelle des Ganzen: So be-trachtet er all die vorbeistreichenden kleinen Dinge und erfüllt sie mit dem Feuer seines Rufs, er sieht und betrachtet diese kleine Wahrheit, die überall ist, als würde sie durch sein Feuer entfacht, ins Sein gerufen werden.

Und die Welt beginnt, sich tatsächlich unter unseren Augen zu verändern, und nichts mehr ist bedeutungslos, nichts mehr ist vom Rest getrennt. Wir sind Zeugen einer großen totalen Geburt. Unser einfacher Blick erhält seltsame Fortsetzungen, unsere kleine Geste ein Echo, das fort und fort hallt. Aber auch hier ist es eine verhal-tene, scheue Geburt, kleine verstreute Anzeichen einer Geburt. Der Sucher steht verblüfft vor den vereinzelten Zeichen kleiner Ausbrüche, vor Fakten ohne erkennbaren Zusammenhang, nicht unähnlich dem Hominiden der Vorzeit, der diesen biegsamen Ast und jene Liane betrachtete und dann dieses ver-lorene Stück Feuerstein, bevor er sie zu Pfeil und Bogen vereinigte und seine Beute in vollem Lauf er-legte. Er kennt die Zusammenhänge nicht – sie müssen beinahe erfunden werden. Unsere Erfindun-gen aber sind einzig die Entdeckung von bereits Vorhandenem, wie der Fluß oder die Liane im Wald. Eine neue Welt ist die Entdeckung neuer Zusam-menhänge. Jetzt befinden wir uns im Zeitalter der Selbsterkenntnis zweiten Grades, und die Erfindung, die wahre Erfindung, ist nicht mehr diejenige, die zwei materielle Gegenstände durch das subtile Phänomen eines Gedankens in Beziehung zue-inander setzt, die wahre Erfindung vermag dieselbe Materie mit den subtileren Phänomenen eines zweiten Bewußtseinsgrades in Verbindung zu set-zen, schweigend und ohne Gedanken. In unserem Zeitalter geht es nicht mehr darum, die Materie durch Materie zu vervollkommnen, sie durch Hinzufügen weiterer Materien zu vermehren – wir ersticken doch bereits unter dem monströsen Überfluß, der uns fes-selt und der letztendlich nichts als eine “Verbesse-rung” der Methode des Affens ist –, sondern die Ma-terie durch diese subtilere Macht zu transformieren, oder vielmehr, sie vielleicht dazu zu bewegen, ihre eigene Macht der Wahrheit zu offenbaren.

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Unter den Tausenden von mikroskopischen Erfahrungen, von denen man kaum weiß, ob es Erfahrungen, Zufälle oder Einbildungen sind, ist es schwierig, Beispiele auszuwählen. Und doch wiederholen sie sich, behar-ren, als würde ein unsichtbarer Finger aus Licht un-seren Schritten eine Richtung weisen, diese Geste prüfen, subtilen Druck auf diesen oder jenen an-deren Punkt ausüben, bis wir verstanden haben. Dann läßt der Druck wieder nach, und man schreitet fort zu einem anderen Punkt, der wieder und wieder mit der gleichen Beharrlichkeit auftaucht. Eine Erfah-rung besteht aus Tausenden von Erfahrungen, die ihrer selbst noch nicht bewußt geworden sind: es gibt keine Patentrezepte oder Gebrauchsanweisun-gen; der einzige Weg besteht im Gehen, im Stolpern und Weitergehen, bis es auf einen Schlag zu einem kleinen Ah! kommt, das tausend Löcher stopft.

Die Erfahrungen sind zweifacher Art, positiv und negativ, und sie beginnen bei der kleinen subjektiven Einheit, die wir darstellen, und erstrecken sich bis zu der großen objektiven Einheit, in der wir uns bewegen. Dann kommt ein Punkt, an dem die Subjektivität mit der Objektivität, die kleine Materie mit der großen Materie ver-schmilzt, und alles folgt einer einzigen Bewegung. Dies ist das Durchbrechen der Grenzen.

Der andauerndste und häufigste unter den unzähligen kleinen Aus-brüchen am Anfang ist das gegenseitige Durchdrin-gen oder Verschmelzen von Innen und Außen, al-lerdings im umgekehrten Sinne der Abläufe material-istischer Mechanik. Dort resultiert ein Schlag auf die Finger in einer Störung unserer inneren Substanz, hier provoziert eine Störung unserer inneren Sub-stanz einen Schlag in der Materie. Und diese Erfah-rung wiederholt sich an Tausenden von Beispielen und in allen Etagen unseres Wesens, um uns den Prozeß wirklich klarzumachen. Zunächst ist sie negativ, packt uns an unserer schwächsten Stelle, als sei der Fehler immer ein Tor zu einer größeren Wahrheit. Wir haben also wieder einmal unsere kleine Lichtung verlassen, wurden wieder von der Mechanik auf den Haken genommen (man sollte eher sagen, vom Schmerz, denn es handelt sich wirklich um ein schmerzhaftes Selbst), und alle Le-bensumstände beginnen sich verstohlen zu verändern, mitunter auch auf eklatante Weise, was bis zu einem physischen Unfall führen kann. Und doch gab es dabei keinerlei böse Gedanken, keine alte Begierde, keine aufgeregte Unzufriedenheit: es gab nichts als ein unmerkliches Übergleiten in alte Seinsgewohnheiten unter dem Gewicht innerer Angst, eine Verdunkelung, scheinbar ohne äußeren Anlaß, ein Verlust des kleinen hellen Strahls. Und alles fängt an zu knirschen, nichts ist mehr stimmig und trifft sich, die Gesten sind unangebracht, der Fuß verfängt sich in der Tür: Man fällt in eine Art zähe Anstrengung zurück, als würden wir ständig vergeblich gegen eine schwere, feste Mauer drücken. Dann hält man einen Augenblick inne, stellt das Schweigen wieder her, tritt einen Schritt zurück, entzündet erneut das Feuer des Bedürfnisses, das wirklich einem Schrei des Erstickens gleicht, und alles lüftet sich plötzlich, wird leichter, entspannt sich – die Mauer ist gefallen. Man hat wieder im weiten Raum Fuß gefaßt, den Rhythmus, die leichte Musik auf dem Grunde aller Dinge wiedergefunden, und alle Umstände beginnen unmerklich in eine andere Richtung umzuschwingen, unerwartet, leicht, unge-wollt, voll verstreuten kleinen Lächelns, das hier oder dort auszubrechen scheint und uns Zeichen gibt. Mi-tunter gleicht es sogar einer wunderbaren Anord-nung – mikroskopische Wunder allerdings, die nicht die Eitelkeit besitzen, mit ihrer Macht zu protzen, die nicht einmal Wert darauf legen, erkannt zu werden, und die schlicht lächeln, wenn wir sie ertappen, wie um uns zu sagen: Sieh, wie albern du bist!

Und tatsächlich fühlt man sich ziemlich albern, betritt plötzlich eine unglaubliche Landschaft, in der sich gleichsam über-all kleine lebendige Lichter entzünden, phantastische leichte Lichter, mit einem wonnigen, schelmischen Augenzwinkern, als öffneten sich auf allen Seiten Türen, Tropfen flüssiger Schätze glitzern überall, und alles scheint plötzlich einem anderen Gesetz zu fol-gen, in einem anderen Rhythmus zu leben, als hät-ten unsere Augen über Jahrtausende falsch gesehen und sähen nun richtig, die Welt wird wahr, alles of-fenbart sich, alles ist eine Offenbarung! Fast genügte es zu sagen: “So ist es!” auf daß die Umstände genauso werden, wie wir es in dieser Sekunde sa-hen, sie gehorchen unserer Angabe, gehorchen ihr unerklärlicherweise, als wäre es eine perfekte augenblickliche Übereinstimmung zwischen der Ma-terie und dem Augenblick, der sich in uns öffnete – alles ist möglich, alles wird möglich. Man könnte an ein Wunder glauben, aber es ist kein Wunder, es gibt keine Wunder sondern einzig Zusammenhänge, die wir nicht erkennen. Und die Erfahrung wiederholt sich, damit wir sie gründlich begreifen; sie ist launenhaft, verflüchtigt sich, wenn wir sie fassen wol-len; sie rührt von etwas anderem her. Und wir kom-men wieder und wieder auf dieses Andere zurück, das nach nichts aussieht, das einfach ist wie ein Lächeln, leicht wie der Wind, einwilligend wie eine Blume unter der Sonne – vielleicht ist dies die vollkommene Einwilligung: eine Art Zustimmung vol-ler Sonne, zu allem, in jedem Augenblick? Immer aber ist es wie ein plötzliches inneres Aufblühen, et-was, das sich öffnet und das augenblicklich und un-mittelbar mit der Materie kommuniziert, als wäre der Punkt der Wahrheit in uns mit denselben Punkten der Wahrheit in der Materie in Verbindung getreten, hätte sie berührt: Es fließt ohne Trennung, und was “das” hier in diesem Punkt von “ich” will, wird auch in jenem anderen Punkt der Materie gewollt, denn bei-des ist ein und dieselbe Substanz, ein und derselbe Wille, ein und dasselbe globale Selbst, ein und der-selbe Rhythmus. Fabelhafte Horizonte eröffnen sich uns eine Sekunde lang, um sich wieder zu entzie-hen. Der Sucher ist auf ein scheinbar ungreifbares Geheimnis gestoßen, das im Kern das Wunder der neuen Welt mit ebensolcher Unfehlbarkeit enthält, wie der erste Gedanke des Primaten im Kern die Wunder Einsteins enthielt – ein freies Wunder al-lerdings, völlig losgekoppelt und unabhängig von al-len äußeren Mechanismen, eine Art spontanes Entspringen aus dem Innern. Er hat den Finger auf die dritte goldene Regel des Übergangs gelegt: von innen nach außen. Das Leben ist nicht mehr das Er-gebnis der Manipulation äußerer Phänomene, der Summierung und Kombination der Materie durch die Kraft der mentalen Mechanik, sondern die Entfaltung eines inneren Phänomens, das die Wahrheit der Ma-terie kraft der inneren Wahrheit handhabt – eine Ent-faltung der Wahrheit, in der Wahrheit und durch die Wahrheit.

Und wieder über-rascht uns ein ähnliches Phänomen: Diese kleinen flüchtigen Ausbrüche haben nichts mit “großen Din-gen”, sensationellen und welterschütternden Men-schenangelegenheiten zu tun. Es sind bescheidene Wunder, man kann sagen minutiöse Wunder im De-tail, als läge der Schlüssel in diesem Klein-klein des dahinstolpernden Alltags, auf ebener Erde, über-rascht, als wöge in Wahrheit ein Sieg in einem un-endlich kleinen Punkt der Materie schwerer in seiner Konsequenz als alle interplanetarischen Reisen und ungeheuren Revolutionen der Menschen zusam-mengenommen (die letztlich gar nichts revolu-tionieren).

Diese neue Funk-tionsweise erscheint in der Tat radikal neu; sie ähnelt in nichts den sogenannten spirituellen oder okkulten Kräften, die man durch das Erklimmen der Bewußt-seinsleiter erlangen kann; es handelt sich nicht um prophetische Kräfte, auch nicht um Heilkräfte, Kräfte der Levitation – die tausendundeins armseligen Kräfte, die niemals die Armseligkeit der Welt heilen konnten –, es handelt sich nicht um glanzvolle Leuchtfeuer, die sich für einen Augenblick der Sicht der Menschen aufzwingen, nur um sie im nächsten wieder ihrem Ursprungszustand zu überlassen, halb schlafend und an Krebs leidend; keine kurzen Ein-griffe von oben, die den Gesetzen der Materie Hohn sprechen, um sie im nächsten Moment in ihre schwerfällige, widerspenstige Halsstarrigkeit zurück-fallen zu lassen. Es handelt sich um ein neues Be-wußtsein – neu, durch und durch neu wie ein junger Sproß am Weltenbaum –, eine unmittelbare Macht, von Materie auf Materie wirkend, ohne höhere Ein-griffe, ohne langwierige Umwege, ohne entstellende Zwischenträger oder abschwächende Entfernungen. Die Wahrheit hier antwortet der Wahrheit dort, augenblicklich und automatisch. Es ist ein globales Bewußtsein, unzählig und infinitesimal der Wahrheit jedes Punktes, jeder Sache, jedes Wesens, jedes Augenblicks bewußt. Man könnte es ein göttliches Bewußtsein der Materie nennen, dasselbe, welches eines Tages diesen Samen auf unserer guten Erde auswarf und all die Millionen wilder Samen und die Millionen Sterne, sich vollkommen und in jedem Moment aller Grade seiner Entfaltung bewußt, bis in das kleinste Kelchblättchen – alles stimmt, wenn man sich auf das Gesetz einstimmt. Denn in Wahrheit gibt es nur ein Gesetz, das Gesetz der Wahrheit.

Die Wahrheit ist die höchste Wirksamkeit.

7 Das Feuer der Neuen Welt

Was aber ist dieses neue Bewußtsein, das plötzlich im gesegneten Jahr 1969 unserer Evolution auftrat? (Bleibt zu bedenken, ob nicht schon viele gesegnete Jahre und andere menschliche Zyklen unter den Trümmern der Erde verschwunden sind, welche denselben Punkt erreicht hatten, an dem wir heute stehen, und die vielleicht aus denselben Gründen vernichtet wurden, die uns heute bedrohen – sind wir der höchste Gipfel der großen evolutionären Woge oder schlicht die x-te Wiederholung eines Versuchs, der schon viele Male unternommen wurde, hier oder in anderen Uni-versen?) Vielleicht ist dieses neue Bewußtsein gar nicht so neu, sondern ist lediglich für uns neu ge-worden und an dem Tag in das Feld praktischer Verwirklichung eingetreten, an dem es uns gelang, eine Verbindung mit ihm herzustellen – vielleicht sollte man sagen, eine neue Verbindung. Denn vielleicht handelt es sich seit Ewigkeiten, seit dem Anbeginn der Zeiten, hier oder auf anderen Erden, um etwas ewig Gleiches, zu dem wir unserer Vor-bereitung gemäß unterschiedliche Bezüge herstel-len. Das, was dem Orang-Utan entlegen und göttlich erschien, ist für uns bereits nah und weit weniger göttlich; doch die Götter der Zukunft bleiben noch zu erobern, und es bleibt ein Ewig-Mehr zu verkörpern. Dieses Ewig-Mehr ist der Sinn der Evolution und der schlecht begriffene “Gott”, dem wir als Orang-Utan oder in religiöser oder wissenschaftlicher Form nachstreben, und vielleicht wäre es für ihn und uns besser, ihn nicht zu taufen. Es handelt sich um ein gleiches Etwas, das immer da ist, immer gegenwär-tig ist – nur gibt es Bruchpunkte innerhalb der Arten, Momente der Annäherung an einen anderen Zustand oder eine andere Beziehung. Es leuchtet ein, daß das Chamäleon, wenn es sich selbst über-lassen bleibt, sich nichts anderes vorstellen kann (vorausgesetzt, es stellt sich etwas vor) als ein Su-per-Chamäleon, ausgestattet mit prächtigeren Far-ben und behenderen Möglichkeiten des Beutefan-gens, und ein Maulwurfskönig würde nur seine Gänge und Vorratskammern erweitern – das heißt genau das, was wir derzeit im Menschlichen tun. Was also ist dieser “Fluchtpunkt” zu etwas anderem hin, was ist dieser “Moment der Vorstellung”, in dem wir in ein Anderswo eintreten, das immer gegenwär-tig war, in etwas anderes, das immer das Gleiche war, allein anders betrachtet und wahrgenom-men?

Glaubt man der ma-terialistischen Mechanik, so kann aus einem System nichts hervorgehen, das nicht bereits in ihm enthal-ten ist, es handelt sich also einzig darum, das zu vervollkommnen, was in dem kleinen Ballon vorhan-den ist. In gewisser Hinsicht hat sie damit Recht, es läßt sich allerdings fragen, ob ein perfektionierter Esel jemals etwas anderes ergeben kann als einen Esel? Es möchte scheinen, daß das geschlossene System der Materialisten zur definitiven Dürftigkeit verurteilt ist und daß sie sich, indem sie alles auf einen Entwicklungsgrad der Chromosomen und auf die Vervollkommnung der grauen Substanz zurück-führen, zu einer Supermechanisierung der Mechanik verdammt haben, von der sie ausgegangen sind (aus der Mechanik kann nur Mechanisches hervor-gehen) – weder der Affe noch der Maulwurf noch das Chamäleon tun allerdings etwas anderes, sie fügen hinzu und ziehen ab, und unsere Mechanik ist grundsätzlich nicht fortgeschrittener als die ihre, selbst wenn sie fähig ist, einige Feuerwerkskörper auf den Mond zu schießen. Kurz, wir sind perfek-tioniertes Protoplasma mit umfassenderen Fähig-keiten, uns breitzumachen, und etwas subtileren Tropismen, und bald werden wir in der Lage sein, alle nötigen Faktoren zu berechnen, um einen biolo-gischen Napoleon und Einstein aus dem Reagen-zglas zu züchten. Und trotz alledem wäre unsere Erde mit Legionen von Lehrtafeln und Supergen-erälen, die nicht mehr wissen, wohin sie dirigieren sollen, auch nicht glücklicher – sie würden sich auf-machen, andere Erdkörper zu kolonisieren ... und sie mit Tafeln füllen. Man kann dem System per defini-tionem nicht entrinnen, denn es ist ganz und gar geschlossen.

Wir schlagen einen besseren, weniger verarmenden Materialismus vor, und wir halten die Materie für weniger dumm, als man gemeinhin annimmt. Unser Materialismus ist ein Überbleibsel aus dem Zeitalter der Religionen, man könnte fast sagen, ihr unvermeidliches Pendant, wie Gut und Böse, Weiß und Schwarz und all die Du-alitäten einer linearen Sichtweise der Welt, die im-mer nur einen Grasbüschel nach dem anderen auf-nimmt, einen Kieselstein hinter einer Mulde, und die Gebirge vor der Ebene auftürmt, ohne zu verstehen, daß all das zusammen in gleicher Weise und voll-ständig wahr ist und eine vollkommene Geographie bildet, in der kein Loch gestopft, kein Kieselstein ent-fernt werden kann, ohne dadurch alles übrige zu verarmen. Es gibt nichts zu unterdrücken, es gilt alles in der umfassenden Wahrheit aufzunehmen; es gibt keine Widersprüche sondern einzig begrenzte Sichtweisen. Wir sagen also, daß die Materie – un-sere Materie – zu größeren Wundern fähig ist als all die mechanisierten Wunder, die wir ihr mit Gewalt abzutrotzen versuchen. Die Materie läßt sich nicht ungestraft vergewaltigen, sie ist bewußter als wir glauben, weniger verschlossen als unsere mentale Festung – sie läßt vieles über einen langen Zeitraum gewähren, denn sie ist langsam, dann aber nimmt sie mitleidlos Rache. Man muß lediglich den Hebel kennen. Wir haben versucht, ihn zu finden, diesen Hebel, indem wir sie wissenschaftlich oder religiös zerlegten; wir haben Mikroskope und Skalpelle er-funden und immer mehr Mikroskope, die immer tiefer eindrangen, mit stärkerer Vergrößerung sahen und ein Kleinstteilchen nach dem anderen entdeckten, und dann noch ein kleineres, das jedesmal der be-gehrte Schlüssel zu sein schien, aber lediglich die Tür zu einem anderen noch kleineren öffnete und derart die Grenzen immer weiter zurückdrängte, und jede Grenze war von einer anderen Grenze um-grenzt, die von einer weiteren umgrenzt wird; und der Schlüssel entzog sich uns immer noch, auch wenn er uns zwischendurch einige Ungeheuer eröff-nete. Wir beobachteten in immer stärkerer Ver-größerung eine Ameise, die nicht aufhörte, sechs Beine zu haben, allen Supersäuren und Super-partikeln, die wir in ihrem Verdauungstrakt entdeck-ten, zum Trotz. Vielleicht werden wir fähig sein, eine andere Ameisenart zu fabrizieren, vielleicht eine mit nur drei Beinen – was für ein Fortschritt! Wir brauchen keine andere Ameisenart, wie auch immer verbessert: wir brauchen etwas Anderes. Auch re-ligiös haben wir versucht, diese Materie zu zerlegen und sie auf eine Fiktion Gottes zu reduzieren, auf ein Tal des Durchgangs, ein Königreich des Teufels und des Fleisches, und auf die tausendundeins Partikel unserer theologischen Teleskope. Wir schauten weiter und weiter, göttlicher und göttlicher in den Himmel, dabei blieb die Ameise beständig und schmerzlich bei ihren sechs Beinen, oder ihren drei, zwischen einer Geburt und der nächsten endlos un-verändert. Uns gebricht es nicht am Heil der Ameise, uns gebricht es an etwas grundsätzlich Anderem als der Ameise. Und schließlich kommt es vielleicht nicht darauf an, größer, höher und weiter zu schauen, sondern einfach hier unten, vor unserer Nase, in dieses lebendige Aggregat, das seinen eigenen Schlüssel enthält, gleich dem Lotossamen im Mo-rast, und einem dritten Weg zu folgen, der weder jener der Wissenschaft ist noch derjenige der Relig-ion – und der, wer weiß, eines Tages vielleicht all unser Weiß mit all unserem Schwarz, unser Gutes mit unserem Bösen, unsere Himmel mit unseren Höllen, unsere Hügel mit unseren Tälern in einer wohlgerundeten Wahrheit und einer neuen, menschlichen oder übermenschlichen Geographie vereint, die von all diesem Guten und Bösen, den Hügel- und Talfahrten so minutiös und genau vor-bereitet wurde.

Dieser neue Material-ismus verfügt über ein sehr mächtiges Mikroskop: einen Strahl der Wahrheit, der vor keinem Anschein halt macht und weit, so weit trägt, überallhin, der in allen Dingen, allen Wesen und unter allen Verk-leidungen und Störungen, welche die Dinge durcheinanderbringen, die gleiche “Frequenz” der Wahrheit erfaßt. Ein unfehlbares Teleskop: ein Blick der Wahrheit, der sich überall wiederfindet und wis-send ist, weil er das ist, was er berührt. Diese Wahrheit gilt es allerdings zunächst in uns selbst freizusetzen und zu entwirren, um sie überall freiset-zen und entwirren zu können: ist das Medium klar, ist alles klar. Und wir haben gesagt, daß dem Men-schen ein Selbst aus Feuer eigen ist, eine kleine Flamme im Zentrum seines Wesens, ein Schrei reinen Seins unter den Trümmern der Mechanik. Dieses Feuer ist es, das klärt. Dieses Feuer ist es, das sieht. Denn es ist ein Feuer der Wahrheit im Zentrum des Wesens, dasselbe Feuer überall, in al-len Wesen, allen Dingen, allen Bewegungen der Welten und der Sterne, gleichwie im Kiesel am Wegesrand und in dem Sporen, den der Wind davonträgt. Bereits vor fünftausend Jahren haben es die Rishis besungen: “O Feuer, diese Deine Herrlichkeit, die sich im Himmel findet und in der Erde und in den Gewächsen und in den Wassern ... ist ein lebendiger Ozean aus Licht, der mit göttlicher Vision schaut12... Es ist das Kind der Wasser, das Kind der Wälder, das Kind der beständigen Dinge und der Dinge in Bewegung. Selbst im Stein ist es für den Menschen da, gegen-wärtig in der Mitte seines Hauses13.... O Feuer, Du bist die Nabelschnur der Erd-körper und ihrer Bewohner14.” Dieses Feuer entdeckten die Rishis fünftausend Jahre vor den Wissenschaftlern – selbst in den Gewässern entdeckten sie es, und sie nannten es das “dritte Feuer”, jenes, das weder aus Flammen noch aus Blitzen besteht: saura agni, das Sonnenfeuer15, diese “Sonne in der Finsternis16”. Sie fanden es allein kraft ihrer unmittelbaren Vision der Wahrheit, ohne Instrumente, allein durch das Wissen um das Feuer in ihrem eigenen Innern – von Gleichem zu Gleichem. Unter ihren Mikroskopen fanden die Ge-lehrten hingegen nichts als die materielle, atomare Verkleidung dieses ursprünglichen Feuers, das im Mittelpunkt der Dinge und am Anfang der Welten steht. Das heißt, sie entdeckten die Wirkung, nicht die Ursache. Und weil sie allein die Wirkung fanden, fehlt ihnen auch die wahre Beherrschung, es fehlt ihnen der Schlüssel zur Transformation der Materie – unserer Materie –, der ihnen das wahre Wunder, das Ziel aller Evolution liefern würde, den “Punkt des Andersseins”, der die Tür zu einer neuen Welt öffnen wird. Dieses Feuer ist die Macht der Welten, der Urknall der Evolution, die Kraft des Kiesels, die Kraft des Samens, die Kraft “in der Mitte des Hauses”. Es ist der Hebel, es ist der Seher; es ist dasjenige, was den Kreis, alle Kreise unserer sukzessiv materiellen, animalischen, vitalen und mentalen Knechtschaften durchbrechen kann. Keine biologische Art, selbst bis an das Maximum ihrer Effizienz und Intelligenz und Leuchtkraft getrieben, hat die Kraft, ihre Grenzen allein aus dem Machtanspruch ihrer verbesserten Chromosomen zu überwinden – weder das Chamäleon noch der Affe noch der Mensch. Das Feuer vermag dies. Es ist der Punkt des Andersseins, der Moment höchster Vorstellung, der die alten Grenzen in Flammen legt, so wie eines Tages ein gleicher Moment höchster Vorstellung ein gleiches Feuer im Herzen der Welten entfachte und den Sonnensamen über die Wasser der Zeiten streute und all diese Wellen und Kreise darum herum, um ihm zu besserem Wachstum zu ver-helfen, bis daß jede Wurzel, jedes Reis, jeder Zweig des großen Aufblühens fähig ist, seine Unendlichkeit zu erlangen, befreit kraft seiner eigenen Größe.

Und wir kehren zu unserer Frage zurück: Was ist dieses neue Bewußt-sein? Woher stammt es, wenn es nicht die Frucht unseres kostbaren Gehirns ist?... Unter dem Strich betrachtet, besteht die Angst des Materialisten darin, sich plötzlich ohne Vorwarnung mit einem anzube-tenden Gott konfrontiert zu sehen, und wir verstehen ihn gut, wenn wir die kindischen Abbilder betrachten, welche sich die Religionen davon gemacht haben. Auch die Affen machten sich wahrscheinlich, wenn überhaupt, ähnlich kindliche Abbilder von den über-natürlichen und göttlichen Kräften des Menschen. Anzubeten ist das, was uns weiter, schöner und sonniger macht; und letztlich ist uns diese Weite und diese Schönheit und diese Sonnenhaftigkeit nur zugänglich, weil sie bereits in uns angelegt sind, sonst könnten wir sie gar nicht erkennen – nur Glei-ches erkennt Gleiches. Diese wachsende Gleichar-tigkeit ist die einzige anzubetende Gottheit. Wir möchten aber davon ausgehen, daß sie es nicht bei der vergoldeten Dürftigkeit der Ausgeburten unserer Wissenschaft beläßt, sowenig sie es bei den Großtaten des Pithekanthropus beließ. Dieses “neue” Bewußtsein ist also nicht ganz so neu: unser Blick ist neu, die besagte Gleichartigkeit wird deut-licher (vielleicht sollten wir sagen, die Präzision der Welt nimmt schärfere Konturen an). Die Welt, wir alle wissen es heute, ist nicht so, wie sie uns erscheint; diese für unsere Augen so solide Materie, die kristallenen Gewässer, die erlesene Rose zerfließen in etwas anderem, und die Rose war niemals Rose, und die Gewässer waren niemals kristallklar, die Wasser fließen und brausen und wirbeln genauso wie dieser Tisch und der Fels, und nichts ist un-bewegt. Wir haben unser Gesichtsfeld erweitert. Wer aber hat die Rose zerstört? Oder wer hat recht: das Mikroskop oder unsere eigenen Augen? Sowohl das erstere als auch das letztere, ohne Zweifel, und keines von beiden ganz und gar. Das Mikroskop an-nulliert weder, noch dementiert es unsere Ober-flächensicht; es berührt lediglich ein anderes Stock-werk der Realität, eine zweite Ebene derselben Sa-che. Und eben weil das Mikroskop anders sieht, vermag es anderes und liefert uns eine ganze Pal-ette von Strahlen, die unsere Oberfläche verändern. Und vielleicht existiert eine dritte, unerforschte Schicht wiederum derselben Sache – ein anderer Blick, denn was gibt es Neues unter den Sternen als die Art unserer Betrachtung der Sterne? Und zweifel-los existieren noch weitere Ebenen, unendlich viele weitere, die unserer Entdeckung harren, denn wer könnte dieser großen Entfaltung ein Ende setzen? Es gibt kein Ende, kein Ziel, es gibt unseren wachsenden Blick und ein Ziel, das jeden Augenblick gegenwärtig ist. Ein großes Aufblühen enthüllt Blatt um Blatt seine Wunder. Und jeder neue Blick ver-wandelt unsere Welt und ihre Oberflächengesetze so vollständig, wie Einsteins Gesetze die Welt Newtons verwandelten. Anders sehen heißt, anderes zu kön-nen. Und diese dritte Ebene ist das neue Bewußt-sein. Und es annulliert die Rose sowenig wie das Mikroskop – definitiv wird nichts annulliert außer nach und nach unsere Torheit; es verbindet die Rose wieder mit dem vollständigen großen Aufblühen, und die leuchtenden Wasser, den zufälligen Kiesel, das kleine Wesen ganz allein in seiner Ecke mit dem großen Fluß der einen selben und einzigen Macht, die uns nach und nach im goldenen Ebenbild des großen inneren Blickes gestaltet. Und vielleicht eröffnet es uns weniger monströse Wunder, die ganz kleinen natürlichen Wunder, die das große Ziel in jedem Augenblick hervorbrechen lassen und die To-talität des Wunders in einem Punkt aufdecken.

Wo aber ist der mys-teriöse Schlüssel dieser dritten Ebene zu finden? In Wahrheit ist er gar nicht mysteriös, obwohl er voller Mysterien steckt; er hängt nicht von komplizierten Werkzeugen ab, er versteckt sich nicht unter irgendeinem Geheimwissen, noch fällt er für die Auserwählten vom Himmel – er ist gegenwärtig, be-inahe dem nackten Auge sichtbar – schlicht, einfach und natürlich. Er bestand seit Anbeginn der Zeiten: im Samen, der ein schwelendes Feuer hütete, als Bedürfnis, sich auszudehnen und aufzunehmen; im großen Astralnebel, der seinen atomaren Staub sammelte, als Bedürfnis zu wachsen und zu sein; unter den schlafenden Wassern, in denen bereits das ungestüme Feuer des Lebens gärte, als Bedürfnis nach Luft und Raum. Und alles begann sich zu regen, getrieben vom gleichen Feuer: die Sonnenblume der Sonne entgegen, die Taube ihrem Gespielen und der Mensch nach man weiß nicht was. Ein ungeheures Bedürfnis im Herzen der Wel-ten und selbst der Galaxien, die sich weit bis an den Rand Andromedas gegenseitig in ihre tödliche Umarmung der Schwerkraft ziehen. Wir bemerken dieses Bedürfnis auf unserer eigenen Ebene, es ist klein oder weniger klein, es verlangt nach Luft oder nach Sonne, es verlangt nach einer Gefährtin und nach Kindern, es verlangt nach Büchern, nach den Künsten oder nach Musik, nach Gegenständen, Mil-lionen von Gegenständen – doch in Wirklichkeit gibt es nur einen einzigen Gegenstand, es bedarf nur einer Musik, einer einzigen Sonne und einer einzigen Luft zum Atmen. Ein Verlangen nach Unendlichkeit. Denn es ist aus Unendlichkeit geboren. Und solange es diesen seinen einzigen Gegenstand nicht berührt, wird es nicht aufhören und werden die Galaxien nicht aufhören, sich gegenseitig zu verschlingen, noch die Menschen, zu kämpfen und sich abzumühen um die eine Sache, die sie nicht zu besitzen glauben und die sie treibt, von innen her treibt, die ihr Feuer der Unzufriedenheit schürt, bis wir die äußerste Zu-friedenheit erlangt haben – und zugleich die Fülle all der Millionen eitler Gegenstände und der Rose eines Augenblicks und der kleinen nichtigen Geste. Dieses Feuer ist der Schlüssel, denn es ist aus der höchsten Macht geboren, die die Welt in Flammen legte; dieses Feuer sieht, denn es ist aus der höchsten Sicht geboren, die diesen Samen ersann; dieses Feuer weiß, denn es erkennt sich überall wieder, in den Dingen und Wesen, im Kieselstein und den Sternen. Es ist das Feuer der Neuen Welt, das im Herzen der Menschen brennt, “das die Schlafenden weckt,” wie es die Upanischade ausdrückt17. Und es wird nicht innehalten, bis alles seine volle, ganze Wahr-heit und die Welt ihre Freude wiedererlangt hat, denn sie ist aus der Freude und für die Freude ge-boren.

Anfangs allerdings ist dieses Feuer-Selbst mit allerlei obskuren Händeln vermischt; es müht sich und begehrt, streckt sich und kämpft, kriecht mit dem Wurm, wittert die Spur seiner Beute im Wind, muß sich erhalten und über-leben, betastet die Welt mit seinen kleinen Anten-nen. Entsprechend seinem Bedarf sieht es nur Teile des Ganzen. Und im Menschen – dem bewußten Tier – erweitert es seinen Radius, tastet weiter, ad-diert seine Fragmente, systematisiert die Gegeben-heiten: schafft Gesetze, gelehrte Traktate und Evan-gelien. Hinter allem jedoch steht treibend das Feuer-Selbst, das Etwas, das nicht ruht, das der Gesetze, Systeme, Evangelien überdrüssig wird, das hinter jeder begriffenen Wahrheit, jedem geschaffenen Ge-setz die Mauer spürt, hinter jeder gemachten Ent-deckung die Falle zuschnappen sieht, als sei Be-greifen bereits Ergriffenwerden, bereits das Zuschnappen der Falle; etwas lenkt die Antenne und wird sogar der Antenne, des Hebels und der ganzen Mechanik zum Verständnis der Welt überdrüssig, als würfen diese Mechanik, diese Antenne und dieser Blick einen letzten Schleier über die Welt und hin-derten es, ihre nackte Wirklichkeit zu berühren. Die-ser Schrei auf dem Grunde des Wesens möchte se-hen, hat solch ein Bedürfnis, wahrhaftig zu sehen und endlich in Freiheit zu atmen: als Meister der An-tenne und nicht als ihr Sklave. Als sei seit ewigen Zeiten dort ein Meister eingesperrt gewesen, der seine Pseudopoden, Tentakeln und all die ver-schiedenfarbigen Netze mehr schlecht als recht aus-breitete, um mit der Welt in Verbindung zu treten. Bis eines Tages, unter dem immensen Druck des Feuers der Not, die Mechanik schließlich rasselnd in sich zusammenbricht. Alles zerbricht: die Gesetze, die Evangelien, die Erkenntnisse und alle Jurispru-denzen der Welt, das Maß ist voll! Selbst vom Be-sten ist das Maß voll, das ist ein weiteres Gefängnis, eine Falle – die Gedanken, die Bücher, die Künste und unser Gottvater im Himmel –, etwas Anderes, bloß um alles in der Welt etwas Anderes! Oh, etwas, das einem so sehr ermangelt und das keinen Namen hat außer seiner blinden Not ... Und man ent-mechanisiert mit dem gleichen Eifer, mit dem man vorher mechanisierte. Alles brennt, es bleibt nichts außer dem reinen Feuer. Ein Feuer, welches nichts weiß, nichts sieht, nicht das geringste, nicht einmal die kleinen Fragmente, die es vorher so sorgfältig sammelte. Dieses geradezu schmerzhafte Feuer streckt und müht sich, sucht und stößt sich; es möchte die Wahrheit, möchte das Andere, so wie es früher all die Gegenstände wollte, die Millionen Gegenstände der Welt, und sich streckte, um sie zu ergreifen. Und nach und nach wird alles verzehrt. Selbst das Verlangen nach dem anderen, selbst die Hoffnung, jemals diese unmögliche reine Wahrheit zu erfassen, selbst die persönliche Mühe löst sich auf, alles gleitet uns aus den Händen.

Es bleibt eine kleine reine Flamme.

Eine Flamme, die nichts weiß, die nichts sieht, aber die ist – welche Süße, einfach diese Flamme zu sein, diese winzige Flamme ohne Objekt – sie ist, schlicht und rein. Es scheint sogar, als bräuchte sie nichts anderes. Man fließt in ihr, lebt in ihr, wie in einer Liebe für nichts und für alles. Und manchmal taucht man sehr tief hinein, und dort unten, ganz am Ende dieses ruhi-gen, so ruhigen Feuers ist etwas wie ein Kinder-lächeln, etwas, das die Welt wie transparent be-trachtet, und dann, gibt man nicht Acht, zerstreut sich der Blick, fließt mit den Dingen, atmet mit den Pflanzen, entflieht in die überall gegenwärtige Un-endlichkeit, lächelt in diesem oder jenem, und alles ist eine große Augenblicklichkeit. Es gibt nichts zu nehmen, zu ergreifen, nichts zu wollen: Es ist da, ganz da. Es ist überall da. Ein Blick ohne Mauern und Grenzen, eine Art zu sehen, die nicht bindet und fesselt, ein Wissen, das nicht nimmt – alles ist bekannt, augenblicklich vertraut und durchläuft alles, fließt wie der Aal, ist leicht wie der Pollen, frei wie der Wind, und es lächelt überall, als lächelte man hinter allem sich selbst zu. Wo ist nun das “Andere”, das Nicht-Ich, das Außen, das Innen, die Nähe, die Ferne? Alles verschmilzt, kommuniziert augenblick-lich, als sei es das Gleiche überall. Und da beginnt die kleine Flamme ihre eigene Welt wiederzuerken-nen: die neue Geographie beginnt Formen anzunehmen, Reliefs, Farbschattierungen, Varia-tionen zeichnen sich ab. Alles ist eins, und dennoch ist jedes wie einzig; es ist das gleiche Feuer, doch jedes Feuer hat seine besondere Intensität, seine spezielle Wellenlänge, seine vorherrschende Schwingung und etwas wie eine vollkommen andere Musik. Jedes Wesen hat seine eigene Musik, jedes Ding seinen Rhythmus, jeder Augenblick seine Farbe, jede Begebenheit ihre Kadenz, und alles be-ginnt in Verbindung zu treten. Alles erhält eine an-dere Bedeutung, einer totalen Bedeutung gleich, in der jeder, auch der geringste Spieler seine uner-setzliche Position, seine einzige Präsenz, seine ein-zige Note, seine unersetzbare Geste einnimmt. So beginnt eine erstaunliche Entwicklung mit traum-wandlerischer Sicherheit vor unseren Augen abzurol-len. Die Welt ist ein Wunder, ist mit jedem Schritt eine Erstaunen heischende Entdeckung, eine Offen-barung im Mikroskopischen, eine unendliche Reise ins Endliche. Man bewegt sich in dem neuen Be-wußtsein, hat das Feuer einer neuen Welt ergriffen: “O Feuer ... Du bist das höchste Wachstum und die höchste Weite unseres Wesens, alle Pracht und Schönheit liegen in Deiner begehrlichen Farbe und vollkommenen Vision. O Weite, Du bist die Fülle, die uns zum Ziel unseres Weges trägt; Du bist eine Viel-zahl von Schätzen, die allseits ausgebreitet sind18.”

8 Wandel der Sicht

Dieser Wandel der Sicht ist weder spektakulär, noch vollzieht er sich augenblicklich; er entsteht in kleinen Tropfen neuen Sehens; man merkt kaum, daß es sich um ein neues Sehen handelt, geht daran vorbei, ohne es zu merken, wie der Höhlenmensch vielleicht an einem Goldklumpen vorbeitrottete, ihn einen Augenblick ansieht, weil er glänzt, dann aber fortwirft. Wozu ist das gut, Gold? Man wird hundertmal wieder und wieder an demselben nichtssagenden Punkt vor-beigehen, der doch glänzt, der doch dieses bestim-mte unbeschreibliche Etwas um sich hat, bevor man begreift, daß Gold Gold ist – das Gold muß erfunden werden, die ganze Welt muß erfunden werden, um das zu finden, was bereits ist. Die Schwierigkeit be-steht nicht darin, verborgene Geheimnisse zu ent-decken, sondern darin, das Sichtbare zu entdecken und das ungeahnte Gold unter all der Banalität – in Wahrheit gibt es keine Banalität sondern einzig Un-bewußtheit. Es besteht die jahrtausendealte Ge-wohnheit, die Welt entsprechend unseren Bedürfnis-sen und in Bezug auf uns selbst zu sehen, gleich dem Holzfäller im Wald, der nach Rosenholz sucht und so einzig Rosenholz sieht. Es erfordert ein ge-wisses Maß an “Exzentrizität”, um die Entdeckung zu machen, und schließlich stellt man fest, daß diese Exzentrizität der erste Schritt einer echteren Zentriz-ität ist und der Schlüssel zu einer ganz neuen Welt ungeahnter Zusammenhänge. Unser Wald beginnt, sich mit unbekannten Essenzen zu füllen, und alles wird zu einer Entdeckung.

Unsere Vorstellungen waren durch das verfälscht, was man die “Tradition des Visionärs” nennen könnte. Es schien uns immer, als seien die Privilegierten unter den Menschen die-jenigen, die “Visionen” haben, die den grauen Alltag rosa und grün und blau sehen können, Erscheinun-gen und übernatürliche Phänomene haben – eine Art Superheimkino, das man sich daheim gratis zu Gemüte führen kann, indem man den psychischen Knopf drückt. Und all das ist schön und gut, es gibt nichts dagegen einzuwenden, aber die Erfahrung beweist, daß diese Art Vision leider rein gar nichts verändert: Würden morgen Millionen von Menschen durch einen Akt der Gnade mit visionärer Macht begabt, so würden sie wieder und wieder ihren kleinen psychischen Fernseher andrehen, Götter se-hen, die vor Goldgepränge zusammenbrechen (vielleicht jedoch auch einige Höllen, die ihren natür-lichen Neigungen eher entsprechen), Blumen von größerer Pracht als jede Rose (sowie verschiedene fürchterliche Schlangen), schwerelose Wesen oder welche mit Heiligenschein (Teufel allerdings verste-hen sich ausgezeichnet auf das Imitieren von Heili-genscheinen, sie sind prätentiöser als die Götter und lieben den Glitter), “traumhafte” Landschaften, üp-pigste Früchte, kristallene Paläste – letztlich aber, nach der hundertsten Wiederholung, langweilen sie sich so sehr wie zuvor und stürzen sich auf den letz-ten Klatsch. In diesem ganzen übernatürlichen Spek-takel fehlt etwas. Und, offen gestanden, dieses Et-was bedeutet alles. Wird unsere Natur nicht wahrhaf-tiger, kann nichts Übernatürliches Abhilfe schaffen; ist unsere innere Bleibe häßlich, kann kein noch so zauberhafter Kristall unsere Tage erleuchten, keine Frucht jemals unseren Durst stillen. Das Paradies ist auf Erden zu schaffen, sonst wird es nirgendwo sein. Denn überall tragen wir uns selbst herum, sogar im Tod, und solange dieser “dumme” gegenwärtige Augenblick nicht voller Himmel ist, entflammt sich keine Ewigkeit mit dem geringsten Stern. Findet die Transmutation nicht im Körper und im Alltag statt, wird uns hier oder anderswo, über Jahrhunderte und Jahrhunderte hinweg kein Gold glänzen. Es geht nicht darum, die Dinge in rosa oder grün oder auch golden zu sehen, sondern darum, die Wahrheit der Welt zu sehen, die um so vieles herrlicher ist als alle Paradiese, seien sie künstlich oder nicht, denn die Erde, diese winzige Erde unter den Millionen von Planeten ist die experimentelle Stätte, an der die höchste Wahrheit aller Welten sich in dem Substrat zu verkörpern entschlossen hat, welches als der Widerspruch ihrer selbst erscheint, und kraft gerade dieser Widersprüchlichkeit das All-Licht in der Fin-sternis zu werden, die All-Weite inmitten der Kleinlichkeit, die Unsterblichkeit im Tod und die le-bendige Fülle in jedem Atom und jedem Augen-blick.

Aber an uns liegt es, dabei mitzuarbeiten.

Dieser “Widersprüch-lichkeit” begegnet der Sucher auf Schritt und Tritt. Darin liegt der Schlüssel zum neuen Sehen. Er be-gegnet ihr in sich selbst, in anderen, in den Um-ständen: nichts “läuft” so, wie es laufen sollte. Wo ist die Wahrheit in diesem Chaos, diesem Wirrwarr, dieser Lüge? Sicherlich nicht hier, hier müssen wir kämpfen, auswählen, zurückweisen, die Umstände berichtigen, nach etwas dort draußen streben, weit in der Ferne, morgen oder gar tags darauf. Die Wahr-heit entgeht uns vollkommen – andere vor uns ha-ben die Umstände berichtigt, in Babylon, Theben oder Kapilavastu – schon seit zehntausend Jahren haben wir eine Zivilisation nach der anderen durch-laufen, und es ist gewiß eine Illusion zu glauben, die unsrige nähme kein Ende, und Europa mit all seinen wissenschaftlichen und kulturellen Wahrheiten sei für alle Zeiten der Nabel der Welt. Denn, offen gestan-den, morgen oder am nächsten Tag, das ist nie. Besteht in dieser Sekunde keine Wahr-heit, wird sie nie bestehen. Das ist die schlichte Mathematik der Welt.

Die Wahrheit ist vollkommen natürlich, aus diesem Grunde nehmen wir sie ja nicht wahr. Sie ist sogar die einzig natür-liche Sache der Welt. Sie besteht seit der ersten Kol-lision der Atome, woher sollte sie sonst kommen, aus welcher Periode Andromedas, des Krebses oder unserer eigenen Galaxis, herbeigeführt durch wel-chen Propheten, welche Entdeckung, welches Wunder? Propheten sind gekommen und gegangen, Entdeckungen reihen sich an Entdeckungen, und die Wunder von heute ergeben morgen eine weitere ar-chäologische Schicht für die Bewohner einer an-deren Welt. Wir aber sind noch nicht dort, und doch waren wir schon immer dort, inmitten des Wunders. Es gibt bloß einen Augenblick, wo man dem Wunder gegenüber die Augen öffnet. Und das ist der einzige Augenblick der Welt, der große Augenblick aller Zeiten und aller Erden – denn alles hängt zusam-men, es gibt nur einen Körper der Welt und einen Blick für alle Universen. Kein Punkt der Welt kann verändert werden, ohne alles zu verändern, kein Blick kann sich hier öffnen, ohne ihn dort zu öffnen. Kein Zentrum der Wahrheit kann berührt werden, ohne nicht alle Zentren zu berühren, augenblicklich und ohne Distanzen, denn es gibt nur eine Wahrheit und nur ein Zentrum.

Bedeutet das, diese Wahrheit wurde noch nie von einem Menschen berührt? Sicherlich ist sie berührt worden, aber auf den Höhen des Mentals, in seltenen Erleuchtungen, die hier oder dort ihre Spur hinterlassen haben, im Antlitz eines Buddha in Indonesien, einer Athene des Parthenon, in einem Lächeln in Rheims, in einigen wunderbaren Upanischaden, begnadeten Worten, die gleich einem goldenen und viel bestaunten Anachronismus fortbestehen, kaum real inmitten un-serer Betonstrukturen und zivilisierten Barbarismen; in den Tiefen des Herzens wurde sie berührt, sie wurde vom heiligen Franziskus oder von Sri Rama-krishna gestammelt; aber die Wasser rollen weiter unsere Flüsse hinab, und wir alle wissen, daß der Bombe das letzte Wort zukommt und dem Triumph des letzten demokratischen Helden, der sich bald den anderen unter derselben Schicht von Nichtig-keiten anschließen wird. Sie ist jedoch nie in der Ma-terie berührt worden, noch niemals dort, und solange sie nicht dort berührt wird, wird sie das bleiben, was sie immer war, eine brillante Träumerei oberhalb des Chaos der Zeiten, und die Welt wird vergeblich weiterwirbeln, ihre nichts-entdeckenden Entdeckun-gen aneinanderreihen und ihre Schein-erkenntnisse, die uns schließlich alle erdrosseln werden. In Wahr-heit mühen wir uns unter einer seltsamen Täuschung: wir flickschustern hier eine Ungerechtig-keit ins Rechte zurück, um sie dort wieder aufsprin-gen zu sehen, wir versiegeln dort einen Sprung, um die Wunde an einer anderen Stelle klaffen zu sehen, und es ist stets die gleiche Wunde, es gibt nur eine Wunde auf der Welt; solange man dieses Übel nicht angeht, werden unsere Millionen Medikamente und Parlamente und Rechtssysteme – mit ihren Millionen Gesetzen an jeder Straßenecke und bis in unsere Briefkästen – nichts in uns und am Elend der Welt heilen. Wir sind wohltätig und altruistisch, wir teilen und verteilen und egalisieren, doch unsere Wohl-taten scheinen mit unseren Missetaten Hand in Hand zu gehen, und das Elend, das große Elend der Welt sickert überall durch und nagt schleichend an un-seren funktionalen Eigenheimen und leeren Herzen; unsere Egalitäten sind die ungeheure graue Uni-formität, die sich über die Erde legt und das Gute mit dem weniger Guten gleichermaßen erstickt, die Fülle mit der Kargheit verquickt, die Massen hier wie dort flachwalzt – die große mechanisierte menschliche Masse, entkörpert und ferngesteuert durch Millionen von Fernsehern, Radios und Zeitungen, die ihre Ent-nervtheit bis in den letzten Himalaya-Weiler schreien und grollen. Und nichts Neues. In den Milliarden von Neuigkeiten nicht eine Neuheit. Nicht ein Jota Neu-heit unter den Sternen: die Menschen leiden und sterben in ihren Superkrankenhäusern, die nichts heilen, und in ihren Superstädten, die vor seelischer Not nur so bersten. Morgen aber, glaubt man, wird alles besser, mit noch mehr Mechanismen, Medi-kamenten, roten oder grünen oder blauen Kreuzen, Gesetzen und weiteren Gesetzen, um den Krebs der Welt zu reformieren. Und wir glauben, aus weiter, weiter Ferne der Vergangenheit, einer sech-stausendjährigen Vergangenheit, die kaum vernehmbare ergreifende Stimme von Lopamudra, der Frau des Rishis Agastya zu hören: “Viele Herb-ste hab ich gegraben, Tag und Nacht; die Morgensonnen lassen mich altern und das Alter ver-dunkelt die Pracht unserer Kör-per 19...” und ihr Echo in derjenigen von Maitreya: “Was soll ich tun mit all dem, womit sich der Nektar der Unsterblichkeit nicht erlangen läßt20?”

Heißt das, wir haben keine Fortschritte gemacht? Wir haben sicherlich nicht in dem Sinne Fortschritte gemacht, wie wir es verstehen. Wir sind nicht menschlicher als der Ein-wohner Thebens oder Athens und haben ihm, trotz all unserer Maschinen, nichts voraus. In Sri Aurobin-dos Worten: “Die Maschinen sind für die moderne Menschheit unabdingbar aufgrund ihrer unheilbaren Barbarei21.” Wir glauben alles zu beherr-schen, in Wahrheit aber beherrschen wir nichts. Un-sere Mechanik ist ein Eingeständnis der Schwäche, eine gewaltige Prothese als Ersatz für unsere Un-fähigkeit, weit zu sehen, weit zu hören, das Herz der Dinge zu durchdringen und augenblicklich und un-mittelbar zu begreifen. Wir verstehen nicht besser als vor zehntausend Jahren (und vielleicht wußte man es damals besser), wie man Materie durch Wil-lenskraft verändert, Licht durch das Bewußtsein ausstrahlt und durch Vision versteht. Unter unseren Apparaturen sind wir weniger fortgeschritten als das Tier mit seinem sechsten Sinn oder der zentralafri-kanische Pygmäe. Unsere Maschinen sehen besser als wir, fühlen besser als wir, rechnen besser als wir und leben schließlich vielleicht einmal besser als wir. Die Materie entgeht uns vollkommen. Ein zentraler Stromausfall genügt, und wir stehen wieder im Zeitalter der Höhlenmenschen. Denn Fortschritte machen bedeutet nicht, das Bestehende zu ver-bessern oder neue technische Prozeduren zu entwickeln: es bedeutet, das Bewußtsein und die Sichtweise zu verändern.

Wenigstens haben wir in einer Richtung Fortschritte gemacht, allerdings nicht in der von uns angenommenen. Wir haben den Zyklus des Affen vollständig durchlaufen: wir haben jene kleine Geste, die Liane und Ast verband und einen Bogen schuf, auf ihre äußerste Spitze getrie-ben, wir haben den mentalen Ballon bis zum Bersten aufgeblasen, der Plan der Natur ist erfüllt; er bestand nicht allein darin, ein Inventar der Welt zu erstellen, sondern auch darin, die gesamte Art zur Stunde Null zu geleiten, zu jenem höchsten Augenblick, in dem es keinen jungfräulichen Urwald mehr zu erforschen, keinen tiefsten Meeresgraben mehr zu sondieren, keinen Himalaya mehr zu erstürmen gibt, ja kaum noch ein Hektar Boden für unsere Stahlbetonkon-struktionen mehr verbleibt und selbst die Götter all ihres Lebenssaftes beraubt worden sind und seither staubbedeckt unsere Bibliotheken bevölkern, das Leben unter seinem Eigengewicht zusammenbricht und uns aufs neue, wie den Menschen frühester Zeiten, unter den Sternen dem Alleinsein ausliefert im Angesicht des Mysteriums der Erde, um den Na-men der Dinge zu finden, ihre Macht zu sein, die wahre Schwingung, die wir in uns bergen und die uns mit der Welt verbindet: das nackte Geheimnis dieses Augenblicks ohne Geschichte und eine ur-sprüngliche Musik der Dinge, die vielleicht ihre äußerste Wahrheit und ihre äußerste Macht ist, eine ursprüngliche Vision, die eine neue Geburt der Welt ist und vielleicht das Versprechen ihrer Transforma-tion. Wir stehen am Ende der mentalen Welt. Wir stehen vor der nackten Materie. Es ist die Zeit der großen Erfindung.

Und wir sind beinahe lächerlich schlecht gerüstet für solch ein Abenteuer. Was haben wir? Innen ein kleines Feuer, dessen Zweck wir nicht einmal kennen, das jedoch mit uns brennt, unsere Schritte begleitet, unsere Tausenden Schritte innerhalb der großen eitlen Mechanik, eine kleine Lichtung, die mitunter so leicht und bezaubernd scheint, und so zerbrechlich inmitten des großen leeren Chaos – das ist alles, was wir ha-ben, kindlich und durchsichtig, beinahe lächerlich inmitten der bleiernen Spur hochgerüsteter Kolosse des Mentals. Und was entdecken wir? Einen Hauch, ein Nichts, ein Körnchen Gold, das einen Augenblick aufblitzt, dann verschwindet. Es ist nichts Sensa-tionelles, das pure Gegenteil aller Sensationen, eine mikroskopische Genauigkeit ohne große Anstalten, vielleicht ist es nichts, und es ist alles. Es ist so fließend wie ein Mensch, als er sich das erste Mal über den ersten Fluß der Welt beugte und einem Grashalm zusah, der vorüberfloß, und danach ein zweiter – der woher kommt, wohin fließt? – ein flüchtiger Widerschein des Himmels und jener an-deren kleinen Kaskade in seinem Herzen. All dies aber ergibt ein Ganzes, und für einen Sekunden-bruchteil öffnet sich etwas wie ein Blick und durchdringt den Wassertropfen und den Grashalm mit Unendlichkeit, sein Woher-er-kommt und sein Wohin-er-geht, als wäre alles schon geschehen, als würde nichts jemals geschehen, nichts wirklich je vorüberziehen: eine ewige Begegnung des Himmelsrosa und des Herzschlags und des zarten Grashalms; andere Halme mögen vorbeiziehen und andere Schattierungen von Rosa und Blau und Schwarz vergehen, dabei ist es immer das gleiche, was sich begegnet, im gleichen Punkt, mit anderen Gesichtern und unter anderen Namen. Schließlich bleibt etwas von dieser Begegnung der Welten zurück, etwas wie ein gleicher Blick, der eine gleiche Geschichte betrachtet, und alles ist ruhig, alles äh-nelt sich und ist klar. Es ist nicht nötig, sich nach dem Morgen zu strecken, nicht nötig, dieses Rosa oder jenes Blau, diesen Grashalm oder jenen an-deren festzuhalten. Es gibt keine anderen Punkte in der Ferne, oder vielmehr: Es sind stets die gleichen Dinge, die sich kreuzen. In jedem Augenblick gibt es nur einen Punkt, und die ganze Welt geht durch ihn hindurch, mitsamt dem Sternbild des Schützen und des Beteigeuze22 und die-sem Grashalm. Alles ist darin enthalten, Zeitalter um Zeitalter. Es genügt, der Musik dieses Punktes zu lauschen, und jede andere Musik ist darin enthalten, es genügt, da zu sein, und alle gegenwärtigen, ver-gangenen und zukünftigen Wesen der Welt sind dort – es gibt nur eine Geschichte auf der Welt, nur einen Augenblick und ein einziges Wesen. Es ist hier, wir sind angekommen. Es wird nichts weiteres mehr ge-ben und nichts anderes, in dreitausend Jahren sowenig wie in Hunderttausenden.

Von hier an ist jedes Ding, einfach und absolut. Wir stehen an die-ser Kreuzung des Seins und betrachten die große Welt: sie ist vollkommen neu. Es gibt keine Hoffnung mehr auf etwas anderes, kein Warten, kein Bedau-ern, kein Verlangen – ist es nicht in dieser Sekunde gegenwärtig, wird es niemals gegenwärtig sein! Alles ist zugegen, die totale Totalität aller möglichen Zu-kunft. Die Wogen mögen aufbranden, die Gesichter und die Donnerschläge der Welt, die Gepflogen-heiten des Augenblicks, der Schrei des Passanten, die fliegende Spore; das große Kaleidoskop wendet sich und verstreut Wesen und Geschehnisse, Länder und ihre Herrscher und diese gegenwärtige Se-kunde, die Farben Blau, Rot und Gold, aber immer ist es der eine selbe Blick an der Kreuzung, die eine selbe Sekunde oder Sache unter anderen Farben, dieselben Wesen mit ihren Leiden unter weißer oder brauner Haut, in diesem Jahrhundert oder einem an-deren. Es gibt nichts Neues unter den Sternen, nichts zu erwarten! Diese einzige kleine Sekunde gilt es auszugraben, zu ergründen, zu vertiefen, sie total zu leben wie für Jahrhunderte um Jahrhunderte; so geschieht dieses einzige Etwas, dieses einzige We-sen, die Spore, das Staubkorn, dieses einzigartige Ereignis der Welt. Dann beginnt sich alles mit einem so umfassenden Sinn zu erfüllen, zu weiten, in alle Himmelsrichtungen der Welt zu verästeln, mit einer so vollkommenen Bedeutung, als berge dieses Ge-sicht, diese Zufallsbegegnung, das vorüberstrei-chende Blau oder Schwarz, das unerwartete Straucheln, die schwebende Feder eine Botschaft für uns – jedes Ding ist eine Botschaft, ein Zeichen un-serer Stellung und der Stellung des Ganzen. Nichts existiert mehr in Bezug auf diesen kleinen Schatten, in Bezug auf sein Bedürfnis, sein Verlangen, seine Erwartung von den Dingen oder den Wesen – alles ist leuchtend klar, alles durchstreift unsere Lichtung so, wie es ist, ohne Mehr oder Weniger, Gut oder Böse, Ablehnung oder Auswahl oder Vorzug oder Willen von und für was auch immer es sei: Was gibt es zu wollen, wo wir alles bereits für immer haben? Was fehlt? Dann beginnt jedes Ding seinen Schlüssel zu zeigen, seine reine Musik, seinen in-nersten Sinn, ohne Abzug oder Beifügung, ohne fal-sche Farbe für die Augen – durch die Wesen und Dinge betrachten wir die eine selbe ruhige Ewigkeit, die sich entfaltet. Wir stehen in unserem Punkt der Ewigkeit. Wir stehen in einem Blick der Wahrheit. Wir stehen an dieser Kreuzung des Seins, und diese Kreuzung scheint sich für einen Augenblick unzählig überallhin zu öffnen. Eine kleine Sekunde voller Fülle. Wo ist der Mangel, das Eitle, Fehlende? Wo das Große, Unendliche, Nützliche, Nutzlose? Wir sind angekommen, stehen mitten in der Sa-che. Es gibt keine Suche nach dem Rosenholz mehr im großen Weltenwald: alles besteht aus Rosenholz, und jedes Ding ist einzigartige Essenz. Glühendes Gold glänzt überall.

Und der Sucher hat seinen Finger auf die vierte goldene Regel des Übergangs gelegt: Jede Sekunde sei voll und hell.

*

Inwiefern aber helfen diese kleinen hellen Sekunden dabei, die Welt zu verändern? Vielleicht auf genau die gleiche Art, in der jene kleine abgelenkte Sekunde des Affen – von seinen momentanen Interessen abgelenkt – Geburt-shelferin des ersten Gedankens wurde? Denn eine ganze Welt beginnt, sich in diese Transparenz zu ergießen, aber in hauchartigen, unmerklichen Quan-ten, kleinen Tropfen von Nichts – in Wahrheit ist die “Nutzlosigkeit” der Dinge eine fürchterliche Falle, ein Fallstrick jeder Sekunde, das alte Versehen, das die Welt in seine dunkle falsche Sicht bannt. Jeden Augenblick muß sich der Sucher der alten Sichtweise erwehren, sich berichtigen und immer wieder auf frischer Tat ertappen. Es bedeutet eine lange Lehrzeit der neuen Sicht, man weiß nicht recht, wo es hingeht und wozu das alles gut ist. Wozu dient diese erste Reflexion des Affen, wenn nicht dazu, seine augenblickliche Gymnastik zu stören? Und doch wird der Sucher wie sich selbst zum Trotz darauf zurückgedrängt, er empfängt kleine Zeichen, Veranschaulichungen am praktischen Beispiel: man könnte meinen, daß jemand oder et-was gegenwärtig ist, das wacht und sich des klein-sten Sprunges in der alten Mechanik bemächtigt, um dort einen kleinen Tropfen Licht hindurchzuschmug-geln – ein Loch ist nötig, ein Sprung im Panzer, ein Versagen der alten Seinsgewohnheiten, um der neuen Welt die Gelegenheit zu lassen einzutreten! Und langsam aber sicher gibt der Sucher nach. Er läßt sich gehen, richtet sein Augenmerk auf die tausend alltäglichen Nichtigkeiten, Ereignisse ohne Sinn und Verstand, Begegnungen ohne Ziel, die mik-roskopische Vielzahl der “zusammenhanglosen” Dinge. Er bleibt in seinem Feuer des Seins, und er schaut, er betrachtet jedes Ding gleich einer erwar-tungsvollen Offenbarung, einer verborgenen Wahr-heit; und offenbart sich nichts, so beharrt er, beo-bachtet alles, nimmt alles im einzelnen auf: die un-nützen Schritte, die zwecklosen Umwege, die ver-schlossenen Gesichter, die grundlosen Unfälle. An-statt sich auf das Begehrte zu stürzen, beobachtet er es im Vorbeiziehen, wie es seiner Kurve folgt und sein Ziel erreicht; anstatt eine bestimmte unan-genehme Begegnung zu vermeiden, läßt er sie auf sich zukommen, heißt sie willkommen und läßt sie ihren kleinen Tropfen Wahrheit, ihre Botschaft unter der Lüge oder dem Chaos abgeben; anstatt vor dem Finsteren zu flüchten oder vor dem Übel, der Verneinung, die sich auf ihn stürzt, bleibt er ab-wartend, verhält sich ruhig, bis die Finsternis ihm ihre Lektion eröffnet, das Übel seinen Tropfen Gutes unter dem Gift und die Verneinung ihr größeres Ja, das seiner Stunde harrt. Und schließlich entdeckt er ein Ja überall, ein Gutes überall, einen Sinn überall, entdeckt alles aufwärts führend, alles in der großen Bedeutung verlaufend, unter dem Gut und dem Böse, dem Schwarz und dem Weiß, dem Nützlichen und dem Schädlichen. Nach und nach füllt sich die Welt mit Tausenden von kleinen Wahrheiten, die auf-flammen, hier oder dort oder anderswo, die die Leere füllen, das zwecklose Loch stopfen, eine Brücke zwischen den Dingen schlagen, das fehlende Stück des Puzzles an seinen Platz fallen lassen, und alles verbindet sich zu einer anhaltenden Botschaft – jeden Augenblick raunen die Dinge an unser Ohr, und die Bestimmung des Menschen spricht in einer schwebenden Taubenfeder.

Und wieder läßt uns dasselbe Phänomen innehalten. Wir entdecken keine ewigen und erhabenen Wahrheiten, keine Tri-umphe einer mentalen Geometrie, welche die Welt in einer Gleichung einfängt, keine Ansätze von Dog-men, keine Offenbarungen auf den Gipfeln der Si-nais dieser Welt, sondern kleine, winzig kleine Wahrheiten, lebendig, leicht, Lachfältchen der Wahr-heit am Wegesrand und in den verstreichenden Ba-nalitäten – eine mikroskopische Wahrheit, die an-steckend ist und die sich von Ort zu Ort überträgt und selbst die Steine zum Leuchten bringt: eine Wahrheit der Erde, eine Wahrheit der Materie. Ha-ben wir eine einzige dieser kleinen wunderlichen Lachfältchen erfaßt, so erfüllt uns das mehr als alle Erleuchtungen aller Weisen zusammengenommen, denn wir haben die Wahrheit offenen Auges und mit unseren Körpern erfaßt – vielleicht gerade, weil die höchste Wahrheit auch dort liegt, in einem winzigen Grashalm ebenso wie in der Totalität aller Zeiten.

Doch mehr als alle entschleierten Sinne entdeckt der Sucher ein noch größeres Mysterium, etwas so Unfaßbares und Si-cheres, daß es ihn jedesmal, wenn er vermeint, einen flüchtigen Anschein davon erfaßt zu haben, mit Herzklopfen erfüllt – etwas, das sehr tief ver-borgen liegt, das sich nicht fangen oder in Gedanken und mentale Codes fassen lassen will: eine höchste Chiffre, die alles dechiffriert, wie der wahre Schlüssel zur neuen Welt. Hinter all seinem Tasten und Straucheln, seinen Dutzenden täglichen Abwegen, seinen Rufen in der Nacht, spürt er etwas wie eine Hilfe – etwas antwortet ... Man muß lange im absoluten Dunkel gelaufen sein, um das Wunder dieser Antwort zu verstehen. Etwas antwortet, regt sich, versteht, weiß wohin wir gehen. Als sei die neue Welt bereits vollständig hier, fertig, unzählig verzeichnet unter unseren Schritten und unter allen Schritten aller Wesen und jedes Augenblicks – lang-sam aber sicher dringen wir in ihre Geographie ein. Und hierin besteht das wirkliche Zeichen der neuen Welt: sie ist hier, es gibt keine Entfernung mehr zu überbrücken, kein Warten im Gebet, kein Rufen durch die leeren Weiten des Raums, um eine nebulöse, verschleierte Gottheit zu verführen, keine Intensität der Konzentration, keine langen Jahre oder schweren Anstrengungen und eifrigen Wiederholun-gen, um eine taube Macht zu bewegen – es ist direkt hier, die augenblickliche Antwort, die Erhörung liegt in den Tatsachen, dem lebendigen Zeichen, der konkreten Veranschaulichung. Ein einfacher Ruf genügt. Ein kleiner Schrei reiner Wahrheit. Tatsäch-lich suchen wir nicht: wir werden gesucht; wir rufen in keiner Weise: wir werden gerufen. Und wir tasten solange umher, wie wir alles selber leisten wollen. Es gibt nichts zu tun! Es gibt alles zu ent-tun, um die neue Welt und ihre unerwarteten Flüsse und Wege unter unseren Schritten fließen zu lassen. Eine kleine Sekunde der Hingabe, und es dringt ein, ist gegenwärtig und lächelt. Alles ist bereits vorhanden! Auch der Affe, der sich eine solche Mühe zu machen glaubte, um diese kleine Schwingung zu erhaschen, die plötzlich durch Zufall einen Gedanken fängt, ohne zu wissen wie oder weshalb, betrat vielleicht in dem Augenblick, da seine Affenmechanik nicht wie gewohnt ablief, bereits eine neue mentale Geographie, die auf sein Versagen wartete und auf seine Hingabe an das Mysterium der neuen Welt. Wir bilden uns ein, daß alles unserem wunderbaren Gehirn entspringt, dabei sind wir lediglich das Werkzeug eines größeren Selbst, die Überträger eines nahenden Wunders, die Übermittler einer wachsenden Musik. Aber man muß die Musik fließen lassen, das Instrument muß klar sei.

Und es läßt sich ausmachen, stimmt die Welt nur ihr Instrument auf diese andere Musik ein, wird sie sich radikal verändert finden.

9 Das größere Selbst

Was ist dieses größere Selbst?

Tatsächlich ist das Selbst immer groß gewesen; genausogut könnte man fragen: “Was ist dieser größere Mond?” Da wir zuerst des ersten Viertels gewahr werden und dann des zweiten, sprechen wir aus unserer geozen-trischen Perspektive von einem zunehmenden Mond. Unsere Augen sehen die Dinge eins nach dem anderen, und entsprechend wachsen die Dinge für sie oder treten in Erscheinung, es sei denn, man ist so kindlich zu sagen, sie fallen vom Himmel oder werden vom Drachen verschlungen – wir glauben, die Wesen und Dinge “stürben”, so wie der Mond, hinweggetragen vom Drachen des Todes, dabei sind sie immer gegenwärtig, einzig vor unserer Sicht ver-borgen, und nichts stirbt oder verschwindet, sowenig wie etwas geboren wird oder erscheint, wie Voll-mond und Neumond. Etwas verfinstert unsere Sicht, das ist alles. Und behaupten wir, dieses mehr oder weniger große Selbst sei das Ergebnis unserer mehr oder weniger wunderbaren Fähigkeiten, so liegen wir damit ungefähr so richtig wie der Wilde, der zum er-sten Mal durch ein Teleskop blickt und behauptet, diese unbekannten Sterne und blinkenden Lichter am Rande des Alls seien das Ergebnis unserer In-strumente. Die Welt “erreicht” uns nicht, und nichts “erreicht” uns: Wir erreichen nach und nach eine vollständige Sicht. Und je voller diese Sicht, desto mehr nähert sich die Welt der Vollkommenheit, die ihr immer eigen war.

Was aber verfinstert unsere Sicht?

Ebensogut läßt sich fragen: was verfinstert die lineare Sicht des Tausendfüßlers? Oder was verfinstert den Lotos im Samen? Das Universum entsteht für unsere Augen graduell, unsere Augen aber sind in Wirklichkeit der höchste Blick, der sich vor sich selbst verbirgt, um durch die Ewigkeit der Zeiten und durch unsere Mil-lionen von Augen und unter unseren Millionen von Farben und Gesichtern die einzige Vollkommenheit zu erblicken, die er in einer ewigen weißen Sekunde sah. Die Welt ist eins und eine globale Ein-heit, selbst die Wissenschaftler sagen uns das und versuchen die Gleichung dieser Einheit zu finden. Und um diese Einheit wiederherzustellen, haben sie die Materie beinahe bis ins Unendliche hinaus di-vidiert und subdividiert. Sie haben ein Infinitesimal berührt und ein noch infinitesimaleres Infinitesimal, eine Unermeßlichkeit und eine noch größere Uner-meßlichkeit. Diese Einheit ist jedoch so wenig eine Summe oder eine Reduktion ins Mikroskopische, wie die Ewigkeit eine Anzahl von Jahren bis ins Un-endliche oder die Unermeßlichkeit eine Anzahl von Kilometern plus einem weiteren Kilometer ist. Die Einheit ist vollkommen gegenwärtig in jedem Punkt des Raumes und in jedem Bruchteil der Zeit genauso wie in allen Unendlichkeiten und Uner-meßlichkeiten zusammengenommen. Jeder Punkt enthält das Ganze, jede Sekunde ist eine Ewigkeit, die sich selbst betrachtet. Und wir, die wir uns an diesem Punkt und in dieser Sekunde befinden, wir sind unendlich und vollständig, und alle Erden, alle Galaxien durchlaufen unseren zentralen Punkt, ein ewiger Lotos leuchtet in unserem Herzen – nur erk-ennen wir dies nicht, wir erkennen es nach und nach. Und es genügt nicht, es in unserem Kopf zu erkennen oder in unserem Herzen: in unserem Kör-per müssen wir es erkennen. Dann wird das Wunder wahrhaftig vollständig sein, und der ewige Lotos von den Gipfeln des Geistes wird für immer in unserer Materie und in jeder Sekunde der Zeit leuchten.

Diese Vollkommen-heit, diese Einheit der Substanz und des Bewußt-seins und des Seins gleicht dem goldenen Welt-gedächtnis, ist das verschwommene Abbild, das jedes Wesen und jedes Ding zu erhaschen und zu ergreifen sucht, der Ansporn des großen Welten-dursts, der Motor ihres ungeheuren Bedürfnisses zu sein, zu umfassen und zu wachsen, gleich einer hartnäckigen Erinnerung, welche die Wesen und die Dinge und selbst die Galaxien in eine tödliche Umarmung wirft, die eine Umarmung der Liebe sein möchte, die alles verstehen möchte, alles in ihrem Umfang enthalten und besitzen und umfassen möchte. Jedes Ding bemüht sich tastend darum: die Seeanemone mit ihren Tentakeln, das Atom in seinem Gravitationsfeld und der Mensch in seiner Intelligenz oder in seinem Herzen. Unser Durst aber bleibt ungestillt, bis er nicht alles ergriffen, alles um-schlungen hat in seinem Wesen und bis keine Par-zelle des Universums mehr verbleibt, die nicht zu unserer Substanz geworden ist, denn in Wahrheit ist alles bereits seit jeher unsere Substanz und unser Wesen und unser eigenes Gesicht unter Millionen von Lächeln oder Leiden, die ihr Lächeln suchen – die nicht wirklich lächeln können, bis sie nicht das gefunden haben, was sie seit jeher gewesen sind. Es gibt kein anderes Leiden auf der Welt, keinen an-deren Mangel, keine andere Kluft, und solange dieses Bedürfnis nicht gestillt ist, gehen wir und ge-hen wir, und die Atome fahren fort, in ihrem Wirbeln leichtere und reinere Materie zu schaffen, die Seeanemonen fahren fort, nach ihrer Beute zu greifen, so wie die Menschen damit, ihre Schätze zu zählen, zu rauben oder zu lieben – und dennoch ist allein Eines liebenswert, und solange sie nicht alles lieben, lieben sie niemals wirklich und besitzen nichts als ihren Schatten.

Dieses Selbst, dieses große Selbst, das wir sind, warum hat es sich in Mil-lionen von Wesen und Dingen zerteilt, vervielfältigt und atomisiert? Warum dieser lange Weg zur Selbsterkenntnis zweiten Grades? Dabei hat es sich gar nicht “zerteilt”, es hat sich nie in Sternenstaub aufgelöst, der durch Lichtjahre getrennt ist, in Be-wußtseinsschwingungen, die durch eine Hornhaut, eine Rinde oder einen Panzer des Wesens getrennt sind, in kleine Menschen, isoliert durch eine weiße oder schwarze Haut und einige unbestimmte Ge-danken. Nichts war wirklich je getrennt, und unsere Sterne vereinen sich in einem einzigen kleinen Stern, der im Herzen der Menschen und in jedem Ding, jedem Kiesel des Universums leuchtet. Wie wäre es uns jemals möglich, die Welt zu erkennen, wenn wir nicht schon die Welt wären? Man kann nur das erkennen, was man selber ist, und alles, was wir nicht sind, ist schlicht und einfach inexistent oder un-sichtbar für unsere Augen. Der morgige Tag läßt sich nur erahnen, und diesen Unfall, den zehntausend Kilometer entfernten Schmerz oder Gedanken, den im freien Feld verborgenen Schatz, dieses so win-zige Leben unter einem Blatt vor unseren Augen können wir nur verspüren, weil wir damit verbunden und eins sind und alles schon zugegen ist, augen-blicklich und ohne Trennung, morgen und über-morgen, hier und dort, vor unseren Augen und außerhalb unserer Augen – es gibt keine Trennung, es gibt einzig und allein Augen, die schlecht sehen. Eine Summe von Unsichtbarem wird nach und nach sichtbar, vom Protoplasma zur Raupe und weiter zum Menschen, und wir erschöpfen bei weitem noch nicht die ganze Palette. Vielleicht werden wir morgen erkennen, daß die Distanz zwischen diesem Land und jenem anderen, diesem Wesen und jenem an-deren, zwischen heute und morgen so brüchig und täuschend ist wie das Grasbüschel, das eine Raupe im gleichen Feld von einer anderen trennt. Und wir werden die Mauern von Raum und Zeit so über-schreiten, wie wir heute das Grasbüschel der Raupe überschreiten.

Innerhalb dieser großen unteilbaren Einheit, dieser Weltenfülle, dieses globalen Selbst haben wir uns kleine Stück-chen von Raum und Zeit ausgestanzt, Partikel von Ich und Nicht-Ich, ein Proton, ein Elektron, ein Mehr und ein Weniger untrennbar miteinander verwoben, Gut und Böse, Tag und Nacht verkettet, das eine unvollständig ohne das andere, niemals vollständig miteinander, denn alle Nächte und alle Tage zusammen ergeben niemals die Fülle eines Tages, die Addition aller Mehr und aller Weniger, alles Guten und Bösen, aller Ich und Nicht-Ich ergibt keine volle Schönheit, kein einziges Wesen. Und wir haben die Einheit durch eine Menge ersetzt, die Liebe durch Liebschaften, den Rhythmus durch Akkorde, die sich brechen und wieder verbinden, dabei ist un-sere Verschmelzung nie mehr als eine Summe, und das Leben wird aus dem Tod geboren, als erforderte es ohne Ende die Zerstörung, um zu sein, die Tren-nung, um sich wiederzuverbinden und noch einmal den Anschein von Einheit vorzutäuschen, der nichts ist als die Summe einer gleichen Trennung, eines gleichen Guten und Bösen, eines Mehr oder Weni-ger, eines Selbst, das eine Million vergangener Selbste ist, nicht aber ein einziger Tropfen der Fülle. Wir haben einen kleinen Kreis im großen unteilbaren Leben gezogen, eine Parzelle des Seins in einer Ge-latinekapsel eingeschlossen, einen Ton aus dem großen Rhythmus unter einem animalischen oder menschlichen Panzer ausgesondert und einige harte und schneidende Gedanken aus dem großen Re-genbogenstrom herausgegriffen, dessen Strahlen-fäden sich verfangen haben im Gestrüpp der Welt. Wir haben den großen Blick im Herzen der Dinge in eine Million unzertrennliche Facetten zerteilt. Und da wir nun nichts mehr sehen konnten von der großen geharnischten, fragmentierten und synkopierten Welt, haben wir Augen erfunden, um das zu sehen, was wir entfernt haben, Ohren erfunden, um das zu hören, was überall flüstert, Finger erfunden, um ein paar Fragmente einer vollen Schönheit zu berühren, die wir verstümmelt haben, und den Durst, das Ver-langen, den Hunger für all das, was wir nicht mehr sind – Tausende und Abertausende von Antennen, um den einzigen Ton zu erhaschen, der unsere Her-zen erfüllt. Und da wir nichts ohne diese künstlichen Mittel erfassen konnten, haben wir geglaubt, daß die Welt ohne diese Augen, diese Sinne, diese grauen Zellen – diese ach so grauen Zellen – unerreichbar wäre, daß sie der Information auf unseren kleinen Bildschirmen entspräche, und vielleicht sogar, daß wir die Erfinder einiger gebrochener Wellen seien, die unsere Antennen streifen. Wir haben “ich”, “die anderen” und wieder “ich” gesagt und immerfort “ich” über Jahrhunderte und Jahrhunderte hinweg, unter einer schwarzen oder gelben Haut, unter einem Panzer in Athen oder Theben, unter den Ruinen hier oder dort, unter denselben alten Ruinen des kleinen Ichs, die sterben, ohne zu verstehen, die in Bruchteilen leben, die genießen, ohne jemals wirk-lich zu genießen, und die wieder und wieder zurück-kehren, um zu verstehen, was sie nicht verstanden haben, und vielleicht eines Tages die erfüllte Stätte des großen Selbst zu schaffen. Und wenn wir diese Fülle berühren, wird sich unser Gutes nicht mehr mit unserem Bösen, unser Mehr mit unserem Weniger streiten, denn alles wird unser Gutes sein und in derselben Richtung fließen; unsere Nächte werden nicht mehr das Gegenteil unserer Tage sein, unsere Lieben kein Bruchteil aller Lieben, unsere kleinen Töne kein herzzerreißender Schrei des großen Tons, denn mit unseren Millionen von Instrumenten wird es nur noch eine Musik geben und nur noch eine Liebe unter einer Million Gesichtern und nur noch einen großen Tag mit seinen kühlen Schatten und Regen-bogenkaskaden unter dem großen Weltenbaum. Dann wird es vielleicht nicht mehr notwendig sein zu sterben, weil wir das Geheimnis des Lebens gefun-den haben, das aus seiner eigenen Freude wieder-geboren wird – man stirbt nur aus Mangel an Freude und um eine immer größere Freude zu finden.

*

Dieses Ganze, dieses große Ganze, hatten die Weisen in ihren Vi-sionen, einige wenige Dichter und Denker gesehen: “All das ist unsterblich Brahman und nichts anderes. Brahman ist vor uns, Brahman ist hinter uns, im Süden und im Norden und unter uns und über uns; er erstreckt sich überall. All das ist Brahman allein, dieses ganze großartige Universum23. Du bist der Mann, und Du bist die Frau; Du bist der Junge und das Mädchen, und Du bist der verhärmte Greis, der über seinen Stab gebeugt dahingeht. Du bist der blaue Vogel und der grüne und jener mit den glutroten Augen24. Du bist Das, O Svetaketu25.”

Dieses große Ganze, das wir sind und das auf den Gipfeln des Bewußt-seins leuchtet, hinterließ einige hieroglyphenartige Spuren auf den Mauern von Theben und nährte die Eingeweihten hier und dort – mitunter betraten wir ein weißes Lodern über den Welten, oder wir lösten das kleine Ich in einem Blitz auf und tauchten in ein kosmisches Bewußtsein ... Und nichts von alledem hat je etwas an der Welt geändert. Noch immer hiel-ten wir nicht den Leitfaden, der jene Vision mit dieser Erde verbinden und eine neue Welt mit einem neuen Blick schaffen würde. Unsere Wahrheiten blieben zerbrechlich, die Erde blieb rebellisch – und sie hatte Recht. Warum sollte sie sich den höheren Erleuch-tungen unterwerfen, wenn dieses Licht nicht ihre Ma-terie berührt, wenn sie nicht selber sieht, nicht selber erleuchtet wird? In Wahrheit ist die Weisheit sehr weise, und die Finsternis der Erde ist sowenig eine Negation des Geistes, wie die Nacht eine Negation des Tages ist; sie ist im Gegenteil eine Erwartung und ein Ruf nach Licht, und solange wir das Licht nicht dort rufen, besteht für es kein Grund, sich von seinen Höhen herabzubemühen. Solange wir unsere Nachtseite nicht ihrer Sonne zuwenden, wird sie nicht mit Licht erfüllt werden. Suchen wir die solare Totalität auf den Gipfeln des Mentals, erhalten wir die Totalität auch dort, in einem netten Ge-danken; suchen wir sie im Herzen, erhalten wir sie im Herzen, in einer zarten Regung – suchen wir sie in der Materie und in jedem Augenblick, erhalten wir dieselbe Totalität in der Materie und in jedem Augenblick der Materie. Man muß wissen, wo man sucht – verständlicherweise wird man das Licht nicht da finden, wo man es nicht sucht. Und schließlich entdecken wir dann vielleicht, daß die Erde gar nicht so finster ist: unser Blick war verfinstert, unser Man-gel an Sein bewirkte den Mangel der Dinge. Der Widerstand der Erde ist unser eigener Widerstand – und das Versprechen einer soliden Wahrheit: ein un-zähliges Ausbrechen von Regenbögen in verkörper-ten Myriaden anstelle eines leeren Leuchtens auf den Höhen des Geistes.

Der Sucher der neuen Welt hat seine Suche allerdings nicht gerad-linig verfolgt, er hat seine Türen nicht verschlossen, die Materie nicht abgelehnt, seine Seele nicht gek-nebelt. Er trug seine Suche überall mit sich, auf der Straße und auf der Rolltreppe, in der Menge und in der leeren Finsternis der Millionen Gesten für nichts. Er hat jedes Ödland mit Sein belebt, sein Feuer in all den Eitelkeiten entzündet und sein Sehnen an der Nichtigkeit genährt, die ihn erdrückte. Er war keine kleine zugespitzte Konzentration, die sich direkt in höchste Höhen begab, um im sanften weißen Frieden des Geistes zu entschlafen; er war dieses Chaos und dieser Aufruhr und dieser Umweg nach rechts und links und im Nichts; er zog alles in sein Netz – jedes Auf und jedes Ab, jedes Schwarz, jedes weniger Schwarz und jedes sogenannte Weiß, jeden Fall und alle Rückfälle – er hielt alles in seinem kleinen Umfeld mit einem Feuer im Zentrum, einem Verlangen nach Wahrheit in dem ganzen Chaos, einem Hilferuf im Nichts. Er war ein verwickelter Kreislauf, ein endlos gewundener Weg, von dem er nichts weiter wußte, als daß er sein Feuer dort und auch dort in sich trug – sein Feuer für nichts und alles. Und er erwartete nichts mehr von nichts und niemand, war einzig eine Sanftheit des Brennens, als sei das Feuer ein Endzweck in sich, das Sein in all der Leere, die einzige Anwesenheit in dieser unermeßlichen Abwesenheit. Schließlich wurde es sogar etwas wie eine ruhige Liebe für nichts, für alles, hier und dort. Und nach und nach begann sich das Nichts zu entzünden, die Leere fing Feuer unter seinem Blick, die Nichtigkeit belebte sich mit einer ähnlichen Glut. Und alles begann zu antworten; die Welt begann überall aufzuleben, überall zu leuchten, in der Schwärze und in der Weiße, in der Höhe und in der Tiefe. Es glich einer Geburt überall, aber un-endlich klein, mikroskopisch: ein Regen kleiner Wahrheiten, die hier und dort tanzten, in den Tatsa-chen, in den Gesten, den Dingen und den Begeg-nungen – es schien sogar, als kämen sie ihm ent-gegen. Eine seltsame Mehrung, eine Art goldener Ansteckung.

Und langsam trat er ein in ein Ganzes – ein merkwürdiges Ganzes al-lerdings. Oh, es hatte nichts von einem kosmischen, transzendenten oder eklatanten Bewußtsein – und war doch wie Millionen kleiner goldener Eklats, flüchtig, ungreifbar, beinahe spöttisch – vielleicht sollte man sagen, ein mikrokosmisches Bewußtsein? Und warm: eine solche Süße plötzlicher Wiederbe-gegnung, ein Erblühen des Wiedererkennens, ein Schwall unbegreiflicher Zärtlichkeit, als lebte und vi-brierte es und antwortete in allen Ecken und Enden und Richtungen. Entstand nun eine Frage, ein Zweifel, eine Unsicherheit über jemand oder etwas, ein Problem der Handlung, eine Besorgnis darüber, was zu tun oder nicht zu tun sei, so schien es selt-samerweise, als empfinge er die Antwort in le-bendigen Tatsachen – keine Erleuchtungen, keine Inspirationen, keine Offenbarungen oder Ge-danken, nichts von alledem: eine materielle Antwort in den Umständen, als schickte sich die Erde, das Leben selbst an zu antworten, als nähmen die Um-stände selbst ihn an der Hand, um ihm zu sagen: Siehst du! Und keine großen Umstände, keine sen-sationellen Blitze: winzige Tatsachen, während man von einer Straßenseite auf die andere überwech-selte. Plötzlich kam die Sache zu ihm, die entspre-chende Person, die Begegnung, das Geld, das Buch, das unerwartete Ereignis – die lebendige Ant-wort. Oder im Gegenteil, während er so sehr auf diese Neuigkeit hoffte (sofern er noch nicht von der Krankheit der Hoffnung geheilt war), während er auf diese Abmachung, den ruhigen Frieden, die klare Lösung wartete, stürzte er unversehens in ein noch viel größeres Chaos, als gerate alles über Kreuz – die Menschen, Dinge, Tatsachen –, oder er wurde krank, fiel einem “Unfall” zum Opfer, öffnete erneut die Tür einer alten Schwäche und schien ein weiteres Mal den alten Kreislauf des Leidens wied-eraufzunehmen. Bis er zwei Stunden oder zwei Tage oder zwei Monate später erkannte, daß diese Widrigkeit genau das Notwendige gewesen war, um ihn auf diesem Umweg zu einem weiteren Ziel zu führen, das er nicht vorhergesehen hatte; daß diese Krankheit seine Substanz läuterte, einen falschen Kurs unterbrach und ihn erleichtert auf den Sonnen-weg zurückführte; daß diese Falle alte Schlupfwinkel enthüllte und sein Herz klärte; daß diese ärgerliche Begegnung von solch vollkommener Exaktheit war und ein ganzes Netz von neuen Möglichkeiten oder zu bezwingenden Unmöglichkeiten aus der Taufe hob; und daß alles minutiös seine Kraft, seine Er-weiterung, seine äußerste Schnelligkeit durch Tausende von Umwegen vorbereitete. Alles bere-itete ihn auf alles vor. So beginnt er in eine Folge kleiner unvorstellbarer Wunder, seltsamer Zufälle, beunruhigender Zusammentreffen einzutreten ... als wüßte wahrhaftig alles, wüßte jedes Ding, was es zu tun habe, und ginge direkt auf sein mikroskopisches Ziel zu, inmitten von Millionen Passanten und Bege-benheiten. Dem Sucher beginnt es unglaublich zu erscheinen, er zuckt mit den Achseln und wendet sich ab, dann öffnet er ein Auge, schließlich ein zweites und bezweifelt seine Verwunderung. Alles ist von einer solch mikroskopischen Exaktheit, einer solch fabelhaften Präzision inmitten dieses gigan-tischen Geflechts der Leben und Dinge und Um-stände, daß es einfach nicht möglich ist – wie ein Ausbruch totalen Wissens, das mit einem Schlag diese Ameise auf der Hauptstraße ebenso umfaßt wie die Tausenden von Passanten und all ihre Bewegungen, all die besonderen Umstände ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um dieses einzige Zusammentreffen herbeizuführen, diese unglaubliche kleine richtige Sekunde, in der alles stimmt, übereinstimmt, unabänderlicherweise ist und die einzige Antwort auf eine einzige Frage gibt.

Dann beginnen sich die Tatsachen zu wiederholen, die “Zufälle” häufen sich – der Zufall enthüllt nach und nach ein unzäh-liges Lächeln; oder vielleicht ein anderes Selbst, ein großes Selbst, das seine Totalität ebenso kennt wie jedes Teil seiner Totalität und jede Sekunde seiner Welt, so wie unser Körper das kleinste Beben seiner Zellen kennt, die vorbeisurrende Fliege und den Rhythmus seines Herzens. Nun beginnt der Sucher mit weit offenen Augen in ein unzähliges Erstaunen einzutreten. Die Welt ist ein einziger Körper. Die Erde ein einziges Bewußtsein in Bewegung. Ein Körper allerdings, dessen Bewußtsein nicht um einige graue Zellen im Dachgeschoß zentriert ist: ein unzähliges, überall zentriertes Bewußtsein und von solcher Totalität in der kleinsten ephemeren Zelle wie in der Geste, welche die Bestimmung der Na-tionen umstürzen wird. In jedem Punkt antwortet Bewußtsein auf Bewußtsein. Der Sucher hat die kleinen zugespitzten Wahrheiten des Mentals hinter sich gelassen, die geometrischen und dogmatischen Linien des Gedankens: er betritt eine un-aussprechliche Fülle der Sicht, eine volle Wahrheit, in der jeder Teil seinen Sinn und jede Sekunde ihr Lächeln hat, jede Finsternis ihr Licht, jede Härte ihre wartende Süße. Tastend entdeckt er “den Honig-brunnen unter dem Felsen26.” Jeder Fall ist eine Stufe der Erweiterung, jeder Schritt ein Aufbrechen der unaufhaltsamen Blüte, jede Widrigkeit ein Hebel der Zukunft. Der Fehler ist ein Sprung in unserem Rüstzeug, durch den eine Flamme reiner Liebe scheint, die alles versteht.

10 Harmonie

Wir mögen versucht sein zu behaupten, dies seien Phantasien und unglaubwürdige Wunder. Tatsächlich jedoch verhält es sich damit sehr einfach.

Es gibt keine Wunder, es gibt nur eine unermeßliche Harmonie, welche die Welt mit einer Genauigkeit und einem Feingefühl regiert, die sich in der Begegnung der Atome ebenso zeigen wie in der Frühlingsblüte, der Rückkehr des Vogelzugs oder der Begegnung der Menschen und der Entfaltung der Ereignisse an die-sem Kreuzweg der Zeiten. Es gibt eine uner-meßliche, einzige Bewegung, von der wir uns getrennt glaubten, weil wir unsere kleinen mentalen Wachtürme an den Grenzen unserer Erkenntnis er-richteten und schwarz-gestrichelte Linien über die anmutigen Erdenhügel legten, so wie andere ihre Jagdgründe absteckten und die Möwen ihre weißen Archipel auf dem schaumbedeckten Meer. Und weil wir uns diese oder andere Scheuklappen aufsetzten, um uns vor der beängstigenden Größe unserer Er-den zu schützen, diese Zwergengrenzen errichteten, um unseren kleinen Acker zu bestellen, diese kleine Energiewelle in unseren Segeln fingen, diese gold-enen (oder weniger goldenen) Leuchtkäfer in den Netzen unserer Intelligenz ergriffen, diesen kleinen Ton einer zu großen Harmonie erhaschten, dachten wir, die Welt folge unseren Gesetzen oder wenig-stens unsere Gesetze der unfehlbaren Weisheit un-serer Instrumente und Berechnungen, und daß alles, was über diese Quadrierung der Welt hinausging oder ihr durch die Maschen schlüpfte, undenkbar sei oder nicht existent, “wunderbar” oder halluzina-torisch. Und damit fingen wir uns in unserer eigenen Falle. Und dank einer großzügigen Zuvorkommen-heit – die vielleicht eines der mächtigsten Mysterien bleibt, die es zu erhellen gilt – begann die Welt, un-seren Entwürfen gelehrter Kinder zu ähneln, began-nen unsere Krankheiten, den ärztlichen Fieberkurven zu folgen, unsere Körper der verschriebenen Medizin, unsere Leben dem vorgeschriebenen Gleis zwischen zwei Mauern der Unmöglichkeit, und selbst unsere Ereignisse beugten sich unseren Statistiken und Hypothesen über sie. Tatsächlich wurde unsere Welt von einem Ende zum anderen und vom Scheitel bis zur Sohle mentalisiert: der Gedanke ist der letzte Magier auf der chronologischen Liste, nach dem mongolischen Schamanen, den Okkultisten von Theben oder dem Hexenmeister der Bantus. Bleibt die Frage, ob unsere Magie besser ist als die übri-gen – aber Magie ist es eine, und wir sind noch nicht ihrer ganzen Macht gewahr. In Wirklichkeit gibt es aber nur eine Macht, die sich eines Amuletts eben-sogut zu bedienen weiß wie eines tantrischen Yantra27, einer Einstimmung sak-raler Gesänge oder einer Differentialgleichung zweiten Grades – selbst unseres vergeblichen kleinen Gedankens. Was wollen wir? Das ist die Frage.

Wir manipulieren das Denken egal wie; im allgemeinen manipulieren wir es nicht einmal: es manipuliert uns. Wir unterliegen einer Invasion von Tausenden nutzloser Gedanken, die unser inneres Reich kreuz und quer durchstreifen, unwillkürlich, völlig nichtig, zehnmal, hundertmal in der Zeit, während wir die Straße hi-nabgelaufen sind oder eine Treppe erklimmen. Es handelt sich kaum um Gedanken sondern um einen Gedankenstrom, der sich daran gewöhnt hat, einigen unserer Konvolutionen, Zirkumvolutionen und Windungen zu folgen, und der sich entsprechend unserer Neigungen, unseres Geschmacks, unserer Erblast, unseres sozialen Umfelds in mehr oder weniger eintönige oder schillernde Farben kleidet und sich in den jeweils bevorzugten oder gewohnten Worten einer blauen oder grauen Philosophie, dieser oder einer anderen Sprache ausdrückt. Dabei ist es der gleiche Strom, der überall fließt: die mentale Mechanik dreht, wendet und knetet fortwährend eine gleiche Schicht oder einen gleichen Intensitätsgrad des allgemeinen Stroms. Diese Tätigkeit verschleiert alles, umhüllt alles, trübt alles durch ihre schwere und haftende Wolke. Der Sucher der neuen Welt aber ist einen Schritt hinter diese Mechanik getreten, er hat die kleine stille Lichtung im Hintergrund ent-deckt, hat ein Feuer der Not im Zentrum seines We-sens entfacht und trägt dieses Feuer in sich, wohin er auch geht. Und alles ist für ihn anders. Er beginnt, die mentale Funktionsweise klar zu sehen, lüftet den Nebel in seiner kleinen Lichtung; er wohnt dem großen Spiel bei, entdeckt Schritt für Schritt die Ge-heimnisse der mentalen Magie, die man vielleicht mentale Illusion nennen sollte; wenn es aber eine Illusion ist, dann eine sehr wirkungsvolle. Und die verschiedensten Phänomene beginnen, sich seiner Beobachtung zu eröffnen, ein bißchen durcheinander zuerst, in wiederholten kleinen Licht-schüben, die schließlich ein zusammenhängendes Bild ergeben. Je klarer er sieht, desto stärker seine Einflußnahme.

Und die Klarheit nimmt langsam zu. Er sucht allerdings nicht, klar zu sehen, wenn man so sagen will, denn “suchen” heißt wiederum, Gefahr zu laufen, die alten Abläufe anzu-kurbeln, die Mechanik mit der Mechanik zu bekämpfen, die rechte Hand mit der linken. Darüber hinaus wissen wir doch gar nicht, was es zu suchen oder zu finden gilt! Beginnen wir mit einer “Idee”, so begeben wir uns ausschließlich in Richtung dieser Idee, ein wenig wie der Arzt, der sich (und seinen Patienten) in seine Diagnose einsperrt: wir errichten im voraus Mauern, stellen Fallen für etwas, das nicht zu fangen ist – “das” gibt sich entweder selbst oder läßt es bleiben, das ist alles. Der Sucher (vielleicht sollten wir einfach sagen, der nach Geburt Suchende) kümmert sich nicht darum, die Mechanik anhalten zu wollen: er kümmert sich einzig und allein um sein Feuer. Er entfacht sein Feuer. Er konzentri-ert sich auf das Bedürfnis im Grunde, auf den herzz-erreißenden Ruf nach Sein innerhalb all des Treibens, diesen schon schmerzenden Durst in der Wüste der vorüberziehenden Dinge und Wesen, der Tage, die vergehen, als existierten sie nicht. Und sein Feuer brennt und wächst. Und je mehr es wächst, desto mehr verzehrt es die Mechanik, ver-treibt die Wolken, die eitlen Gedanken, macht innen und ringsumher reinen Tisch. Die kleine Lichtung entsteht. Der kleine klare Strom beginnt zu fließen, der hinter seiner Stirn zu schwingen scheint, seinen Nacken anspannt, ihn mitunter sogar bedrängt – dann lernt er, ihn frei fließen zu lassen, den Über-gang nicht durch seinen Widerstand zu hemmen, sich geschmeidig und durchlässig zu machen. Er läßt sich vom Strom erfüllen, von der kleinen klaren Schwingung, die weiter und weiter klingt und ohne Unterlaß zu fließen scheint, gleich einer stummen Weise, die ihn begleitet, gleich einem Rhythmus, der zunimmt und ohne Ende schwingt, gleich zwei schwerelosen Vogelschwingen, die in seinem inner-sten Azur auf- und niedergehen und ihn überall stützen, etwas wie die Sanftmut und Süße eines ru-higen Blickes bilden, als träte das Leben zurück, weitete sich und versänke in einer klaren Unendlich-keit, in der allein dieser Rhythmus schwingt, allein diese sanfte, leichte und transparente Kadenz. Und alles beginnt, außerordentlich einfach zu wer-den.

In dieser inneren Stille – eine Stille, die nicht leer ist, nicht einfach Ab-wesenheit von Lärm bedeutet, kein tonloses kaltes Weiß, sondern die sanfte Weite der offenen See, das Erfülltsein durch eine ihm innewohnende Süße, die weder Worte noch Gedanken noch Verständnis benötigt: sie ist das unmittelbare Verständnis, das Umfassen von allem, das augenblickliche und abso-lute Hier. Was also fehlt? Der Sucher, der Geborene, beginnt das Spiel des Mentals zu durchschauen. Vor allem sieht er, daß seine tausendundeins Gedanken, seien sie grau oder blau oder hell, wirklich keinem Gehirn entstammen, sondern sozusagen in der Luft schweben, daß es Ströme, Schwingungen sind, die sich in unseren Köpfen in Gedanken umsetzen, so-bald wir ihrer habhaft werden, wie die Wellen, die sich in unseren Fernsehern in Musik, Worte oder Bilder umsetzen, und daß alles sich regt, bewegt und auf unterschiedlichen Ebenen überschlägt, universell über unsere buntgescheckten Grenzen hinwegfließt, auf englisch, französisch oder deutsch ankommt, gelb, rot oder blau gefärbt ist, gemäß der Höhe un-serer Antennen, rhythmisch gebrochen, zerstreut als mikroskopischer Gedankenpuder, entsprechend un-serer Empfangsebene, musikalisch, knirschend, un-geordnet, je nach unserer Klarheit oder unserem Durcheinander. Er, der Sucher, der Lauschende hingegen, versucht nicht, diesen oder jenen Kanal einzustellen, die Wählscheibe seiner Mechanik zu betätigen, um dieses oder jenes zu erhaschen – er lauscht der Unendlichkeit und richtet seine Aufmerk-samkeit auf die kleine Flamme in seinem Zentrum, die so sanft ist und so erfüllt, frei von Störungen oder Wollen. Es verlangt ihn nur nach einem: daß die ihn erfüllende Flamme brennt und immer weiter brennt, daß dieser Fluß weiter und weiter durch seine Lich-tung fließt, wortlos, ohne mentale Bedeutung und doch so voller Bedeutungen, als sei er die Quelle al-ler Bedeutungen. Und manchmal, ohne daß er es erwartet oder will, nimmt etwas seine Aufmerksam-keit gefangen: eine kleine Schwingung, ein kleiner Ton, der auf seine stillen Wasser fällt und einen gan-zen Schweif von Wellen auslöst. Neigt er sich ein wenig, um dem nachzugehen, wendet er sich die-sem Wirbel zu (oder dem leisen Ton, dem rufenden Punkt, dem Sprung in der Weite seines Wesens), so entsteht ein Gedanke, ein Gefühl, ein Bild, eine Wahrnehmung – als gäbe es keine Grenze zwischen dieser oder jener anderen Art der Umsetzung: Es ist einfach etwas, das schwingt, ein mehr oder weniger klarer Rhythmus, ein mehr oder weniger reines Licht, das sich in ihm entzündet, ein Schatten, eine Schwere, ein Unbehagen, manchmal ein sprühender Funkenregen, tanzend, leicht wie Sonnenstaub auf dem Meer, ein Ausbruch von Zärtlichkeit, ein flüchtiges Lächeln – mitunter ein großer, tiefer Rhythmus, der aus dem Grunde der Zeiten aufzusteigen scheint, unermeßlich, ergreifend, ewig, und der ein unverkennbares heiliges Weltenlied ent-stehen läßt. Und es fließt mühelos, es erfordert kein Denken oder Wollen sondern will einzig sein und abermals sein und im Einklang mit der einzigen kleinen Flamme brennen, die dem Weltenfeuer gleicht. Und wenn es notwendig ist, klopft für einen Augenblick ein leiser Ton an sein Fenster, und es ist exakt der richtige Gedanke, der Anstoß für die beab-sichtigte Handlung, der Umweg nach rechts oder links, der einen unerwarteten Weg und eine ganze Folge neuer Antworten und Zusammenhänge eröff-net. Dann versteht der Sucher, der brennend Suchende, auf intimste Weise die Invokation jenes fünf- oder sechstausend Jahre alten vedischen Sängers: “O Feuer, laß in uns den richtigen Ge-danken entstehen, der aus Dir entspringt28!”

Falsche Gedanken sind allerdings ebenfalls eine erstaunliche Quelle von Entdeckungen. Und offen gestanden erkennt man mehr und mehr, daß diese Unterscheidungen jeden Sinnes bar sind: denn was ist letztlich nicht unser Wohl, was wendet sich schließlich nicht in jedem Falle zu einem größeren Wohl? Die falschen Wege sind Teil des richtigen und bereiten einen weiteren Weg vor, eine vollständigere Vision unseres unteilbaren Reiches. Die einzige Falschheit besteht darin, nicht zu sehen, besteht in dem ungeheuren Grau-in-Grau, der terra incognita unserer beschränkten Karten – und wir haben die Landkarten erheblich beschränkt. Wir haben unsere Gedanken, Gefühle, Reaktionen, Wünsche auf den kleinen Rhein mit seinen Burgruinen und Festungen zurück-geführt, der unser Land durchfließt, auf unsere Elbe, deren Ufer so ausgezeichnet befestigt sind. Und ta-tsächlich haben sie sich angewöhnt, durch diese Kanäle zu fließen, hierhin und dorthin zu sprudeln, etwas weiter unten aufzuschäumen oder sich in un-sere Sümpfe zu ergießen. Das ist eine sehr alte Ge-wohnheit, die nicht einmal von uns oder vom Affen herrührt, oder eine, die kaum weiter zurückreicht als bis zu unserer Schule, den Eltern oder der Zeitung von gestern. Wir haben uns Wege durch die Wildnis gebahnt, und in diesen verläuft nun der Strom – er folgt ihnen absolut hartnäckig. Für den von der Mechanik befreiten Sucher werden die Windungen und Austrittspunkte deutlicher sichtbar. Er beginnt verschiedene Ebenen seines Wesens, verschiedene kanalisierende Zentren zu unterscheiden, und wenn der Strom durch den Solarplexus oder unterhalb des Kehlkopfs fließt, sind die Reaktionen und Auswirkungen verschieden; vor allem aber entdeckt er verblüfft, daß es sich überall um einen selben Strom handelt, oben und unten sowohl wie rechts oder links, und daß das, was wir “Gedanken” oder “Begierde”, “Wille” oder “Gefühl” zu nennen gewohnt sind, verschiedene Infiltrationen der einen selben Sache sind, die weder Gedanke noch Begierde noch Wille noch irgend etwas derartiges ist, sondern ein Strahl, ein Tropfen, ein Katarakt einer identischen bewußten Energie, die hier oder dort eindringt durch unsere kleinen Elben oder schlammigen Styx und die ein Desaster oder ein Gedicht erzeugt, das Zit-tern eines Tausendfüßlers, eine Revolution, ein Evangelium oder einen eitlen Gedanken auf der Straße – man könnte fast sagen, “nach Belieben”. Alles hängt davon ab, wie unsere Öffnung beschaf-fen ist und auf welcher Ebene sie liegt. Der we-sentliche Punkt dabei aber ist, daß wir uns in Gegenwart einer Energie, das heißt einer Macht be-finden. Und dort stehen wir schlicht und einfach vor der ungeheuren Quelle aller Veränderungen, die auf der Welt möglich sind. Es ist so, wie wir es wollen. Wir können uns auf das eine oder auf das andere abstimmen, eine Harmonie oder eine Kakophonie erzeugen, nichts aber hindert uns, kein einziger Um-stand der Welt, keine einzige schicksalhafte Bege-benheit, kein einziges der sogenannten unausweich-lichen Gesetze, daß wir unsere Antenne hierhin oder dorthin richten und den trüben und katastrophischen Fluß augenblicklich in einen kristallenen Strom ver-wandeln. Man muß wissen, wohin man sich öffnet. Und in jedem Augenblick der Welt, in jeder Sekunde, unter jedem widrigen Umstand, in jedem Gefängnis, das uns lebendigen Leibes einsperrt, können wir im Nu, durch einen einzigen Hilferuf, einen einzigen Durchbruch des Betens, einen einzigen wahren Blick, ein einziges Auflodern der kleinen inneren Flamme, all unsere Mauern niederreißen und von Grund auf wiedergeboren werden. Alles ist möglich. Denn diese Macht ist die höchste Möglichkeit.

Glauben wir al-lerdings an nichts anderes als an den kleinen Rhein oder die kleine Elbe, dann ist die Lage selbstver-ständlich hoffnungslos. Und wir glauben leiden-schaftlich, seit Jahrtausenden, an die Tugend un-serer alten Kreise. Und sie besitzen auch eine unge-heure Macht – die Macht der Gewohnheit. Und es ist seltsam, sie scheint so unverrückbar zu sein wie Stahlbeton, so überzeugend wie alle alten Argu-mente der Welt, die alte Gewohnheit, in dieser oder jener Richtung zu fließen, so unwiderlegbar wie der Apfel Newtons – und für den sich öffnenden Blick so unsubstantiell wie eine Wolke: man haucht dagegen, und sie zerfällt. Es ist die mentale Illusion, die unge-heure Illusion, die uns blendet.

*

Für den Suchenden entmystifiziert sich diese Illusion durch kleine, aber wiederholte Andeutungen, in winzig kleinen Erfah-rungen, die ihn drängen, die Augen zu öffnen und es dann doch auf den Versuch ankommen zu lassen. Aber man muß es viele Male versuchen, bevor der Hebel sich zu fassen gibt, man muß sich unaufhör-lich irren, den alten irrigen Kreisläufen folgen, um ihre falsche Macht zu entlarven. Wie immer verläuft die Erfahrung in der mikroskopischen Alltäglichkeit. Und er entdeckt die Macht der Gedanken. Genauer gesagt, er entdeckt die Wertigkeit der Energie, die sich als anscheinend winziger flüchtiger Gedanke ausdrückt, “einfach so” eindringt wie das Wasser in die Mühle.

Er ist klar und in seinem Feuer zentriert, von seiner Kadenz getragen, dann wirft er aus Gewohnheit die Mechanik erneut an, arretiert seinen Blick hier oder dort, erlaubt einem ganzen Schwall alter Reflexe, dieses Ventil zu öffnen, jenen Knopf zu drücken und in Sekunden-schnelle ein ganzes Netzwerk aus der Latenz zu ziehen, das gestaffelt zu vibrieren beginnt, eine Reaktion hier hervorruft oder ein Verlangen dort, eine Angst etwas weiter entfernt – der alte Kreislauf ist wieder angelassen, eine alte Befürchtung taucht wieder auf, eine Beklemmung, ein Zweifel, ein grundloser Pessimismus. Tatsächlich gleicht es einem Kreislauf des Leidens. Und betrachtet er diese mikroskopische Katastrophe – die nichts weiter ist als ein vorüberziehender Hauch – und fügt er das Gewicht einer Reflexion hinzu (noch nicht einmal einer Reflexion: ein einfacher zögernder Blick), so bläht sich die kleine Aufregung weiter auf, verkrampft sich und setzt sich fest – man könnte die Sache für eine winzig kleine Luftblase lebendiger Macht halten, vielleicht kaum größer als eine Fliege, aber sie klebt. Und das Bemerkenswerteste an ihr ist, daß sie mit einer unabhängigen Antriebskraft ausgestattet ist: sie geht hartnäckig, mechanisch, automatisch auf ihr Ziel los. Und vor den verblüfften Augen des Suchers, der hinreichend klar geblieben ist, um die Bewegung im einzelnen zu verfolgen, konkretisiert sich tatsäch-lich zwei Tage oder zwei Stunden oder zwei Minuten später das Ergebnis seiner Befürchtung, seines Ver-langens, seines nichtigen Gedankens: er verstaucht sich “zufällig” den Fuß, begegnet einer alten Bekan-ntschaft, empfängt eine schlechte Nachricht, wird Teil des Chaos, das er vorausgesehen hatte. Alles verbündet sich und stimmt im negativen Sinne überein, bewegt sich auf diese kleine graue oder schwarze Seifenblase zu, als übte sie eine Anzie-hungskraft auf genau die Umstände und Tatsachen aus, die ihrer eigenen Schwingung entsprechen oder “zusprechen”. Das ganze gleicht einer beinahe augenblicklichen chemischen Reaktion: dieser bes-timmte Tropfen Lackmus färbt alles blau, rot oder schwarz. Es handelt sich um das genau umgekehrte Phänomen des “richtigen Gedanken”, der günstige Umstände herbeiführt. Es gleicht fast einer mik-roskopischen Magie.

Und es ist tatsächlich Magie. Zehnfach, hundertfach erlebt der Sucher die Erfahrung erneut; da fängt er an, sehr interessiert die Augen zu öffnen, beginnt mittels einer winzigen Er-fahrung, ein ungeheures “Warum?” zu stellen ... Oh, die Geheimnisse der Welt sind nicht hinter Rauch und Feuerwerk versteckt! Sie sind hier, erwarten einen einfachen zustimmenden Blick, eine schlichte Seinsweise, die nicht ständig ihre gewohnten Barri-eren errichtet, ihre “Möglichkeiten”, ihre “Unmöglich-keiten”, ihre “Du‑kannst-nicht”, “Du-darfst-nicht”, “Wenn-und-Aber”, ihre Unausweichlichkeiten und die ganze Reihe eherner Gesetze, ihre alten Gesetze des Menschentiers, das in seinem eigenhändig ge-bauten Käfig kreist. Er schaut um sich, und die Er-fahrungen beginnen sich zu häufen, als sprängen sie ihm ins Gesicht, als löste die schlichteste kleine Bemühung um Wahrheit eine unzählige Antwort aus, führte Umstände, Begegnungen, Beweise herbei, um ihm zu sagen: Siehst du, siehst du, so ist das! Ein unbeschreibliches Bewußtsein legt seinen Finger auf jede Begegnung. Das wahre Bild tritt hinter den Er-scheinungen hervor. Eine Berührung der Wahrheit hier löst eine identische Wahrheit in jedem Ding und in jeder Bewegung aus. Und er sieht ... sieht keine Wunder – oder eher, sieht obskure kleine Wunder von blinden Magiern blind zusammengebraut. Er sieht Hunderte von armen Menschen, die an der schönen Seifenblase weben, sie geduldig und un-ablässig aufblasen, täglich ihren Hauch von Pessi-mismus oder Verlangen oder Ohnmacht beifügen, ihr Miasma von Selbstzweifel, ihre kleinen tödlichen Gedanken und die bunt schillernde Seifenblase mit ihrem Wissen und ihren kleinlichen Triumphen hegen und pflegen, die unerbittliche Seifenblase ihrer Wissenschaft, die Seifenblase ihrer Wohltätig-keit oder ihrer Tugend, und sie gehen, jeder ein Ge-fangener seiner eigenen Seifenblase im Netzwerk der Kraft, das sie Tag um Tag so sorgfältig gewebt, vergrößert, angesammelt haben: Jede Handlung ist die Resultante dieses Drangs, jeder Umstand die obskure Schwerkraft dieser Anziehung, und alles verläuft mechanisch, unausweichlich, mathematisch, genau so, wie wir es in der schwarzen, gelben oder wurmstichigen Seifenblase gewollt haben. Und je mehr man sich wehrt und anstrengt und kämpft und diese Kraft herbeizieht, um die schöne oder weniger schöne Wand zu durchbrechen, desto härter wird sie, als verliehe unsere äußerste Anstrengung ihr eine äußerste Gegenkraft. So sieht man sich als Opfer der Umstände, Opfer von diesem oder Opfer von jenem; man sieht sich arm, krank, glücklos; sieht sich reich, tugendhaft und triumphierend – sieht sich als Tausende von Dingen unter Tausenden von Far-ben und Seifenblasen, und es gibt nichts von alle-dem, keine Reichen, keine Armen, keine Kranken, keine Tugendhaften, keine Opfer. Es gibt etwas an-deres, ach, etwas radikal anderes, das seine Stunde erwartet: eine heimliche Gottheit, die lächelt.

Und die Seifenblase wächst, umfaßt Familien, umfaßt Völker, Kontinente, nimmt alle Schattierungen an, alle Weisheiten, alle Wahrheiten und kleidet sie ein: das ergibt einen Hauch von Licht, einen Ton der Schönheit, das Wunder einiger Linien in eine Architektur oder in eine Geometrie geschlossen, einen Augenblick der Wahrheit, der heilt und befreit, die hübsche Kurve unserer Augen, die für eine Sekunde diesen Stern mit jenem Schicksal verbindet, diese Asymptote und jene Hyperbel, diesen Menschen und jenes Lied, diese Geste und jene Auswirkung, dann kommen andere Menschen – Menschen zu Tausenden –, welche die kleine Seifenblase weiter aufpusten und vergrößern, rosige und blaue und ewige Religionen schaffen, unfehlbare Erlösungen innerhalb der großen Seifenblase, Gipfel des Lichts, welche die Summe ihrer akkumulierten kleinen Hoffnungen sind, Abgründe der Hölle, welche die Summe ihrer sorg-sam gehegten Ängste sind; sie kommen und fügen diesen Ton, jene Idee hinzu, dieses Körnchen Erk-enntnis und jene Minute der Gesundung, diese Be-gegnung und jene Kurve, diesen Augenblick des Wirkens unter dem Staub von Myriaden Galaxien, sie errichten ihre schwarzen, gelben und schillernden Tempel, begründen unfehlbare mediz-inische Lehren innerhalb der großen Seifenblase, unfehlbare Wissenschaften, unerbittliche Ge-ometrien, Krankheitsverläufe, Genesungsverläufe, Schicksalsverläufe, und alles dreht und windet sich innerhalb der großen fatalen Seifenblase, genau wie es die Medizin wollte, wie es der Gelehrte wollte, wie es dieser Augenblick eines zufälligen Zusammentref-fens unter unzähligen Myriaden von Linien des Uni-versums für die Ewigkeit aller Zeiten entschied. Wir haben eine Minute aus der Welt herausgegriffen und ein sublimes Gesetz daraus gemacht. Wir haben einen Funken erhascht und eine gigantische Bern-steinleuchte daraus gemacht, die uns in unserer großen Seifenblase blendet und erstickt. Dabei gibt es nichts von alledem – kein Gesetz, keine Krank-heit, kein medizinisches oder naturwissen-schaftliches Dogma, keinen Tempel der Wahrheit, keine ewige Kurve, nicht ein einziges Schicksal unter den Sternen – es gibt nur einen ungeheuren men-talen Hypnotismus, und dahinter, weit, weit im Hintergrund und dennoch gegenwärtig, so sehr gegenwärtig, augenblicklich gegenwärtig gibt es et-was Uneinnehmbares, das keine Falle greifen kann, kein Gesetz einschränken kann, keine Krankheiten und kein Hypnotismus verletzen, keine unserer Er-lösungen erlösen, keine unserer Sünden beflecken kann, nicht einmal unsere Tugenden beflecken kann, das frei ist von allen Schicksalen und allen Ver-läufen, von allen goldenen oder schwarzen Seifen-blasen – ein reiner unfehlbarer Vogel, der die Welt in einem Augenaufschlag neu erschaffen kann: Man verändert den Blick, und alles verändert sich. Die schöne Seifenblase hat ausgedient. Es ist hier, gegenwärtig – wenn wir nur wollen.

*

Platzt die Seifen-blase, beginnt man in den Übermenschen einzutre-ten, beginnt man in die Harmonie einzutreten. Oh, sie platzt nicht durch unsere Bemühungen, sie gibt nicht der Summe unserer Tugenden oder unserer Meditationen nach, die im Gegenteil die Seifenblase nur weiter verhärten, sie mit einem solch hübschen Glanz überziehen, einem so betörenden Licht, daß sie uns tatsächlich betört und wir mehr denn je ihre Gefangenen werden, da sie an Schönheit gewinnt, hoffnungsloser noch gefesselt durch unser Gutes als durch unser Böses – es gibt nichts Härteres auf der Welt als eine Wahrheit in der Falle: sie verwandelt die Falle in ein Paradies als Zwangsanstalt. Die Wahrheit jedoch, die große Wahrheit, die schöne Harmonie läßt sich nicht von unseren Fallen fangen, sie macht sich nichts aus unseren Tugenden und angehäuften Verdiensten, aus unseren genialen Fähigkeiten oder aus unseren finsteren Beschränk-theiten – denn wer ist groß, wer ist beschränkt oder obskur oder weniger obskur unter der Flucht der Galaxien, die dem Staub einer großen Sonne glei-chen? Die Wahrheit, die unaussprechliche Süße der Dinge und jedes Dings, das lebendige Herz von Mil-lionen unwissender Wesen erfordert nicht, daß wir wahr werden, bevor sie uns ihre Wahrheit offenbart – denn wer könnte wahr werden, wer könnte etwas anderes werden als das, was er ist; was vermögen wir in Wahrheit zu tun? Wir vermögen das Elend und das Leid bis zum völligen Überdruß hervorzubringen, wir vermögen Kleinlichkeit um Kleinlichkeit aneinanderzureihen, wir vermögen einen Fehler zu machen, der sich eines Körnchen Lichts brüsten kann, ein Wissen anzusammeln, das in seinem ei-genen Morast strauchelt, von Gutem durchdrungen zu sein, das lediglich der leuchtende Schatten seines geheimen Bösen ist, Freiheit zu haben, die sich in ihrem eigenen Heil gefangensetzt – wir vermögen zu leiden und wieder zu leiden, und selbst unser Leiden ist eine geheime Lust. Die Wahrheit, die leichte Wahrheit entgeht unserer luminösen oder obskuren Schlinge, sie läuft, läuft und atmet mit dem Wind, sprudelt und hüpft mit der Quelle, fließt überall hin, denn sie ist die Quelle aller Dinge, sie murmelt selbst noch auf dem Grund unserer Lügen, hat ein Augenzwinkern für unsere obskuren Seiten und lacht; sie stellt uns schwerelose Fallen, so schwere-los, daß wir nichts bemerken, gibt uns jeden Augen-blick und jederorts tausend Zeichen, so flüchtig, so unerwartet, so entgegen unserer Sehgewohnheiten, so wenig ernst, daß wir glatt daran vorübergehen. Wir können uns keinen Reim darauf machen. Oder wir etikettieren sie für das Inventar unseres Zauber-huts. Und wieder lacht sie. Sie spielt in unserem fleißigen Zauber mit, spielt unser Leid und unsere Geometrie, spielt den Tausendfüßler und den Sta-tistiker, spielt alles – spielt, was immer wir wollen. Und eines Tages wollen wir nicht mehr, wollen nichts mehr von alledem, weder von unserem vergoldeten Elend noch von unserem faszinierenden Licht, weder von unserem Guten noch unserem Bösen, auch nicht vom ganzen schillernden Aufzug, in dem sich jede Farbe in eine andere verwandelt, Hoffnung in Verzweiflung, Bemühung in einen Fehlschlag, der Himmel in ein Gefängnis, der Gipfel in einen Ab-grund, Liebe in Haß, und jeder errungene Sieg in eine neue Niederlage, als ergäbe jedes Mehr ein Weniger, jedes Für sein Wider und als ginge alles immerfort vorwärts, rückwärts, nach rechts oder links, stieße überall an die Mauern desselben Ge-fängnisses, gleich ob schwarz oder weiß, grün oder braun, golden oder weniger golden. Wir haben genug von alledem, wir sind nur noch dieser Notschrei auf dem Grunde, dieser Ruf nach Luft, dieses Feuer um nichts, diese winzige unnütze Flamme, die mit unseren Schritten einhergeht, mit unseren Schmerzen einhergeht, die durch die Nächte und die Tage mit uns geht, durch Gut und Schlecht, durch Dick und Dünn, durch das Höchste und weniger Hohe und durch alles, alles. Da wird dieses Feuer zu dem Tropfen Gut in unserem Bösen, unserem Schatz im Elend, unserem Lichtspalt im Chaos, das Alles-was-bleibt aus all den tausend erstorbenen Gesten und Lichtern, das win-zige Nichts, das wie Alles ist, das winzige Lied eines großen fortschreitenden Elends – wir haben kein Gut oder Böse mehr, kein Hoch oder Niedrig, kein Licht, keine Finsternis, kein Morgen oder Gestern, es ist alles gleich, ist elendiglich in Schwarz oder Weiß, doch wir haben dieses winzige wachsende Feuer, das Morgen des Heute, dieses Murmeln der Süße auf dem Grunde des Schmerzes, diese Tugend un-serer Lasters, diesen Tropfen heißen Seins im Hohen und Niedrigen, im Tage und in der Nacht, in der Scham wie in der Freude, in der Einsamkeit wie in der Menge, in der Billigung, in der Mißbilligung, es ist alles einerlei, es brennt und brennt: es ist morgen, es ist gestern, es ist jetzt und immerdar, es ist unser einziges Lied, unsere Weise des Seins, unser kleiner Ton aus Feuer, unser Paradies einer kleinen Flamme, unsere Freiheit einer kleinen Flamme, un-ser Wissen einer kleinen Flamme, unser Flammen-gipfel in einem Loch des Seins, unsere Uner-meßlichkeit einer winzigen Flamme, die singt, man weiß nicht warum. Sie ist unser Gefährte, unser Freund, unser Partner, unsere Trägerin, unsere Heimat – sie ist. Und das ist gut. So hebt man eines Tages den Kopf, und es gibt keine Seifenblase mehr. Es gibt nur dieses Feuer, das mit sanfter Flamme überall brennt und alles erkennt, alles liebt, alles versteht, und es ist wie ein sorgloser Himmel ohne Umstände; es ist so einfach, daß niemand da-ran dachte, so ruhig wie ein Ozean in jedem Tropfen, so lächelnd, so klar, daß es alles durchdringt, überall hingleitet – hier spielt, dort spielt, so transparent ist wie Luft, einem Nichts gleicht, das alles verändert und vielleicht alles ist.

Dann befinden wir uns in der Harmonie der neuen Welt.

Seltene Dichter und Weise hatten diese Harmonie berührt, einige wenige Musiker vernahmen sie und versuchten einige Töne dieser unermeßlichen Weise zu übersetzen. Sie fließt hoch oben auf den Gipfeln des Bewußtseins, ein Rhythmus ohne Ende, ohne Hoch oder Niedrig, in blauen Ewigkeiten, die fließen und fließen, gleich einer Freude, die sich selbst besingt, die ihren uner-meßlichen Fluß über ewige Hügel rollt, die die Sternenkiesel und die Erdkörper und die Meere trägt, alles trägt in ihrem feurigen, ruhigen Ansturm: ein unsäglicher Laut, der alle Laute und alle Töne in einem wäre, eine Verschmelzung von Musik, ein einmaliger goldener Ausbruch, dem Grunde der Zeiten entsprungen, einem Schrei der Liebe, einem Schrei der Freude; ein reiner Triumph, der in einem einzigen Blick alle Welten und Zeiten sah und den Schmerz eines Kindes am Ufer des blauen Flusses, die Süße der Reisfelder und den Tod eines Alten, die winzige Ruhe des im Südwind zitternden Blattes und andere, unzählige andere, die immer dieselben sind, die auf dem großen Fluß kommen und gehen, hier und dort vorüberziehen, die verstreichen, ohne je-mals zu verstreichen, die wachsen und in der Ferne einer großen goldenen See entschwinden, aus der sie gekommen waren, getragen von dem kleinen Rhythmus des großen Rhythmus, von einem kleinen Funken des großen goldenen Feuers, das nicht erlischt, von einem kleinen beharrlichen Ton, der alle Leben, alle Tode, alle Freuden und alle Schmerzen durchzieht; eine unbeschreibliche Ausdehnung von blauem Raum, der die Lungen mit einem ewigen Atem gleich einer Auferstehung erfüllt; ein Aufblühen von Musik allüberall, als sei der Raum nichts als Musik, nichts als ein singendes Blau – ein mächtiges, triumphierendes Fließen, das uns auf immer trägt, als seien wir in seine Schwingen der Pracht gehüllt. Und alles ist erfüllt, das Universum ist ein Wunder.

Doch die Erde, die kleine Erde dreht sich darunter, dreht sich in ihrem Schmerz, sie weiß nichts von alledem, sie sieht nicht die Freude, welche sie trägt, welche sie ist – denn wer könnte ohne diese Freude sein, die alles trägt, ohne diese Erinnerung an die Freude, die beharrt und an den Herzen der Wesen und Dinge zupft?

Ich, Erde trage tiefere Mächte als der Himmel;

Mein einsamer Schmerz übersteigt seine rosigen Freuden,

Ein roter und bitterer Samen der sieben Ekstasen;

Meine Dumpfheit erfüllt sich mit Echos einer fernen Stimme.

Durch mich erstrebt das äußerste Endliche, brennend,

Das Unbekannte des äußersten Unendlichen zu erreichen,

Das Ewige zerbricht in flüchtige Leben,

Und die Gottheit ist verankert in Stein und Morast29.

Und der Rhythmus, der große Rhythmus zerstreute sich, zerfiel, zer-stäubte, um in das Herz seiner Welt einzudringen und sich auf das Maß des Tausendfüßlers und eines kleinen im Winde bebenden Blatts zu versetzen, um sich einem Gehirn verständlich zu machen, um von einem Passanten geliebt zu werden. Wir zogen synkopierte Melodien daraus, vielfarbige Gemälde, Freuden, Leiden, weil wir seinen ungebrochenen Fluß nicht mehr halten konnten, ohne zu bersten. Wir setzten ihn in Gleichungen und Gedichte, ar-chitektonische Pläne, lockten ihn in die Falle unserer Maschinen, sperrten ihn in ein Amulett oder in einen Gedanken, weil wir dem Druck seines unmittelbaren großen Strömens nicht mehr standhalten konnten. Und wir schufen Kavernen und Infernos, welche die Abwesenheit dieses Rhythmus waren, der Mangel an diesem ewigen Atem, das Ersticken des kleinen Menschen, der an seinen Schmerz allein glaubt, allein an die Knöpfe seiner Mechanik und an die Mauern seiner Intelligenz. Wir zogen Koordinaten, vervielfältigten, atomisierten bis ins Unendliche und konnten schließlich nichts mehr sehen, nichts mehr verstehen, denn wir hatten den einzigen kleinen Atem des großen Atems verloren, den einzigen kleinen Strahl der großen Bedeutung, den kleinen Ton, der alles liebt, alles versteht. Und da wir alles um uns herum verschlossen hatten, uns in einem Schneckenhaus verbarrikadierten, uns in den Har-nisch unserer denkenden Logik warfen, ausgestattet mit Helmen und unfehlbaren Antennen, sagten wir, daß es diese Harmonie, diesen Rhythmus nicht gäbe, daß er weit, weit über uns sei, als Paradies unserer Tugenden oder als das Knistern unserer kleinen Antennen, der Traum eines kollektiven Unterbewußten, das Produkt eines evolvierten Erd-wurms, die Begegnung zweier verliebter Moleküle – gleich den Wilden der Vorzeit, die unbekanntes Land zerteilten, haben wir Raum und Zeit zerteilt, den noch nicht überquerten Ganges und das Eldorado in eine andere Geographie verwiesen, als nette Furten des kleinen Flußes. Ganges und Eldorado aber be-finden sich hier, nebst einer ganzen Reihe anderer Wunder, anderer Ströme des großen Stromes, und alles liegt hier unter unseren Schritten, öffnen wir nur unser kleines Schneckenhaus und hören auf damit, jenes in den Himmel oder bis zum jüngsten Tag zu verweisen, was in jeder Minute der Zeit und jedem Kiesel des Raumes singt.

Dies ist die Harmonie der neuen Welt, die Freude des größeren Selbst, sie ist hier, augenblicklich hier, wenn wir nur wollen. Es genügt, die Scheuklappen abzulegen. Es genügt ein wahrer Blick, ein einfacher Blick auf die große Welt. Es genügt ein kleines Feuer innen, das alle Schneckenhäuser und alle Schmerzen und alle Seifenblasen verbrennt – denn es gibt nur den einen Schmerz, dort eingeschlossen zu sein.

11 Wandel der Macht

In Wahrheit aber drückt sich diese Harmonie der neuen Welt nicht durch große Symphonien oder ekstatische Freuden aus; sie ist viel diskreter und viel wirksamer als das – oder, sollte man sagen, viel anspruchsvoller.

Es gibt nur eine Harmonie, so wie es nur ein Bewußtsein und nur einen einzigen irdischen Körper gibt, und das sind jene des größeren Selbst, doch diese Harmonie und dieses Bewußtsein enthüllen sich nach und nach, indem wir wachsen und unsere Augen wirklich öff-nen, und ihre Auswirkungen variieren der Ebene entsprechend, auf der wir sie erfassen. Die Harmo-nie singt auf den Höhen und ist dabei groß und er-haben, jedoch sang sie dort über Jahrtausende und ganze Zeitalter hinweg, ohne viel an der Welt und den Herzen der Menschen zu verändern. Und die Evolution durchlief ihre Zyklen, versank scheinbar in eine rein materielle Verrohung und Un-durchdringlichkeit, eine Ignoranz und Finsternis, die sich mit allen Kunstgriffen der Götter schmückte und uns glauben machen wollte, daß wir die Meister seien, wo wir doch die Sklaven einer Mechanik sind, Sklaven einer kleinen lockeren Schraube, die bereits ausreicht, um die ganze schöne Maschine in die Luft zu jagen und dahinter den alten Wilden völlig intakt zu demaskieren. Aber die Evolution sank herab, stieß uns von unseren schwindelnden Höhen und unseren goldenen Zeitaltern, die vielleicht gar nicht so golden waren, wie man sagt, um uns zu zwingen, dieses Licht und diese Harmonie und dieses Be-wußtsein auch hier zu finden, in diesen Niederun-gen, die nur für uns niedrig sind. In Wahrheit gibt es kein Herabsinken, kein Fallen, keine Rückkehr, es gibt nur eine unablässige Herabkunft der Wahrheit und der Harmonie, welche sich immer tieferer Schichten bemächtigen, um in ihnen das Licht und die Freude zu enthüllen, das sie immer gewesen sind – wären wir nicht gefallen, hätte das Licht nie-mals in unser Loch hinabdringen können und die Materie wäre niemals aus ihrer Nacht hervorgetre-ten. Jeder Abstieg ist eine Lichtschneise, jeder Fall eine Stufe der Entfaltung. Durch unser Übel trans-mutiert sich die Substanz. Und unser Übel ist vielleicht schlicht und einfach das unbekannte Land, das wir seiner “Inexistenz” entreißen, so wie die See-fahrer des Kolumbus die gefahrenreichen Westin-dischen Inseln ihrer “Nacht” entrissen.

Der Übergang al-lerdings ist gefährlich.

Tatsächlich löst die Wahrheit, wenn sie eine neue Schicht berührt, zuallererst eine entsetzliche Unordnung aus, zu-mindest erscheint uns das so. Die ersten Auswirkun-gen der mentalen Wahrheit, als sie die Primaten berührte, müssen schlicht traumatisch gewesen sein, das können wir annehmen, und unendlich subversiv in Bezug auf die Ordnung und Effektivität der Affen; es genügt, daß ein Bauer zum ersten Mal ein Buch in die Hand nimmt, um auf einen Schlag seinen schönen bukolischen Frieden einstürzen zu sehen und seine schlichte und gesunde Betrachtungsweise der Dinge aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Wahrheit ist eine große Störerin, und in der Tat, ohne ihr ständiges Stacheln und ihren Druck auf die Welt wäre der Stein auf immer und ewig in seiner mineralischen Seligkeit verblieben und der Mensch in seiner zufriedenen Wirtschaftsordnung – aus die-sem Grunde vermag kein Superwirtschaftspro-gramm, kein Triumph einer ingeniösen Politik, keine Vervollkommnung des Egalitarismus und der Verteilung menschlicher Reichtümer, nicht einmal ein Gipfel an Wohltätigkeit und Philanthropie das Herz des Menschen zu befriedigen und den unwid-erstehlichen Ansturm der Wahrheit aufzuhalten. Die Wahrheit kann vor nichts Halt machen als vor der Totalität der Wahrheit selbst, der totalen Freude und der Harmonie jedes Teilchens und des ganzen Uni-versums – und auch dann wird sie nirgendwo stehen bleiben, denn sie ist unendlich und ihre Wunder sind unermüdlich. Wir haben die sehr natürliche und an-thropozentrische Tendenz zu erklären, daß wir große Anstrengungen unternehmen, um das Licht und die Wahrheit und dieses und jenes zu finden, doch dies ist vielleicht eine Vermessenheit, und der Lotos-samen wächst unaufhaltsam seinem Licht entgegen, entreißt sich dem Sumpf und bricht in der Sonne auf, all seiner Anwandlungen unterwegs zum Trotz, etwa eine Seerose oder eine Supertulpe zu werden – und die Sonne drängt und drängt, stampft und knetet und fermentiert ihre rebellische Erde, bringt ihre chemischen Ingredienzen zum Sieden und bricht die Hülse, bis alles zu seiner äußersten Schönheit ge-bracht wurde, trotz all unserer Bemühungen unter-wegs, nichts weiter als einen sozialen und intelligen-ten Biedermann zu schaffen. Und die große Sonne der Evolution drängt ihre Welt, zerbricht die alten Formen, läßt zukünftige Ketzereien gären und die bis zur Geschmacklosigkeit konservierte Weisheit der mentalen Legislatoren überkochen. Gibt es eine verzweifeltere und leerere Epoche, die entsetzlicher in ihren mageren Errungenschaften und lackierten Tugenden gefangen war als die sogenannte “Belle Époque”? Der Firnis zerspringt – um so besser! Die glänzende Maschine explodiert – um so besser! All unsere Tugenden und mentalen Versicherungen und unsere Träume einer großen wirtschaftlichen Kirmes auf Erden brechen zusammen, und das ist wiederum um so besser. Die Wahrheit, die große Harmonie, die sein muß, nimmt unsere intellektuellen Sturz-helme unerbittlich in ihre Zwinge, demaskiert jedes Fleckchen Schmutz, jede Schwäche, quetscht alles Gift heraus und verrührt ihre Menschheit gleich dem “Ozean der Unbewußtheit” der puranischen Leg-enden, bis sie ihren Nektar der Unsterblichkeit her-vorgebracht hat.

Der Sucher wird ge-wahr – in seinem kleinen Maß, innerhalb des Mikro-kosmos, den er repräsentiert –, daß die Harmonie der neuen Welt, das neue Bewußtsein, das er tas-tend berührt, eine fabelhafte transformative Macht darstellt. Früher mochte sie in der Höhe gesungen, Gedichte und Kathedralen der Weisheit und Schön-heit angeregt haben, sobald sie aber die Materie berührt, setzt sie die Miene der zornigen Mutter auf, geißelt ihre Kinder und formt sie mitleidlos nach dem Bildnis ihrer fordernden Aufrichtigkeit – und auch des Mitgefühls, der grenzenlosen Gnade, die genau rechtzeitig innehält, genau die richtige Dosis verabreicht, kein Gramm Schmerz mehr auferlegt, als unabdingbar ist. Beginnt der Sucher seine Augen diesem Mitgefühl zu öffnen, dieser unendlichen Wei-sheit im kleinsten Detail, den undenkbaren Um-wegen, die zu einer vollständigeren und weiteren Vollkommenheit führen, den ausgefeilten Unklar-heiten, den sorgfältig abgestimmten Aufständen, den Abstürzen in ein größeres Licht, dem unendlichen Vorstoß einer Schönheit, die keinen Fleck, keinen Zufluchtswinkel, keine Schwäche oder versteckte Kleinlichkeit, keine Windung der Lüge im Ver-borgenen beläßt, so gerät er in ein Erstaunen, das alle siderischen Großartigkeiten und allen kos-mischen Zauber überschreitet, denn wahrlich, um einen so mikroskopischen Punkt der Materie zu berühren, so nichtig unter den Sternen, so verstrickt in seinem Wirrwarr aus Schmerz und Revolte, in seinem obskuren Widerstand, jederzeit bedroht von der Katastrophe und den Millionen kleiner Katastro-phen, die es jeden Tag und mit jedem Schritt zu be-heben gilt, den Millionen von kleinen Schmerzen, die es zu transzendieren gilt, ohne die Welt zu zerbre-chen, dafür erfordert es tatsächlich eine Macht, wie sie die Erde noch nie gesehen hat: überall bricht die Krankheit aus, in jedem Land, jedem Bewußtsein, jedem Atom des großen irdischen Körpers – die er-barmungslose Revolution, die Transmutation im Schnellschritt – und doch wird hier wie dort, in jedem Bewußtsein, jedem Land, jeder Parzelle des großen zerrissenen Körpers die Katastrophe im letzten Augenblick vermieden, entfaltet sich allmählich das Beste aus dem Schlimmsten, erwacht das Bewußt-sein und tragen uns unsere strauchelnden Schritte, uns selbst zum Trotz, vor das äußerste Tor der Be-freiung. Dergestalt ist die unermeßliche Harmonie, die gebieterische Macht, die der Sucher mit jedem Schritt und in seiner eigenen Substanz entdeckt.

Damit gelangen wir zu einem neuen Wandel der Macht. Eine neue Macht, wie es sie seit den ersten Anthropoiden nie-mals gegeben hat, eine Sturmflut an Macht, die nichts mehr gemein hat mit unseren kleinen philoso-phischen und spirituellen Meditationen der vergan-genen Zeitalter, ein irdisches, kollektives, vielleicht sogar universelles Phänomen, in so radikaler Weise neu wie der erste Einbruch der Gedanken in die Welt, als das Mental die Affenordnung und ihre intui-tiven Gesetze und Mechanismen über den Haufen warf. Jetzt jedoch handelt es sich in Wirklichkeit um das Phänomen der Entstehung einer neuen Welt, keine Macht der Abstraktion, keine Geschicklichkeit im Überfliegen und keine Fähigkeit, vereinzelte Gegebenheiten der Welt auf Gleichungen zu re-duzieren, um eine (stets hinkende) Synthese daraus abzuleiten – das Mental hat von allem abstrahiert, es lebt in einem Abbild der Welt, einer gelben oder blauen Spiegelung der großen Seifenblase, es ist der Mensch in einer gläsernen Statue –, keine Macht zweiten Grades, die addiert und deduziert, keine Sammlung von Erkenntnissen, die niemals ein Gan-zes ergeben, es ist eine unmittelbare Macht der Wahrheit eines jeden Augenblicks und jeden Dinges, in Einklang mit der totalen Wahrheit der Millionen Augenblicke und der Millionen Dinge, eine “Macht, einzudringen” in die Wahrheit jeder Geste und jedes Umstands, die mit allen anderen Gesten und allen übrigen Umständen harmonieren, weil die Wahrheit eins ist und das Selbst eins ist, und wird dies einmal berührt, ist der ganze Rest augenblicklich berührt, gleich einer Übertragung von Zelle zu Zelle des einen selben Körpers; es ist eine ungeheure Macht der Konkretisierung der Wahrheit, welche unmittelbar auf dieselbe Wahrheit wirkt, die in jedem Punkt des Raumes und in jeder Sekunde der Zeit enthalten ist, oder vielmehr, die jeden Augenblick, jeden Umstand, jede Geste, jede Zelle der Materie zwingt, ihre Wahrheit hervorzubringen, ihren wahren Ton, ihre eigene Macht, die unter den Schichten un-serer mentalen und vitalen Ablagerungen vergraben liegt – ein ungeheures Wahr-Stellen der Welt und aller Wesen. Wir könnten sagen, eine ungeheure Bewegung der “Ver-Wirklichung” – die Welt ist noch nicht wirklich! Sie ist eine deformierte Erscheinung, eine mentale Annäherung, die eher einem Albtraum gleicht, eine Schwarz-Weiß-Übertragung von etwas, das wir noch nicht erfaßt haben: wir haben noch nicht unsere wahren Augen! Denn es gibt definitiv nur eine Realität, und das ist die Realität der Wahr-heit – eine Wahrheit, die wächst, die sich mit Mauern schützen und sich einschränken mußte, in das Grau dieser oder jener Schale, dieser oder jener Seifen-blase hüllen mußte, um von einer Raupe oder einem Menschen gefühlt zu werden, und die schließlich in ihre eigene Sonne ausbricht, wenn sich die Schwin-gen jenes großen Selbst entfalten, das wir immer gewesen sind.

Dieser Machtwechsel aber, der Übergang von den indirekten und abstrak-ten Wahrheiten des Mentals zur direkten und konkre-ten Wahrheit des großen Selbst, vollzieht sich nicht auf den Höhen des Geistes, das ist offensichtlich – die mentale Gymnastik nützt hier so wenig, wie die Behendigkeit des Affen die mentale Macht unter-stützte. Der Übergang vollzieht sich auf ebener Erde, im Bereich des Alltäglichen, im mikroskopisch Kleinen, in den Nichtigkeiten des Augenblicks, der nur für uns nichtig ist, wenn man versteht, daß ein Staubkorn ebensoviel Wahrheit und ebensoviel Macht enthält wie die Totalität aller Räume. Es geht also um außergewöhnlich materielle Mechanismen: das Spiel verläuft in der Substanz. Folglich stößt es gegen Widerstände so alt wie die Zeit, gegen eine Seifenblase, die vielleicht die erste defensive Blase des Protoplasmas in seinem Wasserloch war. Doch schließlich erweist es sich, daß “die Widerstände den Absichten der großen ausführenden Kraft durch ihren Widerstand viel mehr helfen, als daß sie sie behindern30”. Und letztlich wissen wir nicht, ob es einen einzigen Widerstand, eine einzige mikroskopische Barriere, ein einziges Spiel von Schatten und Schmerzen gibt, welche nicht heimlich genau die Macht erbauen, die wir freizusetzen suchen. Entspringt sie zu früh, wäre die Wahrheit unvollständig oder unerträglich für die übrigen Ver-suchstierchen, welche unser Wasserloch mit uns teilen, und sie hätten sie schnell verschlungen – wir vergessen ständig, daß wir ein einziger Men-schenkörper sind, und unsere Irrtümer und Trägheit sind die Irrtümer und Trägheit der Welt. Erringen wir allerdings einen Sieg hier, in diesem kleinen Punkt der Materie, erringen wir ihn damit in allen Punkten der Welt. In Wahrheit hat jedes von uns Menschen-wesen eine ungeheure Aufgabe zu vollbringen, wenn wir nur begreifen. Unsere Geburt auf der Welt ist ein mächtigeres Geheimnis, als wir anzunehmen geneigt waren.

*

Seit langem hat sich der Sucher nun der mentalen Mechanik entledigt, hat auch Ordnung in die vitale Mechanik gebracht, und falls alte Begierden, Willensregungen, Reaktionen auftauchen und seine Lichtung trüben, gleicht dies mehr einem Bild im Kino, das aus Gewohnheit auf die Leinwand projiziert wird, dem aber keine reale Substanz zukommt: Der Sucher hat die Gewohnheit verloren, sich in die Leinwand zu versetzen und sich für diese oder jene Persönlichkeit dort zu halten – er schaut, er ist klar, beobachtet alles, ist zentriert in seinem Feuer, das all diese Wolken auflöst. Von nun an und mehr und mehr gibt sich eine andere Ebene der Wirrnis zu erkennen, eine andere Stufe der Mechanik (es handelt sich entschieden um einen “Weg des Abstiegs”), eine materielle, unterbewußte Mechanik. Und solange er nicht klar ist, sieht er nichts davon und ist unfähig, diese Fäden zu entwir-ren, die so sehr mit unseren gewohnten Tätigkeiten verschmolzen, “mentalisiert” sind wie alles übrige, daß sie ein vollkommen natürliches Netz bilden. Diese materielle, unterbewußte Mechanik wird jetzt sehr konkret wie die Wirbel der Goldfische im Aquar-ium. Stellen wir gleich klar, daß es sich nicht um die kleine unterbewußte Fischbrut der Psychoanalytiker handelt; diese ist Teil der mentalen Seifenblase, schlicht die Kehrseite des kleinen Biedermanns der Oberfläche, die Aktion seiner Reaktionen, der Knoten seiner Begierden, die Erdrosselung seiner geschätzten Kleinheit, die Vergangenheit seiner al-ten kleinen Geschichte innerhalb der Seifenblase, die Ziegenleine seines kleinen separaten Egos, angebunden an den sozialen, familiären, religiösen Pflock und die unzähligen Pflöcke, welche den Men-schen in einer Seifenblase festhalten. Und wir haben den starken Verdacht, daß diese Träumer weiterhin in ihrer psychoanalytischen Seifenblase träumen, so wie andere weiter in ihrer religiösen Seifenblase träumen, von Höllen und Himmeln, die ausschließlich in der mentalen Vorstellung der Men-schen existieren – allerdings, solange man sich in-nerhalb der Seifenblase befindet, ist sie unerbittlich und unwiderlegbar: ihre Höllen sind wirkliche Höllen, ihr Dreck ist wirklicher Dreck, und man ist Gefan-gener einer kleinen Wolke, sei sie leuchtend oder finster. Nebenbei sei bemerkt, daß man sich nicht vom Schlamm befreit, indem man im Schlamm wühlt und krankhaft die Umwege und Abwege des kleinen Kaspers an der Oberfläche nachzuvollziehen sucht – genausogut könnte man versuchen, sich in einer trüben Pfütze zu waschen – man befreit sich nicht von der Seifenblase durch die Lichter der Seifen-blase oder vom Bösen durch ein Gutes, das nur seine Kehrseite ist, sondern durch etwas anderes, das nicht Teil der Seifenblase ist: einem einfachen kleinen Feuer im Innern und überall, dieses Feuer ist der Schlüssel zur Freiheit, zu allen Freiheiten und der ganzen Welt.

Dieser unterbewußte Widerstand ist sehr schwierig zu beschreiben: er hat Tausende von Gesichtern, ebensoviele wie es ver-schiedene Individuen gibt, und für jeden nimmt er eine andere Färbung an, das “Syndrom”, wenn man so will, ist in jedem Falle ein anderes, jeder hat sein besonderes Theater, mit seiner eigenen Dramatur-gie, seinen bevorzugten “Situationen”, seinem kleinen oder großen Hampelmann. Dabei ist es der-selbe Hampelmann unter jedweder Couleur, die eine selbe Geschichte hinter all den Worten und derselbe Widerstand überall. Es ist der Widerstand. Der Punkt, der Nein sagt. Er enthüllt sich nicht sofort, ist schwer faßbar und so schlau. Tatsächlich glauben wir ihm wohl, daß er das Theater liebt, es ist ja der Grund seines Daseins, das Salz seiner Existenz, und hat er kein Drama mehr zu gestalten, erfindet er ein neues aus freien Stücken – er ist der Dramaturg par excellence. Und womöglich ist er der große Drama-turg schlechthin des ganzen schmerzlichen und cha-otischen Lebens, das wir hier sehen. Jeder aber hütet sorgsam seine Kleinausgabe des “großen Schmerzensmannes31”, wie ihn Sri Aurobindo nannte. Das Drama der Welt wird aufhören, wenn wir beginnen, unserem eigenen kleinen Drama ein Ende zu setzen. Der finstere Kasper aber schlüpft uns durch die Finger: einmal aus der mentalen Szenerie vertrieben, in der er seine erklärende und fragende Mechanik in Gang hielt – er ist ein unaufhörlicher Fragesteller, stellt Fragen, aus reinem Vergnügen, sie zu stellen, und beantwortete man sie alle, erfände er sofort neue, denn er ist auch ein großer Zweifler –, aus dem Men-tal ausquartiert, taucht er eine Stufe tiefer und spielt seine Nummer auf der vitalen Szene. Dort findet er bereits festeren Grund (je tiefer er eindringt, desto mehr verfestigt er sich, und ganz auf dem Grunde, ganz unten, ist er die Festigkeit selbst, der Knoten schlechthin, der nicht weiter reduzierbare Punkt, das absolute Nein). Auf der vitalen Szene kennen wir alle mehr oder weniger seine Tricks, sein großes Spiel der Passionen, Leidenschaften und Begierden, der Sympathie und Antipathie, des Hasses und der Liebe – tatsächlich aber sind all das die zwei Ge-sichter derselben Nahrung, und das Böse schmeckt ihm ebensowohl wie das Gute, das Leiden ebenso wie die Freude, es handelt sich allein um die Art, et-was so oder so zu verschlingen. Selbst Wohltätigkeit und Philantropie kommen ihm sehr gelegen, er bläht sich auf diese Art oder auf eine andere. Je tugend-hafter er ist, um so härter wird er. Idealismus und Patriotismus, heilige und weniger heilige Anliegen sind ihm sehr gelegener Proviant. Er besitzt die Kunstfertigkeit, sich mit wunderbaren Motiven zu schmücken, man findet ihn auf den Wohltätigkeits-veranstaltungen der barmherzigen Damen ebenso wie auf den Friedenskonferenzen – der Frieden aber ist niemals zugegen, das versteht sich, denn sollte es durch ein Wunder tatsächlich Frieden geben oder die Heilung und Rettung aller Kranken und Armen auf der Welt, was bliebe ihm dann noch, um zu le-ben? Aus dieser Szene wiederum vertrieben, taucht er eine weitere Stufe tiefer und verschwindet in den Verliesen des Unterbewußtseins. Jedoch nicht für lange. Dort beginnt er deutlichere Formen anzuneh-men, sein wahres Gesicht zu zeigen; er ist ganz win-zig und hart geworden, eine Art grimassierende Karikatur: “der groteske Elf”, wie ihn Sri Aurobindo nennt.

[Der Mensch] beherbergt einen grotesken Elf

Versessen auf Sünde und Gram.

Der graue Elf scheut die Flamme des Himmels

Und aller Dinge freudig und klar;

Allein durch Genuß, Leidwesen und Schmerz

Dauert sein Drama an32.

Er ist zu allem bereit, hängt sich an ganz gleich was, bedient sich des kleinsten Sprungs, um die Bildfläche wieder zu be-setzen, des geringsten Vorwands, um seine Tinten-wolke auszuspeien und alles augenblicklich darin einzuhüllen. Eine dichte, schwarze und sofort kle-bende Wolke. Es ist ein Todeskampf, denn er weiß sehr wohl, daß er sterben wird. Es ist sein letztes großes Spiel – die Karte, die er jetzt ausspielt, ist für ihn die letzte dieser Welt. Im Grunde, im allertiefsten Grunde, liegt ein Knoten mikroskopischen Schmer-zes, etwas, das die Sonne und die Freude fürchtet, das erstickt und Angst vor der Weite hat. Es ist hart wie Stein, vielleicht so hart wie das Urgestein der Erde. Ein finsteres NEIN gegenüber dem Leben, ein NEIN gegenüber allem. Etwas, das nicht will. Es ist da und will nicht. Vielleicht ist es die Essenz des To-des, die Wurzel der Nacht, der erste Schrei der Erde unter dem Ansturm der Sonne der Wahrheit.

Und dort verweilt er bis zum Ende – bis zum Ende des Endes –, verweilt dort, vielleicht um uns zu zwingen, auf den Felsgrund hinabzusteigen und unser unsterbliches Gesicht unter der Maske des Todes zu entdecken. Wäre er nicht dort, hätten wir womöglich schon alle die Flucht in die Himmel des Geistes angetreten. Doch es heißt, daß unsere Unsterblichkeit und unser Himmel in der Materie und durch unseren Körper er-rungen werden müssen.

Erwischen wir diesen jammervollen Elf – denn er ist das Leidwesen an sich – kurz bevor er sich gänzlich vergräbt, zeigt er uns seine unmerkliche alltägliche und materielle Mechanik. Hier liegt der große Widerstand gegen den Wandel der Macht, der Maulwurfshügel, der das Gesetz der Harmonie aufzuhalten versucht. Deshalb findet die Schlacht jetzt dort statt, sowohl im Mikro-kosmos als auch im Makrokosmos. Er gleicht einer Karikatur (oder dem tatsächlichen Gesicht) all der zivilisierten und kultivierten Aktivitäten des brillanten Elfs der höheren Ebenen: Zweifel, Furcht, Gier, Ei-gendünkel, all die Verkrampfungen, Befürchtungen und Vorbehalte des mentalen Pseudopodiums. Es ist ein mikroskopischer und lächerlicher Prozeß, und sollten wir seiner durch Zufall gewahr werden, so verwerfen wir ihn achselzuckend und messen ihm keinerlei weitere Bedeutung bei. Doch damit liegen wir vollkommen falsch. Wir betrachten alles aus der Höhe unserer mentalen Arroganz, als sei dieser Unsinn folgenlos: er hat jedoch sehr schwer-wiegende Folgen. Wir merken das nicht, weil wir in unseren logischen und symmetrischen Wolken le-ben. Das Leben aber knirscht, ist ein ungeheures universelles Knirschen, dessen Ursprung in diesen lächerlichen Sandkörnchen begründet liegt. Auf der Ebene der Materie gibt es keine “Kleinigkeiten”, denn alles besteht dort aus ihnen, und eben diese absurde Reaktion des Zweifels oder der Furcht ist das un-berechenbare Äquivalent der mentalen Fehlein-schätzung, die uns dazu führt, die Tür vor einer leuchtenden Gelegenheit zu verschließen. Ständig verschließen wir die Tür vor der Harmonie, kehren dem Wunder den Rücken, verbarrikadieren neue Möglichkeiten und arbeiten uns noch dazu krank da-ran. Denn auf der materiellen Ebene fließt die Har-monie nicht in majestätischen Symphonien durch die großen Arterien des Geistes; sie arbeitet mit dem, was sie hat: sie sickert durch winzige Kanäle, ent-lang den zerbrechlichen kleinen Fasern, die in un-serem materiellen Bewußtsein vibrieren; sie dringt ein in kleinen Tropfen, Strahlen, diskreten Quanten, die wie nichtig erscheinen – ein sanfter Atemzug, die Spur eines Lächelns, eine grundlose Welle des Wohlbehagens – und die doch alles verändern. Wir bemerken die Veränderung nicht, denn wir leben in unserem gewohnten Chaos unserer alltäglichen Er-stickung, der Sucher aber, der in sich etwas klarer geworden ist, spürt diese kleinsten Veränderungen der Dichte, die plötzlichen Hemmungen, die mik-roskopischen Ausdehnungen, die Luftlöcher in seiner materiellen Substanz. Er sieht den beinahe augen-blicklichen Effekt einer winzigen Emanation des Zweifels, einer absurden Furcht oder scheinbar grundlosen Anspannung, einer lächerlichen morbi-den Vorstellung, die seine Atmosphäre streift. Er entdeckt Tausende von heimtückischen kleinen Pulsschlägen, trügerischen Rhythmen, finsteren Im-pulsen innerhalb des großen materiellen Teiches. Er legt den Finger auf die Furcht, die große, gierige und sich zusammenziehende Furcht, welche die Welt wie ein Protoplasma in ihrer Gelatinemembrane einhüllt – die geringste Berührung, der leiseste Luftzug, der winzigste Sonnenstrahl, und sie kontraktiert, verschließt die Türen und rollt sich in ihrer Mem-brane zu einem Knäuel zusammen. Die unmittelbare Reaktion gegenüber allem ist NEIN; dann wieder, mitunter, ein herausgeblöktes Ja, wie getrieben von derselben Furcht, etwas zu verpassen. Der Sucher entdeckt die phantastische morbide und hoff-nungslose Vorstellungswelt der Materie, als bedeute das Leben für die Materie eine Art entsetzlicher In-vasion, von der sie sich nie ganz erholt hat, einen Sturz vielleicht von der ursprünglichen Wonne des Steins, einen Einbruch des Todes inmitten ihrer friedfertigen Routine. In allem lauert ja die Katastro-phe – die große Katastrophe des Lebens –, so wird das Schlimmste erwartet, das Schlimmste vorherge-sehen, beinahe das Schlimmste erhofft und her-beigerufen, damit endlich diese Tragödie des Lebens aufhöre und alles sich aufs neue in der seligen Un-bewegtheit des Staubes beruhige. Er entdeckt, wie Krankheiten entstehen, Materie sich zersetzt, die Substanz altert – der große Schmerz zu leben, die Verkrampfung seiner selbst, das innere Ersticken, das Verhärten all der kleinen Arterien, durch welche der Tropfen Harmonie, der alles heilt, sich hätte ein-schleichen können. Er hört bis zum völligen Über-druß das kleinste Stöhnen, den Groll in Scheibchen, die verletzte Verneinung der Materie und vor allem – vor allem – ihr verzweifeltes Leitmotiv: “Dies ist nicht möglich, jenes ist nicht möglich ...” Alles ist “nicht möglich” für sie, denn die einzig sichere Möglichkeit besteht in der unverletzlichen Unbewegtheit des Steins. Denn jede Geste von Leben und Hoffnung ist immer noch eine Regung des Todes. Und sie schließt die Tür, verschließt sich dem Licht, ver-weigert sich dem Wunder – wir alle ver-weigern uns dem Wunder, sitzen fest auf unserem Krebs, sind Skeptiker vor der großen unsterblichen Harmonie, Zwerge der Erde, die an den Schmerz glauben, an die Krankheit glauben, an das Leiden glauben, an den Tod glauben: Es ist nicht möglich, nicht möglich, nicht möglich ...

So lernt der Sucher die Lektion der Harmonie. Er lernt sie Schritt für Schritt, durch Rückschläge und Fehler, unscheinbare Fehler, die Krankheit und Verwirrung säen: in die-sem Stadium verläuft die Erfahrung nicht mehr auf der Ebene der Erkenntnis oder im Herzen sondern im Körper. Ein kaum wahrnehmbares Spiel von Empfindungen, so schwer greifbar wie das erste Zit-tern des Strahlentierchens unter dem Temperatu-rumschlag des Golfstroms, und so voller physischer Folgen wie ein Sturm auf den hübschen Kornfeldern des Mentals oder ein Taifun auf den schlammigen Meeren des Vitals. Wir sind so dickfellig und blind auf den “höheren” Ebenen, daß wir einen Schlag vor den Kopf brauchen, um zu verstehen, daß dieser Mensch in Zorn geraten ist und daß in diesen so klaren Augen die Mordlust lauert; die Materie aber ist verfeinert; je mehr man sie beobachtet, desto mehr entdeckt man ihre unglaubliche Empfänglichkeit, die – leider – in beiden Richtungen funktioniert. Hundert-fach, tausendfach wird der Sucher mit diesen Mikro-taifunen konfrontiert, mikroskopischen Wirbeln, die auf einen Schlag das Gleichgewicht des Wesens umstürzen, alles einnebeln, in der geringsten Geste einen Geschmack von Asche und Verzweiflung hinterlassen, die Luft, die man atmet, zersetzen, alles zersetzen – eine allgemeine und augenblick-liche Zersetzung, eine Sekunde lang, zehn Sekun-den lang. Eine Verhärtung von allem. Und der Sucher wird plötzlich von Müdigkeit übermannt, er sieht die Krankheit kommen – und in der Tat kommt sie im Galopp. Welche Krankheit? – Die Krankheit. Und dahinter lauert der Tod. In einer Se-kunde, zehn Sekunden gelangt man direkt zur Sa-che, berührt den wunden Punkt, es ist unwiderlegbar gegenwärtig, die gesamte Mechanik offengelegt. Wie ein plötzlicher Appell an den Tod. Und hier, draußen, ist alles beim alten. Die Umstände sind die alten, die Gesten sind die alten, die Sonne scheint wie gehabt und der Körper wandert hin und her wie üblich. Doch alles ist verändert. Es ist ein Blitztod, eine Instant-Cholera. Dann zerfließt es wieder, löst sich auf wie Nebel, und man weiß kaum warum. Gibt man al-lerdings nach, wird man wirklich krank, bricht sich das Bein, hat einen wirklichen Unfall. Und der Sucher beginnt das Warum dieser mikroskopischen Umstürze des Gleichgewichts zu verstehen. Er ist einer Hölle in Miniaturformat auf die Spur gekom-men, die vielleicht der erste Samen des großen Übels mit Millionen Gesichtern ist, das erste Verhärten der großen seligen Versteinerung des To-des. Alles ist dort in diesem schwarzen Funken en-thalten. An dem Tag aber, an dem wir die winzige vergiftete Schwingung packen, halten wir das Ge-heimnis der Unsterblichkeit oder wenigstens einer beliebigen Lebensverlängerung. Man stirbt, weil man nachgibt, und man gibt in Tausenden von unmerk-lichen Augenblicken nach. Jeden Augenblick gilt es, seine Entscheidung zwischen Leben und Tod zu erneuern.

Dies ist allerdings noch immer eine negative und menschliche Art, die Erfahrung anzugehen. Tatsächlich möchte die Har-monie, die wunderbare Harmonie, welche die Dinge leitet, uns nicht die Gesetze der Hölle lehren, und seien es Höllen in Miniatur, sie sucht das sonnige Gesetz. Sie schleudert uns ihre Taifune, ihre Krank-heiten entgegen, stürzt uns in das schwarze Loch, nur solange es unbedingt notwendig ist, um die Lek-tion zu lernen, keine Minute länger; und von der Se-kunde, da wir dieses Sonnenkorn aufgreifen, den le-isen Ton, den wunderbaren ruhigen Fluß im Herzen der Dinge, verändert sich alles, wird alles gut und wendet sich zum Licht: es ist ein augenblickliches Wunder. Genau genommen ist es kein Wunder, das Wunder ist überall, in jedem Augenblick, es ist die eigentliche Natur des Universums, seine Luft, seine Sonne, sein Atem der Harmonie. Wir versperren nur diesen Weg, errichten unsere Mauern, unsere Wis-senschaften, unsere Millionen Apparate, die es “besser wissen” als die Harmonie. Man muß den Fluß fließen lassen, geschehen lassen – es gibt kein anderes Geheimnis. Sie “stößt uns nicht hinab”, um uns zu erdrücken oder zu strafen, sondern um uns die Technik der Meisterschaft zu lehren. Sie möchte, daß wir wahre Meister ihres solaren Geheimnisses seien, daß wir voll und ganz das seien, was wir im-mer waren, frei und königlich und voller Freude, und sie wird auf unsere elenden Geheimnisse einhäm-mern und weiter einhämmern, bis wir gezwungen sind, an ihr Sonnentor zu schlagen, die Hände zu öffnen und ihre Süße über die Welt und in unsere Herzen fließen zu lassen.

Denn es gibt ein noch größeres Geheimnis. Wir stehen vor diesem ungeheuren Universum, das vor Schwierigkeiten und Negationen und Hindernissen nur so platzt – alles ist eine Art fortwährender Unmöglichkeit, die es kraft der Intelligenz, des Willens, der spirituellen oder ma-teriellen Muskeln zu überwinden gilt. Tun wir dies aber, stellen wir uns auf die Seite der Raupe, auf die Seite des außer sich geratenen Gnoms in seinem Todesloch. Und da wir an die Schwierigkeit glauben, sind wir gezwungen, an unsere eisernen oder weni-ger eisernen Muskeln zu glauben – die in jedem Falle in die Brüche gehen. Und wir glauben an den Tod, glauben an das Übel, glauben an das Leiden, dem Maulwurf gleich, der an die Tugenden seiner Tunnels glaubt. Und durch unseren grotesken und morbiden Glauben, unseren jahrtausende-alten Glauben, unseren Blick des grauen Elfs haben wir die Schwierigkeit erhärtet, haben sie mit einem Heer von Apparaten und Abhilfen ausgestattet, welche sie alle noch mehr aufblähen und in ihrem unerbittlichen Gleis fixieren. Eine ungeheure Illusion des Elfs hält die Welt umfangen. Ein ungeheurer Tod erdrosselt sie, der nur unsere Angst vor der Unsterblichkeit ist. Ein ungeheures Leiden zerreißt sie, das nur unsere Verweigerung der Freude und der Sonne ist. Und alles ist bereits hier, alle möglichen Wunder unter der großen freien Sonne, alle erträumten und uner-träumten Möglichkeiten, alle einfachen, spontanen und natürlichen Meisterschaften, all die einfachen Kräfte der großen Harmonie. Und sie wünscht nichts mehr, als in die Welt zu strömen, durch unsere Kanäle und Körper zu fließen, sie wünscht nur, daß wir ihr Einlaß gewähren. Und lassen wir unser Ag-glomerat des Fleisches auch nur eine Sekunde von dieser Leichtigkeit, dieser göttlichen Freude, diesem solaren Lächeln durchfluten, schmilzt alles dahin, die Hindernisse lösen sich auf, die Krankheiten verschwinden, die Umstände ordnen sich wie durch ein Wunder, die Finsternis lichtet sich, die Mauer fällt – als hätte es sie niemals gegeben. Und wieder ist es nicht eigentlich ein Wunder: es ist allein das Wiederherstellen der Einfachheit, die Reinstitution der Wirklichkeit. Der harmonische Punkt hier tritt mit der Harmonie überall in Verbindung und führt die Harmonie spontan, automatisch, augenblicklich und überall herbei (oder wieder herbei), in dieser Geste, jenem Umstand, dieser Rede, jener Konstellation der Dinge – und alles ist eine wunderbare Übereinstim-mung, denn alles fließt entsprechend der Gesetz-mäßigkeit. Die Mauern hat es niemals gegeben, die Hindernisse hat es niemals gegeben, das Übel, das Leiden, den Tod hat es niemals gegeben, wir jedoch blickten mit dem Blick des Übels, dem Blick des Lei-dens und dem Blick des Todes und dem Blick des gefangenen Elfen – die Welt ist so, wie wir sie se-hen; die Welt ist so, wie wir sie wollen; wohnt uns ein anderer Blick inne, kann alles transformiert werden. “Meine Kinder”, sagte jene, die Sri Aurobindos Werk fortsetzte, “ihr alle lebt in einem ungeheuren Meer von Schwingungen, und ihr merkt es nicht einmal! Denn ihr seid nicht empfänglich. Es gibt in euch einen solchen Widerstand, daß, wenn etwas durchzudringen vermag, drei Viertel von dem, was eintritt, mit Gewalt zurückgewiesen und nach außen geworfen wird, da man es nicht in sich halten kann ... Nehmt einfach das Bewußtsein der Kräfte – wie die Kraft der Liebe oder die Kraft des Verstehens oder die Kraft der Schöpfung (es gilt für alle: für die Kraft des Schutzes, die Kraft des Wachstums, die Macht des Fortschritts, für alle) –, nehmt das Bewußtsein, ganz einfach dieses Bewußtsein, das alles umhüllt, alles durchdringt, überall gegenwärtig ist, in allem enthalten ist, und es wird beinahe empfunden wie eine Gewalt, die sich dem Wesen, welches sich weigert, aufdrängen will ... Wäre man hingegen offen und atmete einfach – das ist alles, man tut nur das –, so würde man das Bewußtsein einatmen, das Licht, das Verständnis, die Kraft, die Liebe und alles an-dere33.” Alles ist unmittelbar vor unseren Augen gegenwärtig, das vollständige Wunder der Welt, das allein auf un-sere Zustimmung wartet, auf unseren Blick des Glaubens an die Schönheit, des Glaubens an die Freiheit, des Glaubens an die höchste Möglichkeit, die an unsere Türen, an unsere Mauern der Intelli-genz und des Leidens und der Kleinlichkeit hämmert. Das ist der höchste “Wandel der Macht”, der an die Tore der Welt schlägt und die Nationen meißelt, die Kirchen und die Universitäten meißelt, das Bewußt-sein eines jeden ebenso meißelt wie all unsere ge-ometrischen und wohlgesonnenen Gewißheiten; und öffnet sich das Bewußtsein des Menschen nur ein-mal, ein einziges Mal einem Strahl dieses lebendi-gen Wunders, öffnet sich das Bewußtsein einer ein-zigen Nation unter all unseren blinden Nationen einem Funken dieses Segens, so zerbricht diese unerbittliche Zivilisation, eingemauert in ihre Wissen-schaft, eingemauert in ihre Gesetze, eingemauert in den Elfen des Terrors und des Leidens, zerbricht dieses ungeheure Bollwerk, in das wir geboren wer-den und das uns so unentrinnbar erscheint, so unzerstörbar und triumphierend in seinen schwerfäl-ligen Wundern aus Stahl und Uran, zerbricht dieses gelehrte Gefängnis, in dem wir uns im Kreise dre-hen, genauso schnell, wie es geboren wurde, nichts als einen Haufen Rost zurücklassend. Dann werden wir endlich Menschen sein, oder vielmehr Übermen-schen, werden die Freude erfahren, die natürliche Einheit, die Freiheit ohne Mauern und die Macht ohne Kunstgriffe. Dann wird sich herausstellen, daß all dieses Leiden und diese Mauern und diese Schwierigkeiten, die unser Leben bedrängen, allein der Antrieb der Sonne der Wahrheit sind, eine vorübergehende Gefangenschaft, um unsere Kraft und unser Verlangen nach Weite und unsere Macht der Wahrheit zu stärken, ein Schleier der Täuschung, um unsere Augen vor einem zu starken Licht zu bewahren, ein obskurer Übergang von der instinktiven Spontaneität des Tieres zur bewußten Spontaneität des Übermenschen, und daß alles ein-fach ist, unvorstellbar einfach wie die Wahrheit selbst und unvorstellbar leicht wie die Freude, welche diese Welten gebar, denn in Wahrheit ist “der Weg der Götter ein Sonnenweg, auf dem die Schwierigkeiten alle Realität verlieren34”.

12 Die Soziologie des Übermenschen

Dieser Wandel der Macht für sich allein genommen würde nicht genügen, um die Welt zu verändern, wenn er sich auf einige wenige Individuen beschränkte. Tatsäch-lich hat der Sucher gleich zu Beginn, bei seinen er-sten Schritten erkannt, daß dieser Yoga des Über-menschen kein individueller Yoga ist – obwohl das Individuum Ausgangspunkt und Instrument der Ar-beit ist – sondern ein kollektiver Yoga, eine Art kon-zentrierter Evolution, bei der das Individuum lediglich der Außenposten ist, der Verbreiter der Möglichkeit, der Verkörpernde und Verteiler der neuen Schwin-gung. Es ist ein Yoga der Erde. Denn was bedeutet schon ein bewundernswerter Übermensch, der ein-sam und verlassen auf seinem eitlen Thron der Harmonie sitzt! Aber wir können uns gut vorstellen, daß die ersten Primaten, die, ohne es zu wissen, dem Yoga des Mentals folgten, nicht gleich in Le-gionen aufgetreten sind, und doch hat sich die men-tale Möglichkeit von einem zum anderen übertragen. Sie lag sozusagen in der Luft und übte Druck auf die alte Ordnung der Affen aus. In ähnlicher Weise gibt es nun die übermenschliche Möglichkeit, sie liegt in der Luft, ihre Zeit ist gekommen, sie hämmert bis zum Überdruß auf eines jeden Bewußtsein und auf alle Länder ein – die Menschen folgen dem Yoga des Übermenschen, ohne es zu wissen oder zu wol-len. Hier tragen wir keine Theorie vor sondern eine evolutionäre Tatsache, egal ob sie uns gefällt oder nicht. Es besteht allerdings ein kapitaler Unterschied zwischen der prämentalen Epoche und der unsrigen: eines jeden Bewußtsein, sei es auch vermauert oder widerspenstig, finster oder kleinlich, hat jetzt die Möglichkeit, die Bedeutung seiner eigenen Evolution zu erfassen, um dadurch den Vorgang zu beschleunigen und sich dem Prozeß zur Verfügung zu stellen. Darin lag der ganze wahre Zweck der mentalen Epoche, sie führte uns auf unwidersteh-liche Weise zu dem Punkt, wo wir zu etwas anderem übergehen müssen, alle gemeinsam, mittels genau der Bewußtseinsentwicklung und der Kraft, die wir, jeder für sich und jedes Land für sich, in seiner kleinen individuellen Seifenblase angesammelt ha-ben. Und die neue Ebene der Integration wird beweisen, daß der Übermensch kein Verwerfen des Menschen ist sondern seine Erfüllung, kein Verwer-fen des Mentals sondern seine Einreihung zwischen zahlreichen anderen bekannten oder unbekannten Instrumenten, die der Mensch einsetzen muß, bis auf den Tag, da er in den Besitz der unmittelbaren Kraft der Wahrheit gelangt.

Dieses Verständnis des großen Ziels – oder sagen wir besser, des näch-sten Ziels, denn die Entwicklung ist unendlich – ist einer der Schlüssel zur kollektiven Verwirklichung. Es genügt ein kleiner Sprung im menschlichen Be-wußtsein, ein kaum vernehmbarer Ruf nach Luft, ein winziges Gebet, eines Tages, einfach so, ohne Grund, damit die neue Möglichkeit herbeieilt und un-sere gesamte Weise zu sehen und zu handeln verändert: sie erwartet keine großen Anstrengungen oder schwierigen Disziplinen, das haben wir gesagt, sie erwartet einen Augenblick der Hingabe, einen winzigen Schrei innen, eine kleine Flamme, die er-wacht. Und haben die Menschen – einige Menschen – einmal von diesem Wein geschmeckt, werden sie nie wieder die alte Routine des Leidens aufnehmen können.

Welche Rolle haben also jene, die zu verstehen und vielleicht zu erfahren beginnen? Wie ist ihre Arbeit in den unbewußten Yoga der Menschheit einzugliedern? Wie kann die Bewegung verallgemeinert und beschleunigt wer-den? Welche Art kollektiver Verwirklichung können sie in die Welt tragen als Beispiel für das, was kom-men wird?

Die erste Welle dieses neuen Bewußtseins ist deutlich sichtbar, so chaotisch wie nur vorstellbar, sie bemächtigt sich der Menschen, ohne daß sie es verstehen, ihre Gezeiten sind überall zu beobachten: die Menschen sind rast-los und ihrer Richtung unsicher geworden. Sie begaben sich auf die Suche nach etwas, das sie nicht begriffen, das sie aber von innen drängte und trieb, sie machten sich auf den Weg nach Irgendwo, schlugen an alle Türen, die guten ebenso wie die schlechten, stürmten Mauern und Windmühlen, oder sie ließen auf einen Schlag, vom Lachen geschüttelt, Sack und Pack stehen und kehrten der alten Ord-nung den Rücken. Es ist vollkommen normal, daß die erste Reaktion aus der Reihe fällt, verläßt sie doch, per definitionem, den alten Kreislauf, wie die Primaten, die plötzlich die instinktive Weisheit ihrer Horde verließen. Jeder Übergang zu einem höheren Zustand des Gleichgewichts bedeutet zuallererst einen Bruch und eine allgemeine Störung des alten Gleichgewichts. Diese Übermenschenlehrlinge, die einander nicht einmal kennen, sind deshalb wahr-scheinlich unter den unorthodoxen Elementen der Gesellschaft anzutreffen, unter den sogenannten “Taugenichtsen”, den Bastarden, den Widerspensti-gen im allgemeinen Gefängnis, den Rebellen, die nicht wissen, gegen was sie kämpfen, die nur wis-sen, daß sie nicht mehr wollen; es sind die neuen Kreuzritter ohne Kreuzzug, die Partisanen ohne Partei, die “Dagegen”, die so gegen alles sind, daß sie das Wider so wenig wollen wie das Für, die das ganz Andere wollen, ohne Mehr oder Weniger, ohne Offensive oder Defensive, ohne Schwarz, Gut, Ja oder Nein, das vollkommen Andere und vollkommen außerhalb der Pirouetten und Rückläufe der Mechanik Liegende, das sie wieder in ihren Netzen der Negation zu fangen versucht, wie es sie vorher in den Netzen der Affirmation gefangen hatte. Oder, am anderen Ende des Spektrums, sind die Über-menschenlehrlinge vielleicht unter jenen zu finden, die den langen Weg des Mentals durchlaufen haben, seine Labyrinthe, sein endloses Mahlen, seine Ant-worten, die nichts beantworten und nur weitere und immer weitere Fragen aufwerfen, seine Lösungen, die nichts lösen, und seine ganze quälende Runde – und dann seine plötzliche Nichtigkeit am Ende des Weges, nach Millionen Fragen und Millionen Tri-umphen, die alle scheitern, ein kleiner Schrei am Ende, der Schrei eines Menschen vor dem Nichts, der plötzlich wie ein entwaffnetes Kind dasteht, als wären all diese Tage und Jahre und Mühen nie gewesen, als wäre nichts passiert, keine einzige wahre Sekunde in dreißig Jahren! Auch diese bege-ben sich dann auf den Weg. Auch dort besteht eine Lücke für das Mögliche.

Aber genau die Bedingungen für das Entwurzeln der alten Ordnung bergen über lange Zeit die Gefahr, die Suche nach der neuen Ordnung zu verfälschen. Zunächst exist-iert diese neue Ordnung nicht: es gilt, sie erst zu schaffen. Eine ganze Welt ist zu erfinden. Und der Sucher des Übermenschen – oder sagen wir ein-facher, der Sucher nach “etwas anderem” – muß sich über eines im klaren sein: das Gesetz der Frei-heit ist ein forderndes Gesetz, unendlich viel for-dernder als all die Gesetze, die uns die Mechanik aufzwingt. Es gilt nicht, in irgend etwas hi-neinzuschlittern sondern methodisch tausend kleine Hörigkeiten und Versklavungen zu entwurzeln, nicht alles aufzugeben sondern im Gegenteil für alles Verantwortung zu übernehmen, denn wir wollen unter der Verantwortung von nichts und niemand mehr stehen. Es bedeutet eine höchste Lehre der Verantwortlichkeit – diejenige, ganz und gar sich selbst zu sein, was letztlich bedeutet, alles und alle zu sein. Es ist keine Flucht sondern ist eine Er-oberung, es sind keine Ferien von der Mechanik sondern ein großes Abenteuer im Unbekannten des Menschen. Und alles, was die höchste Freiheit hemmen könnte, auf gleich welchem Niveau und unter gleich welchem Anschein, muß so heftig bekämpft werden wie die Ordnungskräfte und Ge-setzgeber der alten Welt. Wir verlassen nicht die Sklaverei der alten Ordnung, um der schlimmeren Sklaverei unserer selbst zu verfallen – der Sklaverei der Drogen, der Sklaverei einer Partei, der Sklaverei dieser oder jener Religion, dieser oder jener Sekte, einer goldenen oder weißen Seifenblase; wir suchen diese einzige Freiheit, die darin besteht, allem gegenüber ein Lächeln zu bewahren und überall leicht zu sein, in der Blöße wie im Gepränge, in einer Zelle nicht anders als in Palästen, in der Leere gleichwie in der Fülle – und alles ist die Fülle, denn wir brennen mit der einen kleinen Flamme, die alles für immer besitzt.

Was werden sie tun, diese Wanderer zwischen den Welten, diese No-maden einer neuen Heimat, die noch nicht existiert? Zuerst einmal werden sie sich vielleicht überhaupt nicht bewegen. Vielleicht werden sie verstanden ha-ben, daß es die Veränderung innen zu bewirken gilt und daß, falls sich innen nichts verändert, über aber-tausend Jahre niemals etwas außen verändert wer-den wird. Vielleicht bleiben sie genau dort, wo sie sind, an einer kleinen Straße, in einem grauen Land, unter einer bescheidenen Verkleidung, bei einer al-ten Routinetätigkeit, die aber keine Routine mehr sein wird, weil sie alles mit einem anderen Blick, auf eine andere Weise, in einer anderen Haltung tun – mit einem inneren Sinn, der alle Sinne verändert. Und beharren sie, werden sie feststellen, daß dieser einzige kleine Tropfen wahren Lichtes, den sie in sich tragen, heimlich die Macht hat, alles um sie herum zu verändern. In ihrem unscheinbaren kleinen Kreis werden sie für die neue Welt gearbeitet und ein wenig mehr Wahrheit auf die Erde gebracht haben. Aber in Wahrheit ist kein Kreis klein, der dieses Zen-trum besitzt, denn es ist das Zentrum von allem. An-dererseits fühlen sie vielleicht eines Tages den Im-puls, sich ihren Gesinnungsgenossen der neuen Welt anzuschließen, um mit ihnen ein lebendiges Zeugnis ihrer Aspiration zu errichten, so wie andere Pyramiden oder Kathedralen bauten, warum nicht eine Stadt der neuen Welt? Und dort beginnt ein großes Vorhaben und eine große Gefahr.

Wir wurden in einem so hohen Maße mechanisiert, veräußerlicht, aus uns selbst katapultiert durch unsere Gewohnheit, uns auf die eine oder andere Mechanik zu verlassen, daß unser erster Reflex immer darin besteht, nach äußeren Mitteln zu suchen, das heißt, nach Kunstgriffen, denn alle äußeren Mittel sind künstlich, die alte Lüge also. Wir werden deshalb versucht sein, die Idee, das Vorhaben über die Medienkanäle zu verbreiten, die uns allen bekannt sind, kurz, die größtmögliche Zahl von Anhängern für die neue Hoffnung zu versammeln – die damit schnell zur neuen Religion wird. Hier ist es angebracht, Sri Aurobindo zu zitieren und allen unzweideutig und mit Nachdruck seine kategorische Erklärung einzuhäm-mern: “Ich halte nichts von Anzeigen, es sei denn für Bücher, und nichts von Propaganda, außer für Politik und pharmazeutische Präparate. Für ernsthafte Ar-beit hingegen ist das Gift. Es bedeutet entweder Schaumschlägerei oder Stimmungsmache – und das eine wie das andere erschöpft die Sache, welche es auf seinem Wellenkamm trägt, und läßt sie leblos und zerbrochen als Strandgut am Ufer von nirgendwo zurück – oder aber es bedeutet eine Bewegung. Eine Bewegung im Falle einer Arbeit wie der meinen bedeutet die Gründung einer Schule oder Sekte oder irgendeines anderen verdammten Unsinns. Es bedeutet, daß Hunderte oder Tausende von unnützen Leuten sich anschließen und die Arbeit korrumpieren oder sie auf eine pompöse Farce re-duzieren, aus der die Wahrheit, die begonnen hatte herabzukommen, sich in Geheimnis und Schweigen zurückzieht. Das ist den Religionen passiert, und es ist der Grund ihres Scheiterns35.” Gewiß sind alle Men-schen, in der Tat die gesamte Erde, Teil der Über-menschheit, das ABC des neuen Bewußtseins aber, sein Schlüsselprinzip, ist die Vielfalt in der Einheit; und den Übermenschen im voraus auf einen vorge-fertigten Rahmen, ein privilegiertes Ambiente, einen angeblich einzigartigen und stärker erleuchteten Ort als alle anderen beschränken wollen bedeutet, in die alte Farce zurückzufallen und einmal mehr das alte menschliche Ego aufzublasen. Man muß sich dem Gesetz der Harmonie anvertrauen, das auf tausenderlei Art unter tausenderlei Maskierung vor-geht und letztlich die Myriaden Töne seines großen unteilbaren Flusses in einem grenzenlosen Raum vereinigt. Das Vorhaben wird überall zugleich ge-boren – es ist bereits geboren, stammelt hier und dort, schlägt noch unwissend gegen die Mauern – und es wird erst dann nach und nach sein wahres Gesicht enthüllen, wenn die Menschen es nicht mehr in ein System, eine Logik oder einen Schrein einsperren können: wenn alles hier unten Schrein ist, in jedem Herzen und in jedem Land. Und die Men-schen werden nicht einmal wissen, wie sie auf ein solches Wunder vorbereitet wurden.

Diejenigen, die ein wenig wissen, die die große Woge der Wahrheit erahnen und wahrzunehmen beginnen, stolpern de-shalb nicht in die Falle der “Rekrutierung von Über-menschen”. Die Erde ist ungleich vorbereitet, die Menschen sind spirituell ungleich, trotz all unserer demokratischen Proteste – obwohl sie im großen Selbst im wesentlichen gleich sind und weit sind, ein einziger Körper mit Millionen Gesichtern –, sie ha-ben noch nicht alle die ihnen eigene Größe erreicht: sie sind auf dem Weg, einige trödeln, während an-dere schneller voranzukommen scheinen, doch die Umwege der einen sind ebenfalls Teil der großen Geographie unseres unsichtbaren Reichs, die Verzögerung oder Bremswirkung, die sie auf unsere Bewegung auszuüben scheinen, ist Teil der Abrundung zur Vollkommenheit, die wir anstreben, und sie zwingen uns zu einer größeren Präzision der Wahrheit. Auch sie gelangen dorthin, auf ihrem ei-genen Weg, und was liegt schließlich außerhalb des Weges, da alles der Weg ist? Die-jenigen, die ein wenig wissen oder ahnen, wissen in erster Linie, weil sie es in ihrem eigenen Fleisch erfahren haben, daß Menschen durch Kunstgriffe niemals wirklich zue-inander gebracht werden – und sollten sie auf ihren Kunstgriffen beharren, kollabiert letztlich alles, und die “Versammlung” ist kurz, ebenso die schöne Schule, die nette Sekte, die kleine schillernde Seifenblase eines Moments der Begeisterung oder des Glaubens –, sie werden durch ein feineres und umsichtigeres Gesetz zusammengebracht, ein win-ziges inneres Leuchtfeuer, das flackert, zwinkert und sich selbst kaum kennt, jedoch die Zeiten und die Räume durchquert, hier oder dort auf einen äh-nlichen Strahl trifft, seine Zwillingsfrequenz, eine Lichtquelle der gleichen Intensität – und man schre-itet weiter. Man geht, ohne zu wissen, nimmt diesen Zug, jenes Flugzeug, durchläuft dieses Land und jenes andere, glaubt dies oder jenes zu suchen, dieses Abenteuer, jene Exotik zu verfolgen, eine bestimmte Droge oder Philosophie – glaubt man. Man glaubt viele Dinge. Man meint, diese Macht oder jene Lösung ergattern, dieses Allheilmittel oder jene Revolution erobern, diesen Slogan oder jenen anderen skandieren zu müssen; man glaubt aufge-brochen zu sein wegen dieses Dursts oder jener Revolte, einer enttäuschten Liebe oder einem Bedürfnis nach Aktion, einer Hoffnung oder dieser alten unlösbaren Verstrickung in seinem Herzen. Schließlich aber ist es nichts von alldem! Eines Tages hält man inne, ohne zu wissen warum, ohne dort hingewollt zu haben, ohne diesen Ort oder dieses Gesicht gesucht zu haben, diesen unbedeu-tenden Weiler unter den Sternen dieser oder jener Hemisphäre – und es ist da: man ist angekommen. Man hat sein eines Tor geöffnet, sein gleiches Feuer gefunden, diesen immer gekannten Blick, und man befindet sich genau dort, wo es notwendig ist, in der Minute, wo es notwenig ist, um die Arbeit zu verrich-ten, die getan werden muß: Die Welt ist ein fabel-haftes Uhrwerk, wüßten wir nur das Geheimnis die-ser kleinen Feuer, die in einem anderen Raum glühen, auf einem großen inneren Weltenmeer tan-zen, über das unsere Nachen segeln, wie bewegt von einem unsichtbaren Leuchtfeuer.

*

Es sind zehn oder zwanzig, vielleicht fünfzig, hier oder dort, auf diesem oder jenem Breitengrad, die sich danach sehnen, ein wahreres Stück Erde zu bearbeiten, ein kleines Stück Mensch zu bearbeiten, um ein wahreres We-sen in sich zum Wachsen zu bringen, vielleicht zusammen ein Labor des Übermenschen zu schaf-fen, einen Grundstein für die Stadt der Wahrheit auf Erden zu legen. Sie sind unwissend, sie wissen nichts, außer daß sie nach etwas anderem dürsten und daß es ein Gesetz der Harmonie gibt, ein wunderbares “Etwas” der Zukunft, das sich zu verkörpern sucht. Und sie versuchen, die Bedingun-gen dieser Verkörperung zu finden, sich der Heraus-forderung zu stellen, ihre Substanz diesem lebendi-gen Experiment hinzugeben. Sie wissen nichts, außer daß sich alles verändern muß: in den Herzen, in den Gesten, in der Materie und im Umgang mit der Materie. Sie versuchen nicht, eine neue Zivilisa-tion zu schaffen sondern einen anderen Menschen, keine Superstadt unter den Millionen Bauwerken der Welt sondern einen Horchposten für die Kräfte der Zukunft, ein höchstes Yantra der Wahrheit, eine Leitung, einen Kanal, um einen ersten Ton der großen Harmonie, ein erstes greifbares Zeichen der neuen Welt zu erfassen und in die Materie einzumeißeln. Sie sind die Verfechter von keiner Sa-che, sie sind die Verteidiger von keiner Freiheit, die Aggressoren keines “-ismus”: sie versuchen es ein-fach zusammen, sind die Vorkämpfer ihres eigenen kleinen und reinen Tones, der anders ist als der aller Nachbarn und der doch der Ton der ganzen Welt ist. Sie sind nicht mehr einem Land, einer Familie, einer Religion oder einer Partei zugehörig: sie haben die Partei ihrer selbst ergriffen, welche die Partei von niemand anderem ist und dennoch die Partei der Welt, denn das, was in einem Punkt wahr wird, wird für die ganze Welt wahr und verbindet die ganze Welt; sie gehören einer Familie an, die es noch zu erfinden gilt, einem Lande, das noch nicht geboren ist. Sie versuchen nicht, andere oder irgend jeman-den zu verbessern, die Welt mit ihrer Wohltätigkeit zu überschütten, die Armen und Leprakranken zu pflegen: sie versuchen, in sich selbst die große Ar-mut der Kleinlichkeit, den grauen Elf des innersten Elends zu heilen, in sich selbst ein einziges kleines Stückchen von Wahrheit, einen winzigen Strahl der Harmonie zu erobern, denn ist diese Krankheit in unserem eigenen Herzen oder in einigen Herzen ge-heilt, wird die ganze Welt sich erleichtert finden, und durch unsere Klarheit wird das Gesetz der Wahrheit besser in die Materie eindringen und spontan ring-sumher ausstrahlen. Welche Befreiung, welche Er-leichterung kann jener der Welt bringen, der in seinem eigenen Herzen leidet? Sie arbeiten nicht für sich selbst, auch wenn sie das primäre Erfahrungs-feld darstellen, sondern in reiner und einfacher Hin-gabe für das, was sie noch nicht wirklich kennen, das aber am Rande der Welt bebt wie die Morgen-röte eines neuen Zeitalters. Sie sind die Goldschür-fer eines neuen Zyklus. Sie haben sich mit Hab und Gut der Zukunft hingegeben, wie man sich, ohne zurückzublicken, ins Feuer wirft. Sie sind die Diener des Unendlichen im Endlichen, der Totalität im Kleinsten, der Ewigkeit in jedem Augenblick. Sie er-schaffen ihren Himmel mit jedem Schritt und en-treißen die neue Welt der Banalität des Tages. Sie fürchten keine Fehlschläge, denn sie haben ihre Fehlschläge samt den Erfolgen des Gefängnisses hinter sich gelassen – sie leben in der einzigen Un-fehlbarkeit eines kleinen wahren Tons.

Jedoch gilt es für die Erbauer der neuen Welt, sich gut vorzusehen, kein neues Gefängnis zu bauen, und sei es auch ein ideales und erleuchtetes. Tatsächlich werden sie sehr schnell begreifen, daß diese Stadt der Wahrheit nicht sein wird und nicht sein kann, solange sie nicht in sich selbst vollkommen in Wahrheit stehen, und daß diese Welt, die zu erbauen ist, zuallererst und vor allem das Feld ihrer eigenen Transformation rep-räsentiert. Die Wahrheit kann man nicht täuschen. Man kann die Menschen täuschen, Reden halten und Prinzipserklärungen abgeben, die Wahrheit aber lacht darüber: sie ertappt dich in flagranti und wirft dir deine Täuschung bei jedem Schritt wieder ins Ge-sicht. Sie ist ein unerbittliches Leuchtfeuer, auch wenn sie unsichtbar ist. Und sie ist sehr einfach, sie ertappt dich in allen Ecken und Schlupfwinkeln, und da sie eine Wahrheit der Materie ist, zerstört sie deine Pläne, hindert deine Geste, stellt dich unver-mittelt vor einen Mangel an Material, einen Mangel an Arbeitern, einen Mangel an Geld, provoziert einen Aufruhr, hetzt die Menschen gegeneinander, sät Unmöglichkeit und Chaos – solange, bis der Sucher plötzlich versteht, daß er einen falschen Weg eingeschlagen hatte, daß er das alte Lügengebäude mit neuen Bausteinen errichtete, seinen kleinen Ego-ismus veräußerlichte, seinen kleinen Ehrgeiz, sein kleines Ideal, seine dürftigen Ideen vom Wahren und Guten. Dann öffnet er die Augen, öffnet die Hände, bezieht sich wieder auf das große Gesetz, läßt den Rhythmus fließen und macht sich hell, klar, trans-parent und geschmeidig für die Wahrheit, dieses Et-was, das sein will – für alles und jeden, solange es nur das ist, die genaue Geste, der richtige Gedanke, die wahre Arbeit, die reine Wahrheit, die sich so ausdrückt, wie sie will und wann sie will. Eine Sekunde lang gibt er sich hin. Eine Sekunde lang ruft er diese neue Welt – so neu, daß er nichts von ihr versteht, ihr aber dienen will, sie inkarnieren, sie auf dieser rebellischen Erde zum Wachsen bringen will, und welchen Unterschied macht es, was er darüber denkt, fühlt oder für richtig erachtet? Auf daß es echt sei, das einzig Gewollte und Unvermeidliche! Und in einer Sekunde kehrt sich alles zum Licht. Alles wird augenblicklich möglich: das Material trifft ein, die Ar-beiter, das Geld; die Mauer stürzt zusammen, und das kleine egoistische Gebäude, das er aufzubauen im Begriffe stand, verwandelt sich in eine dyna-mische Möglichkeit, die er nicht einmal erahnt hatte. Hundertmal, tausendmal macht er die Erfahrung, auf allen Ebenen, persönlich, kollektiv, bei der Reparatur des Schlafzimmerfensters oder in den Millionen, die als “wahrer Segen” plötzlich wie vom Himmel fallen, um ein olympisches Stadion zu bauen. Niemals gibt es “materielle Probleme”, es gibt einzig und allein innere Probleme. Und ist keine Wahrheit darin, ver-rotten selbst die Millionen an Ort und Stelle. Das ist die fabelhafte Erfahrung einer jeden Minute, ein Prüf-stein der Wahrheit, und noch wunderbarer, ein Prüf-stein der Macht der Wahrheit. Er lernt Schritt für Schritt die Effektivität der Wahrheit kennen, die höchste Effektivität einer kleinen klaren Sekunde – er betritt eine Welt kleiner kontinuierlicher Wunder. Er lernt, der Wahrheit zu vertrauen, als führten alle “Schicksalsschläge”, alle Fehler und Streitereien, alles Durcheinander ihn wissend, geduldig, jedoch unerbittlich dazu, die richtige Haltung einzunehmen, den wahren Hebel, den wahren Blick zu entdecken, den Schrei der Wahrheit, der die Mauern einstürzen und alle Möglichkeiten im unmöglichen Chaos zum Ausbruch kommen läßt. Eine beschleunigte Trans-mutation findet statt, die sich durch die Widerstände gleichwie den guten Willen eines jeden potenziert – als müßten in Wahrheit sowohl Widerstände als auch Wohlwollen, das Gute wie das Böse sich in et-was anderes verwandeln, einen anderen Willen, eine Willens-Vision der Wahrheit, die in jedem Augenblick Geste und Tat entscheidet. Dies ist das einzige Ge-setz der Zukunftsstadt, seine einzige Regierung: eine klare Vision, die sich mit der totalen Harmonie in Einklang bringt und die wahrgenommene Wahrheit spontan in die Tat umsetzt. Die Fälscher werden durch den Druck der Kraft der Wahrheit automatisch eliminiert, verdrängt wie die Fische durch einen Überschuß an Sauerstoff. Und können die Zehn oder Fünfzig oder Hundert eines Tages eine einzige kleine Pyramide der Wahrheit erbauen, in der jeder Stein mit dem richtigen Ton, der richtigen Schwin-gung, der einfachen Liebe, dem klaren Blick und dem Ruf der Zukunft gesetzt wurde, wäre damit in Wahrheit die ganze Stadt gebaut, denn sie hätten in sich selbst das Wesen der Zukunft erbaut. Und vielleicht wäre die ganze Erde dadurch transformiert, denn es gibt nur einen Körper: die Schwierigkeit des einen ist die Schwierigkeit der Welt, dieser Wider-stand, die obskure Haltung des anderen ist der Wid-erstand und die Obskurität der ganzen Welt, und dieses winzige Vorhaben einer kleinen Stadt unter den Sternen ist vielleicht das eigentliche Vorhaben der Welt, das Symbol ihrer Transmutation, die Al-chemie ihres Schmerzes, die Möglichkeit einer neuen Erde durch die Transfiguration eines einzigen Stücks Erde, einer kleinen Parzelle des Men-schen.

Insofern ist es wahr-scheinlich, daß diese zu erbauende Stadt über einen längeren Zeitraum ein Ort sein wird, wo der unerbit-tliche Druck des Leuchtfeuers der Wahrheit die negativen Möglichkeiten ebenso verschärft wie die positiven. Und die Lüge versteht die Kunst, sich an belanglose Details zu hängen, so wie der Wider-stand, sich an unbedeutende Banalitäten zu heften, die zum Symbol der Weigerung selbst werden – die Lüge versteht sich darauf, große Opfer zu bringen, sie weiß sich zu zügeln, zu idealisieren, Verdienste und Pluspunkte einzuheimsen, aber im Kleinen, da verrät sie sich: das ist ihre letzte Zuflucht. Die Partie wird tatsächlich in der Materie ausgespielt. In der Tat ist diese Zukunftsstadt ein Schlachtfeld, ein schwieriges Abenteuer. Das, was drüben mit Maschinengewehren, Guerillas oder glorreichen Taten entschieden wird, entscheidet sich hier in er-bärmlichen Details und einer unsichtbaren Verschwörung der Lüge. Doch ein einziger Sieg über den kleinlichen menschlichen Egoismus zieht schwerwiegendere Konsequenzen für die Erde nach sich als eine Neuordnung aller Grenzen Asiens, denn diese Grenze und dieser Egoismus sind die ursprünglichen Stacheldrähte, die die Welt zerteilen.

*

Eigentlich könnte der Übermenschenlehrling seine Schlacht sehr bald be-ginnen, nicht nur in sich selbst sondern auch in seinen Kindern, und nicht erst bei der Geburt des Kindes sondern bereits von dessen Empfängnis an.

Wir werden unter einer bleiernen Glocke geboren. Sie umschließt uns fest, ist hermetisch und unsichtbar, aber trotzdem gegenwärtig, sie bestimmt unsere geringsten Gesten, unsere kleinsten Reaktionen. Wir entstehen sozusagen “aus einem Stück”, die Aufmachung aber ist nicht die unsrige, weder im Besseren noch im Schlechteren. Sie besteht aus Millionen von Sinnes-wahrnehmungen, die noch keine Gedanken sind sondern wie Keime der Begierden oder des Wider-willens, Gerüche der Furcht, Gerüche der Qual, wie ein subtiler Salpeter, der unsere Höhlenwände be-deckt: Schichten um Schichten der Abwehr und der Verbote und einiger seltener Erlaubnisse, wie dieselbe Flucht vor einem selben dunklen Ansturm in unseren Gängen, und schließlich tief innen ein kleiner erstaunter Blick, der nichts davon versteht, dem man aber schnell das “Leben” beigebracht hat: Gut und Böse, Geometrie und die Gesetzestafeln – ein kleiner Blick, der sich verschleiert, mehr und mehr verschleiert, und der schließlich überhaupt nichts mehr versteht, wenn ihm alles beigebracht wurde. Denn das evidente, natürliche Prinzip besagt, daß ein Kind nichts versteht und daß ihm beige-bracht werden muß, wie man leben soll. Es mag je-doch durchaus sein, daß das Kind sehr wohl ver-steht, wenn auch nicht unseren Vorstellungen gemäß, und daß wir ihm nichts weiter beibringen, als sein Wissen zu vergraben und durch eine künstliche Wissenschaft zu ersetzen, die es schließlich endgültig unter sich begräbt. Und wir verbringen dreißig Jahre unseres Lebens damit, das ab-zubauen, was uns anerzogen wurde, außer wir wären ein besonders arriviertes Exemplar der menschlichen Spezies, das heißt ein definitiv Eingemauerter, selbstzufrieden, willfährig und dip-lomiert. Ein guter Teil der Arbeit besteht also nicht aus dem Erschaffen sondern dem Abstellen dieses Zauberbannes. Man wird uns sagen, dieser Kampf sei fruchtbar, er bereichere uns, bilde Muskeln und Persönlichkeit aus – das aber ist falsch. Er verhärtet uns, gibt uns militante Muskeln und riskiert, uns in ein “Kontra” zu treiben, das so schädlich ist wie das “Pro”, das es bekämpft. Darüber hinaus gibt er uns keine Persönlichkeit sondern eine Maske, denn die wahre Person ist da, ganz da, arglos und weit offen im Blick eines Kindes, das gerade geboren wird – im Kampf fügt man allein das Elend hinzu. Wir glauben absolut, intensiv und blind an die Macht des Leidens: es ist das unterbewußte Kennzeichen unserer ge-samten westlichen Zivilisation der letzten zweitausend Jahre. Und vielleicht war dies ange-sichts der Dickfelligkeit unserer Substanz auch not-wendig. Das Gesetz des Leidens aber ist ein Gesetz der Lüge – was wahr ist, lächelt, das ist alles. Leiden ist das Zeichen der Falschheit, geht mit ihr einher, ist das Produkt der Falschheit. Und zu glauben, daß dieses Leiden uns bereichere, hieße zu glauben, daß Krebs ein göttlicher Segen ist, wiewohl er uns durchaus helfen mag, den Panzer der Lüge zu zer-brechen. Diese negative Tugend hinterläßt, wie alle Tugenden, einen permanenten Schatten in uns, und selbst die durchgebrochene Sonne wird noch davon befleckt. Diese Schläge hinterlassen in Wahrheit und unabdingbar ihre Gegenschläge und ergeben befre-ite Wesen mit versengten Herzen, die sich ihres Lei-dens erinnern. Und diese Erinnerung ist ein Schleier mehr vor dem arglosen Blick. Das Gesetz der Götter ist ein Sonnengesetz. Und vielleicht besteht das ge-samte Werk von Sri Aurobindo und der Mutter darin, der Welt die Möglichkeit eines Sonnenwegs gebracht zu haben, auf dem kein Leiden, kein Schmerz und keine Katastrophe mehr notwendig ist, um sich weiterzuentwickeln.

Der Übermen-schenlehrling glaubt nicht an das Leiden, er glaubt an eine Bereicherung durch Freude, an die Harmo-nie; er glaubt nicht an Erziehung, er glaubt an die Macht der Wahrheit im Herzen aller Dinge und aller Wesen – er hilft dieser Wahrheit lediglich, mit sowenig Hindernissen als möglich zu wachsen. Er vertraut der Macht dieser Wahrheit. Er weiß, daß der Mensch jederzeit unaufhaltsam seinem Ziel ent-gegengeht, trotz allem, was man ihm sagt oder bei-bringt – er sucht allein dieses “Trotzdem” ab-zubauen. Er nährt einzig diesen kleinen Sproß der Wahrheit; und auch das tut er mit Umsicht, denn es gibt Sprößlinge, die sandigen oder felsigen Boden bevorzugen. In dieser Stadt – oder sagen wir besser, in diesem Zukunftslabor – wird das Kind aber bereits unter weniger erstickenden Bedingungen geboren; es wird keiner Gehirnwäsche unterzogen, nicht an jeder Straßenecke von schreienden Plakaten beleidigt, durch Fernsehen verfälscht, durch vulgäre Kinostreifen vergiftet, mit all den Schwingungen von Beklemmung, Angst oder Begierde belastet, die seine Mutter durch “ablenkende” Lektüre, debile Filme oder ein zerrüttetes Zuhause in ihrem Bauch hegt – denn alles gräbt sich seismographisch ein: die kleinste Schwingung, der geringste Stoß, alles richtet sich im Embryo häuslich ein und sammelt sich an. Die alten Griechen wußten das sehr wohl – wie die Ägypter, die Inder –, sie umgaben die Mutter mit einer Atmosphäre von großer Harmonie und Schön-heit, auf daß der Atem der Götter jeden Tag und jeden Atemzug des Kindes durchziehe und alles eine Inspiration der Wahrheit sei. Und wenn die Mutter und der Vater beschlossen, ein Kind zu haben, so taten sie das einem Gebet gleich, als ein Opfer, um die Götter der Zukunft zu inkarnieren. Ein Funke der Aspiration, eine Flamme des Rufs, ein leuchtender Atem im Herzen der Mutter genügt, damit das glei-che Licht, die identische Flamme, die entsprechende Intensität des Lebens antwortet und herbeieilt – und sind wir grau und nichtssagend, so rufen wir allein dieses Grau-in-Grau und die Nichtigkeit jener Mil-lionen erloschener Menschen.

Das Kind dieser Stadt wird mit einer Flamme geboren, es wird be-wußt geboren, willentlich, ohne Jahrtausende von animalischen Ablagerungen oder Abgründe von Vorurteilen auflösen zu müssen; man sagt ihm nicht jeden Augenblick, es müsse seinen Lebensunterhalt verdienen, denn niemand verdient seinen Leben-sunterhalt in der Stadt der Zukunft, niemand hat Geld: das Leben ist dem Dienst der Wahrheit ge-widmet, jeder seiner Fähigkeit und Begabung gemäß, und der einzige Verdienst ist die Freude; es wird nicht auf Schritt und Tritt mit Geboten und Ver-boten belästigt: ihm wird einzig die augenblickliche Traurigkeit demonstriert, nicht auf den kleinen wahren Ton zu hören. Es wird nicht mit der Vorstel-lung gequält, einen Beruf finden zu müssen, Erfolg zu haben, besser als andere zu sein, Klassenprimus statt Klassenletzter zu sein, denn niemand hat Erfolg oder Mißerfolg in der Zukunftsstadt, niemand hat einen “Beruf”, triumphiert über andere: man folgt dem einzigen Beruf eines kleinen klaren Tons, der alles klärt, alles für uns tut, alles lenkt, alles in seiner ruhigen Harmonie eint, und der einzige Erfolg be-steht darin, im Einklang mit sich selbst und mit allem zu sein. Man bringt ihm nicht bei, sich auf einen Meister zu verlassen, sich auf ein Buch zu verlassen, sich auf eine Maschine zu verlassen, sondern sich allein der kleinen Flamme innen anzuvertrauen, die-sem kleinen freudigen Fluß, der die Schritte lenkt, die Entdeckung herbeiführt, es zufällig auf die Erfah-rung stolpern läßt und das Wissen wie spielerisch an den Tag bringt. Und es lernt die verborgenen Mächte seines Körpers so zu kultivieren, wie andere dies heute auf Knopfdruck mit den maschinellen Mächten tun; seine Fähigkeiten werden nicht in vorgefertigten Gußformen des Sehens und Verstehens ver-schlossen, man wird in ihm eine Vision fördern, die nicht den Augen entspringt, ein Verstehen, das nicht aus Büchern kommt, seine Träume anderer Welten, welche die Welt von morgen vorbereiten, seine di-rekten Kommunikationen und augenblicklichen In-tuitionen, seine subtilen Sinne; und sofern in der Zu-kunftsstadt noch Maschinen benutzt werden, wird man ihm erklären, daß es sich hierbei um proviso-rische Krücken handelt, bis wir in unserem eigenen Herzen die Quelle der reinen Macht finden, welche eines Tages die Materie so transformieren wird, wie wir jetzt mit einem Strich des Zeichenstiftes ein weißes Blatt Papier in eine saftiggrüne Wiese ver-wandeln. Man wird es den Blick lehren, den wahren Blick, der wirklich vermag, den Blick, der erschafft, der alles verändert – man wird es lehren, seine ei-genen Mächte zu benutzen und an seine eigene Macht der Wahrheit zu glauben, denn je reiner und klarer man ist, je mehr in Harmonie mit dem großen Gesetz, desto mehr gehorcht die Materie der Wahr-heit. Und anstatt in eine Gruft zu fallen, wird das Kind eine offene Welt betreten, in der alles möglich ist – in der alles wahrhaftig möglich ist, denn es gibt keine Unmöglichkeit außer der, an die wir glauben. Und schließlich wird das Kind in einer Atmosphäre natürlicher Einheit aufwachsen, in der es kein “Du”, “Ich”, “Dir”, “Mein” mehr gibt, in der ihm nicht mehr beigebracht wird, jeden Augenblick mentale Trenn-wände und Barrieren zu errichten, sondern bewußt das zu sein, was es unbewußt seit jeher war: sich in alles auszudehnen, was ist und lebt, in allem wahr-zunehmen, was wahrnimmt, in einem selben tiefen Atem zu verstehen, durch ein Schweigen, das alles trägt, überall die gleiche Flamme wiederzuerkennen, überall den gleichen klaren kleinen Fluß zu lieben und überall das Selbst zu sein unter den Tausenden von Gesichtern und den Tausenden von Melodien, die eine einzige Melodie sind.

So wird es keine in-neren und keine äußeren Grenzen mehr geben, kein “Ich will”, “Ich nehme”, keinen Mangel, keine Abwe-senheit, kein Ich, ganz allein und eingeschlossen, kein Kontra, kein Pro, weder Böse noch Gut: es wird eine einzige höchste Harmonie in Tausenden von Körpern geben, die ihre Note in diesem oder jenem anrührt, in diesem Umstand oder jenem Zufall, die-ser Geste hier, jener Geste dort, und die alles in einer einzigen Bewegung eint, in der jede Minute vollkommen und jede Tat wahrhaftig, jedes Wort genau, jeder Gedanke richtig, jede Zeile rhythmisch, jedes Herz im Einklang ist – und die Wahrheit wird die Materie gemäß ihrer genauen Vision gestalten. Und diese kleine Stadt ohne Grenzen wird kraft ihrer einfachen Macht der Wahrheit leuchten, diejenigen anziehen, welche angezogen werden müssen, die-jenigen zurückweisen, welche zurückgewiesen wer-den müssen, einfach durch die ihr eigene Kraft der Konzentration. Sie wird diesen oder jenen anderen Punkt im Universum berühren, diese oder jene Seele, auf die tausend unsichtbaren Rufe antworten, unaufhörlich ihren hohen reinen Ton ausstrahlen, der die Welt erhellt und die Herzen erleichtert, ohne daß sie es wissen.

Denn derart ist die Wahrheit, so einfach, daß niemand sie sieht, so leicht, daß sie die Welt in einem Augenblick durchläuft, die Knoten entwirrt, die Grenzen über-schreitet und auf den leisesten Ruf ihre herrliche Möglichkeit inmitten all der Unmöglichkeiten auss-chüttet.

13 Und danach?

Wir haben keine Macht, weil wir keine umfassende Vision haben. Und damit steht es sehr einfach: Wäre uns durch ein Wunder die Macht gegeben, gleich welche Macht, auf gleich welcher Ebene, würden wir daraus augen-blicklich ein hübsches Gefängnis machen, entspre-chend unseren kleinen Ideen und kleinen Vorstellun-gen des Guten, und unsere ganze Familie, wenn möglich die Welt, darin einschließen. Und was wis-sen wir schon vom Wohl der Welt? Was wissen wir selbst von unserem eigenen Wohl? Heute schreien wir gegen ein Elend an, um morgen festzustellen, daß es an das Tor eines höheren Wohls pochte. Seit zweitausend und mehr Jahren entwerfen wir Sys-teme des Gemeinwohls, von denen eins nach dem andern zusammenbricht – glücklicherweise. Selbst der weise Platon verbannte die Dichter aus seinem Staat, so wie wir vielleicht heute die nichtsnutzigen Exzentriker verbannen, die über den Globus wandern und blindlings an die Pforten der Zukunft schlagen. Wir beklagen uns über unsere Un-fähigkeit (zu pflegen, zu helfen, zu heilen, zu retten), doch diese besteht absolut exakt im Maße unserer Fähigkeit der Vision – und die öffentlichen Wohltäter sind keineswegs die Begabtesten. Wir stolpern im-mer wieder über den gleichen Fehler: Wir wollen die Welt verändern, ohne uns selbst verändert zu ha-ben.

Der Übermensch hat sein kleines Ich verloren, ebenso seine kleinen Ideen von Familie und Ursprungsland, von Gut und Böse – er hat in der Tat keine Ideen mehr, oder er hat sie alle, in der Minute, wo es notwendig ist. Und wenn eine Idee kommt, wird sie ganz einfach ausgeführt, weil ihre Zeit und ihr Augenblick gekommen sind. Ideen oder Gefühle sind für ihn einfach die zwin-gende Übersetzung einer Bewegung von Kraft – ein Idee-Wille oder eine Idee-Kraft –, die sich hier durch eine Geste, dort durch eine Handlung oder einen Plan, ein Gedicht, eine Architektur oder eine Kantate ausdrückt, aber es ist eine einzige und gleiche Kraft in unterschiedlichen Sprachen, bildlich, musikalisch, materiell oder ökonomisch. Er empfängt den Rhyth-mus und übersetzt ihn gemäß seiner besonderen Begabung und seinem Platz innerhalb des Ganzen. Er ist ein Übersetzer des Rhythmus.

Dort ist jeder Gedanke und jedes Gefühl eine Tat

Und jede Tat ein Symbol und ein Zeichen,

Und jedes Symbol birgt eine lebendige Kraft36.

Und wenn ihn nichts drängt, so ist er vollkom-men ruhig und unbewegt, so wie der Lotos auf dem See, der sich der Sonne öffnet, ohne eine Regung oder Turbulenz, ohne einen Hauch von “Ich-will” – er möchte nichts als das, was es will. Und was den Rest angeht, strahlt er in der Sonne und über-läßt es anderen, die das wollen (oder nicht wollen, denn er strahlt für jeden), den Honig zu sammeln. Dies ist der einfachste Zustand überhaupt, die Ein-fachheit der Wahrheit. Und die augenblickliche Wirk-samkeit der Wahrheit ohne Schleier.

Sein ruhiges Schwei-gen ist jedoch keine Untätigkeit – nichts auf der Welt ist untätig, “auch nicht die Trägheit des Erdhügels, auch nicht das Schweigen des reglosen Buddha am Rande des Nirvana37.” Er unterscheidet sich von anderen nicht durch ekstatische Meditationen auf einem blumengeschmückten gaddi38, nicht durch einen weißen Bart und makel-lose Kleidung: er geht den tausend Nichtigkeiten des Lebens nach, und niemand weiß, wer er ist, es küm-mert ihn nicht, erkannt zu werden, er, der alles erk-ennt. Und diese Nichtigkeiten sind genau der winzige Hebel, durch welchen er auf alle ähnlichen Substan-zen in der Welt einwirkt, denn nichts hört irgendwo jäh auf, außer in unseren Köpfen und in unseren kleinen gefangenen Körpern – das Leben erstreckt sich unendlich weit, und der Schrei des Vogels hier antwortet auf den Schrei des Vogels dort, dieser Schmerz antwortet auf eintausend Schmerzen. Sein ganzes Leben ist eine Meditation.

Ihr Schweigen birgt die Stimmen der Welt39.

Seine Gesten sind das Symbol eines großen Ritus, der die Sterne und die Bewegung der Massen umfaßt, zusammen mit diesem kleinen Akazientrieb und einer Begegnung am Wegesrand.

Er mag eine Revolu-tion anführen oder eine ehrfurchtgebietende Tat, welche die Vorstellungskraft der Völker inspiriert, wenn der Fluß der Wahrheit in ihm derart beschaffen ist. Er ist unvorhersehbar und ungreifbar wie die Wahrheit selbst, spottet mit todernster Miene und lächelt, wenn er sich über das Elend der Welt neigt, denn er lauscht unsichtbaren Rufen und arbeitet unermüdlich daran, den großen Rhythmus über die Wunden der Welt fließen zu lassen. Er vollbringt keine Wunder, die einen Augenblick lang wie Strohfeuer aufleuchten, um alsdann die Erde ihrer verstockten Finsternis zu überlassen, er spielt nicht mit den okkulten Siddhis [Kräften], welche einen Moment die Naturgesetze umstürzen, um sie gleich darauf in ihre alten schmerzhaften Routine-abläufe zurückfallen zu lassen. Er verspürt keinen Drang, die Menschen zu bekehren oder den Na-tionen zu predigen, denn er weiß nur zu gut, daß man die Menschen nicht mit Ideen oder Parolen bekehrt, noch mit sensationellen Demonstrationen, sondern durch eine Veränderung der inneren Dichte, die plötzlich einen kleinen Hauch Freude und Sonne in das Schwarz bringt – er sät ein anderes Gesetz in der Welt, er öffnet das Fenster zu einer anderen Sonne, verändert die Dichte der Herzen durch das sanfte Strömen seines Strahls. Er schlägt nicht, bricht nicht, noch verdammt oder urteilt er: er ver-sucht die gleiche Parzelle der Wahrheit, die in jedem Wesen, in jedem Ding, jedem Ereignis enthalten ist, freizusetzen und jeden durch seine eigene Sonne zu bekehren. Seine Macht ist eine Macht von Wahrheit zu Wahrheit, von Materie zu Materie, und seine Vision umfaßt alles, denn er hat jenen inneren Punkt gefunden, der alle Punkte, alle Wesen und alle Orte enthält, und im wandernden Bettler, in der rosagetönten Wolke, im Zufall des Augenblicks, dem kleinen Nichts, das sein Haus in Aufruhr versetzt, oder in der wachsenden Knospe sieht er die ge-samte Erde und ihre Millionen Knospen ihrer glei-chen Wahrheit entgegenwachsen, und in einem Stolpern des Zufalls oder der Bemerkung eines Pas-santen erkennt er die genaue Position der Welt. Alles ist das Feld seiner Betätigung: durch das Mik-roskopische wirkt er auf das Ganze; im Mik-roskopischen entziffert er das Ganze. Von einem Ende der Welt zum anderen berührt er seinen ei-genen Körper.

Doch die Arbeit ist nicht beendet. Die Evolution hat noch nicht ihren Gipfel erreicht, ist noch nicht einmal in ihre solare Wahrheit eingetreten. Endete die Arbeit hier, hätten wir den Gipfel des Menschlichen erreicht, einen Su-permenschen erzeugt, nicht aber das Wesen der kommenden Epoche; unser erweitertes Bewußtsein, unsere unmittelbare Wahrnehmung, unsere verfein-erten Sinne, unsere präzisen Gesten und Bewegun-gen, unsere vollkommenen Handlungen, unsere richtigen Gedanken, unsere richtigen Willensakte, unsere unveräußerliche Freude, all das würde noch auf einem tierischen Körper basieren – einem al-ternden, gefährdeten, schließlich verfallenden Kör-per, der jederzeit unser strahlendes Gleichgewicht mit dem jähen Zusammenbruch bedrohen und das Wirken unseres Wahrheitsbewußtseins mit einem kleinen Körnchen Sand unterbrechen könnte – und was ist das für eine Wahrheit, wenn sie so zer-brechlich ist? Die Wahrheit ist, oder sie ist nicht, und sie ist unsterblich, unendlich, unverletzlich. Sie ist leicht und licht, unbestechlich, und sie kann nicht anders, als alles zu sein, was sie ist, nicht viel an-ders als der Mangobaum nicht umhin kann, ganz Baum zu sein, mit allen Blüten und jeder seiner goldenen Früchte. Sie verweilt nicht bei dieser be-grenzten Verwirklichung und wird nicht innehalten, bis die ganze Erde und alle Wesen zu ihrem Bildnis werden, sind doch in Wahrheit die ganze Erde und alle Wesen ihr Saatgut. Auch der Übermensch ist ein “Übergangswesen”, er ist der Vorbote eines anderen Wesens auf Erden, das sich vom Menschen so sehr unterscheidet wie wir vom Affen, und vielleicht noch mehr, denn der Mensch besteht noch aus der Sub-stanz des Affen, während das neue Wesen von einer anderen Substanz sein wird, unsterblich, licht und leicht wie die Wahrheit selbst. Er ist der Ausarbeiter des “supramentalen Wesens”, das Sri Aurobindo verkündet hat, und seine Substanz ist das unschein-bare Labor eines gefährlichen Abenteuers.

Unsere Körperzellen müssen des Unsterblichen Flamme enthalten.

Soll der Geist nicht allein seine Quelle erreichen,

Eine halb-erlöste Welt ihrem zweifelhaften Schicksal überlassen40.

Denn es geht nicht darum, einen mit wunderbaren und strahlenden Kräften begabten Geist hervorzubringen, diesem Körper ein höheres Gesetz als das seinige aufzuz-wingen, nicht einmal die Physis bis an den äußer-sten Grad ihrer Verfeinerung zu treiben, sondern eine “neue physische Natur zu schaffen41”, aber den-noch ausgehend von unserem Körper, diesem ar-men hinfälligen animalischen Körper, denn er ist un-sere Basis, unser Instrument der Evolution. Das neue Wesen wird nicht vorgefertigt vom Himmel fallen: wir müssen es bauen! Wir müssen in unserer Substanz den Schlüssel für die eigene Transmuta-tion finden, das Geheimnis aller Geheimnisse, im unendlich Kleinen, in der kleinsten Zelle. Wir müssen den Übergang, die schwierige Passage in unserem Körper bewerkstelligen. Berühren wir dieses Ge-heimnis, erlangen wir vielleicht den göttlichen Schlüssel zur Materie, den Schlüssel der langen irdischen Pilgerfahrt und den mächtigen strahlenden Blick, der uns eines Tages auf den Weg schickte. Wir müssen an das Tor des Todes schlagen und sein mächtiges Geheimnis befreien – denn auch dort verbirgt sich die Wahrheit, ist doch alles, was ist, die Wahrheit. Wir müssen den Fels des Unbewußten entsiegeln und die ursprüngliche Basis, das solare Fundament finden, auf dem alles ruht, was ist. Wir müssen bis auf den Grund dringen, um die höchste Sonne zu berühren. In einer Zelle unseres Körpers ruht das gleiche Mysterium wie in allen Galaxien und allen Erdkörpern. In einem Punkt, einem winzigen Punkt ist alles enthalten, die höchste Macht und die ewigstrahlende Wahrheit, die höchste Finsternis und der (scheinbar) ewige Tod, verknotet in einer gefähr-lichen Umklammerung, schwanger mit einer unvor-stellbaren Möglichkeit. Uns ruft ein anderes Myste-rium.

Eine Stimme hob an, die war süß und schrecklich,

Sie ergriff die Herzen mit Liebe und Schmerz,

als sei die ganze Hölle

Mit allen Himmeln in einem unentwirrbaren Ton vermählt.

Geboren aus abgründigen Tiefen in höchste Höhen zu schweben,

Trug sie alle Schwermut, den die Seelen der Geschöpfe teilen,

Und zeigte doch auf jede Ekstase, die Göttern nur erträglich ist42.

Uns obliegt es, diesen Knoten, diese tödliche Mischung zu entwir-ren, uns obliegt es, den Schlüssel zu finden und das höchste Abenteuer zu versuchen.

Der Weg des Ab-stiegs ist noch nicht beendet.

14 Der Sieg über den Tod

Der Sucher hat Schritt für Schritt den Prozeß der Entmechanisierung verfolgt, Stufe für Stufe die verschiedenen Ebenen der Wirrnis, die den Fluß der Harmonie stören, entwirrt und aufgeklärt; er hat die mentale und die vitale Mechanik verlassen; bis zu einem gewissen Grad hat er auch die unterbewußte Mechanik verlas-sen; der graue Elf ist immer noch vorhanden, aber wie ein Schatten auf einer Kinoleinwand, wie eine nachhallende Erinnerung an einen Schmerz, eine alte Wunde, die noch empfindlich ist: er hat keinen wirklichen Zugriff mehr, außer eben durch diesen Schatten, der auf die Freude fällt und ein dumpfes Gefühl von Unwohlsein auf dem Seinsgrund hinter-läßt, etwas unauslotbar Ungeheiltes, eine lauernde Bedrohung ohne Gesicht und Namen – etwas bleibt noch, wie die Erinnerung an eine Katastrophe, die jeden Augenblick die Katastrophe selbst wieder her-beiführen kann, als sei in Wahrheit alles unendlich prekär, und eine Sekunde der Vergessenheit könnte alles wieder in die alte tödliche Routine zurückkippen lassen. Ein Punkt bleibt, ein furchtbarer Punkt, und solange dieser Punkt nicht besiegt wird, ist nichts gewonnen, nichts endgültig sicher. Dieser Moment des Umkippens auf die andere Seite – die tödliche Seite, die schmerzliche Seite, die alte Seite der Bek-lemmung und Bedrohung (es ist tatsächlich eine Bedrohung, eine Bedrohung von allem, ein sofortiger Mantel aus Blei, dieselbe namenlose Sache, die dir den Hals zuschnürt, als brächen innerhalb einer Se-kunde, einer kleinen Sekunde des Erstickens, Jahr-tausende an Nacht und Schmerz und Scham offen auf die Bühne, und alles wirkt wie eine schlecht auf-gesetzte blendende Dekoration vor dieser finsteren, schwarzen, zusammengeballten Dichte, die dich in ihren zermalmenden Schlund saugt) –, dieses düstere Kippen, von dem man nicht so recht weiß, wodurch es ausgelöst wird, schlägt plötzlich grundlos zu, beraubt dich all deiner Sonne und läßt dich nackt zurück wie zu Anbeginn der Zeiten, im Angesicht des alten Feindes, vielleicht des ersten Feindes des Menschen und des Lebens auf der Erde: ein un-sägliches Mysterium, das dich in seine Umklamme-rung reißt, ein entsetzlicher vertikaler Fall, wie mit Liebe und der großen Angst gefärbt. Man weiß nicht, was ihn provoziert – offenbar kein Fehler, kein Nach-lassen der Spannung, keine falsche Bewegung im Bewußtsein, welche dieses vergessene Verlies wieder geöffnet hätte, und dennoch steht es gäh-nend offen. Und tatsächlich hat man etwas verges-sen, und solange dieses Vergessen nicht unverges-sen wird, kann das große goldene Gedächtnis der Wahrheit nicht seine volle Sonnenkraft über unser ganzes Wesen ausstrahlen. Und dieser Widersa-cher, dieser Schatten ist vielleicht der verborgene Liebhaber, der uns auf seine äußerste Verfolgung, seine äußerste Entdeckung lockt. Wir werden bei jedem Schritt geleitet, eine unfehlbare Hand zeichnet ihre verschlungenen Pfade, um uns unmittelbar, über Tausende von Umwegen zu ihrer glücklichen To-talität zu führen.

Das eine unvermeidliche höchste Ergebnis,

Das keiner nehmen noch Verdammnis ändern kann,

Die Krone bewußter Unsterblichkeit,

Die Gottheit, die unseren ringenden Seelen versprochen,

Als das Herz des Menschen den Tod einst wagte

und das Leben litt43.

Der düstere Abstieg des Suchers erwächst also keiner willkürlichen oder morbiden Entscheidung – vor langer Zeit hat er auf-gehört zu wollen, seit langer Zeit gehorcht er dem kleinen Rhythmus, dem wachsenden Fluß, den er hierhin oder dorthin lenkt, entsprechend seinem Druck. Der Abstieg erfolgt allmählich und in Stufen, beinahe ohne sein Wissen, ist jedoch von bes-timmten Phänomenen begleitet, die zunehmend klarer werden und sozusagen die “physiologischen Bedingungen” des Abstiegs kennzeichnen. Diese physiologischen Bedingungen sind dreifacher Natur. Da ist der kleine “Fluß”, von dem wir so oft gesprochen haben, da ist der “Rhythmus”, und da ist das “Feuer” des Wesens, das die Tore der neuen Welt öffnet. Man ist versucht zu meinen, dies sei eine poetische Fiktion, ein Bild für Kinder – tatsäch-lich aber ist es nichts dergleichen, und die ganze Welt ist ein Gedicht, das wahr wird, ein Bild, das sich erhellt, ein Rhythmus, der Formen annimmt. Nach und nach blickt ein Kind mit den Augen der Wahrheit und entdeckt das schöne Bild, das seit allen Zeiten bestand, es hört einen unsterblichen Rhythmus, und auf diesen Rhythmus eingestimmt, tritt es in die Un-sterblichkeit, die es niemals verlassen hatte. Ta-tsächlich wächst dieser Fluß, präzisiert sich der Rhythmus, intensiviert sich das Feuer in dem Maße, in dem sich die obersten Ebenen des Mentals und Vitals klären. Auch ist es kein einfacher Fluß mehr sondern eine Art unablässiger Strom, eine herab-kommende Masse, die zuerst den Scheitel und den Nacken erfaßt, dann die Brust, das Herz, den Solar-plexus, den Unterleib, das Geschlecht, die Beine, die sogar bis unter die Füße hinabzureichen scheint, als gäbe es ganz unten eine Verlängerung des Wesens, einen Abgrund der Existenz, und je tiefer der Strom hinabdringt, um so wärmer, kompakter und dichter, ja, beinahe fest wird er: wie eine reglose Sturzflut. Der Abstieg ist proportional zu unserem Grad der Klärung und der Macht, mit der die Kraft eindringt (und unserer Klärung gemäß wächst). Kein mentaler oder psychoanalytischer Mechanismus hat die Macht, solche Tiefenschichten zu durchdringen. Die Bewegung ist unwiderstehlich machtvoll, mitunter krümmt man sich sogar darunter und fühlt sich er-drückt; zugleich besitzt sie eine Stabilität, die mit der Kraft zunimmt, als sei am Ende des Abstiegs eine unbewegte Masse von Energie – oder eine so inten-sive, schnelle Schwingung, daß sie wie verfestigt und angehalten erscheint, und doch in einer unvor-stellbaren Bewegung an Ort und Stelle – “ein warmes Goldgestäub” sagte Mutter. Sri Aurobindo nannte dies die supramentale Kraft. Es scheint be-inahe, als würde sie zunehmend “supramental” oder nähme supramentale Eigenschaften an, je mehr sie in die Materie hinabdringt (das heißt, je mehr wir ihr den Durchgang gestatten, die Widerstände ihrem Druck nach-geben und sie siegreich bis ganz auf den Grund stößt). Wir sagen “Supramental”, aber das ist allein ein Wort gleich allen anderen, es gibt nur eine Kraft, wie es nur einen Mond gibt, der nach und nach vor unseren Augen voll wird – dabei war der Mond immer voll und die Kraft immer die gleiche: einzig unsere Empfänglichkeit verändert sich und läßt sie anders erscheinen, als sie immer waren. Dieser “Fluß” bewirkt den Abstieg spontan und automatisch, ohne daß wir irgend etwas wollen oder entscheiden (all unsere Willensakte sind eine weitere Verwirrung), er beseitigt die Hindernisse, zwingt die Unwahrheiten unter seinem unerbittlichen Leucht-strahl an den Tag, stellt den grauen Elf bloß, bringt all unsere versteckten Kavernen an den Tag, reinigt, hält Kehraus, erweitert und bringt Unendlichkeit in jede Ebene und in jeden Schlupfwinkel, und er gibt nicht auf und hält keine Sekunde inne, bis alles, das kleinste Detail, die geringste Regung wieder seine Urfreude, seine Unendlichkeit, sein Licht, seine klare Vision, seinen aufrichtigen Willen und seine göttliche Zustimmung erhält. Das ist die Kraft des Yoga, die Bewußtseinskraft, von der Sri Aurobindo sprach. Sie ist es, die den Übermenschen schmiedet, sie, die das supramentale Wesen schmieden wird – sie, die sich selbst schmiedet in dieser Vergessenheit ihrer selbst.

Dein goldenes Licht kam herab in mein Gehirn,

Und die grauen Räume des Mentals wurden von Sonnenlicht durchdrungen

Eine leuchtende Antwort auf die okkulte Ebene der Weisheit ...

Dein goldenes Licht kam herab in meine Kehle,

Und all meine Rede ist jetzt eine göttliche Melodie ...

Meine Worte sind trunken vom Wein des Unsterblichen.

Dein goldenes Licht kam herab in mein Herz

Und schlug mein Leben mit Deiner Ewigkeit ...

Dein goldenes Licht kam herab in meine Füße:

Meine Erde ist nun Dein Spielfeld und Dein Sitz44.

Dann ist da dieses “Feuer”. Auch das ist kein Mythos: “Seine rot-glühende Masse ist sichtbar,” sagt der Veda45, “Agni (das Feuer) ist weit an Licht und konkret sein Körper46.” Doch anfangs ist dieser Körper nichts als ein kleiner Funke, seine glühende Masse eine flackernde Flamme, manchmal brennend, jedoch oft verloschen, und man muß sie wieder und wieder entfachen; er ist ein kleiner Schrei des Erstickens in der Nacht der Welt, eine na-menlose Not, die mit uns einhergeht, unsere gewun-denen Aufstiege und Niedergänge begleitet, uns hartnäckig verfolgt wie eine Erinnerung an etwas an-deres, eine goldene Erinnerung im Grau-in-Grau der Tage, ein Ruf nach Luft, ein Bedürfnis nach Raum, ein Bedürfnis zu lieben, ein Bedürfnis, wahr zu sein. Und dieses Feuer, dieser Schrei wächst:

Der Mensch ist ein schmaler Steg, ein wachsender Ruf47.

Zunächst ist es eine Flamme im Mental, etwas, das nach einer uner-meßlichen Inspiration tastet, nach einer größeren Wahrheit, einem reineren Wissen, sich höher und höher erhebt, selbst alle Schwere der Welt, die Hin-dernisse, die Verhaftungen, die Fesseln der Erde abwerfen möchte, sich mitunter rein und zugespitzt auf die Gipfel des weißen Lichtes erhebt, auf denen alles für immer gewußt und wahr ist – die Erde je-doch bleibt unwahr; Leben und Körper verweilen in ihrem obskuren Konflikt, sterben und zersetzen sich. Dann beginnt die kleine weiße Flamme das Herz einzunehmen: sie möchte lieben, heilen, retten und tastet hierhin und dorthin, hilft dem Nächsten, unter-stützt dies und das, gibt sich hin, singt ein Lied, das alles umarmen, alles enthalten möchte, nimmt das ganze Leben in ihr Herz auf. Es ist bereits eine wär-mere und dichtere Flamme, doch ihre Minuten der Erleuchtung gleichen blassen und zerbrechlichen Leuchtkäfern auf einem Ozean obskuren Lebens, jeden Augenblick wird sie erstickt, ertränkt, überschwemmt von der Welle und von unseren ei-genen Wellen der Finsternis – nichts ändert sich, und das Leben dreht weiter seine Runden. Dann will der Sucher das Feuer, diese glühende Wahrheit in jeden Augenblick, jede Geste einflößen: in seinen Schlaf und seine Tage, in sein Elend und sein Woh-lergehen, in sein ganzes Leben, damit alles bereinigt werde, verzehrt werde durch dieses Feuer – auf daß endlich etwas anderes geboren werde, ein wahreres Leben, ein wahreres Wesen. Er begibt sich auf den Weg des Übermenschen. Und das Feuer wächst weiter, es stößt tiefer, steigt die Stufen des Wesens hinab, dringt in die unterbewußten Kavernen ein, vertreibt den grauen Elf, vertreibt das innere Elend und brennt immer beständiger, mächti-ger, wie geschürt durch den düsteren Druck. Es ist schon fast ein Körper innerhalb unseres Körpers geworden, von einem leuchtenden Orangerot, das ans Goldene grenzt. Doch es ist noch unbeständig und gefährdet, es fehlt ihm eine grundlegende Basis, ein permanentes Fundament. Also will der Sucher dieses Feuer in seine Substanz, in seinen Körper einflößen, er will, daß seine Materie die Wahrheit widerspiegelt, die Wahrheit verkörpert, er will, daß sie außen so leuchtet wie innen – und er begibt sich auf den Weg des supramentalen Wesens. Denn dieses wachsende Feuer-Selbst, dieser Körper der Inbrunst, der mehr und mehr unserem göttlichen Ar-chetypus gleicht, unserem Licht-Bruder auf den Höhen, der uns auf allen Seiten zu überragen scheint und eine bereits orangene Schwingung auss-trahlt, ist in Wahrheit der eigentliche Körper, der das supramentale Wesen bilden wird. Es ist die kom-mende Substanz der Erde: “härter als Diamant und doch flüssiger als ein Gas”, sagt Sri Aurobindo48. Es ist die spirituelle Ver-dichtung der großen Energie, bevor sie Materie wird.

Wie aber dieses Feuer unauslöschlich in unsere Materie einprägen, wie den Übergang bewerkstelligen, die Übertragung dieses obskuren und sterblichen Körpers in einen inbrünstigen und unsterblichen Körper? Die Erfah-rung läuft noch, es ist schwierig, darüber zu spre-chen, niemand wird wirklich wissen, wie das zu voll-bringen ist, bis es vollbracht ist. Niemand kennt das Land oder den Weg, denn niemand hat sich jemals dorthin gewagt, hat einen supramentalen Körper geschaffen. Aber es wird unabwendbar vollbracht werden, so wie der Mensch und der Affe und der Tausendfüßler bereits im großen goldenen Wel-tensamen geschaffen waren. Es ist das letzte Abenteuer der Erde, oder vielleicht das erste einer herrlicheren Reihe von Abenteuern auf einer neuen Erde der Wahrheit. Wir kennen das Geheimnis nicht, wir wissen einzig, in welche Richtung es zu gehen gilt – und vielleicht bedeutet das Wissen um die Richtung auch das Wissen um das Geheimnis, denn es entfaltet sich unter unseren Schritten und wird im Gehen geschmiedet.

Zumindest können wir die Richtung beschreiben, die einfache Richtung, denn wie immer sind die Geheimnisse einfach. Das Feuer entsteht durch das Quentchen Be-wußtsein, das wir einer Unbewußtheit einflößen. Von oben betrachtet, ist es das Unbewußte, das sich widersetzt und sich durch die Reibung des neuen Bewußtseins, das eindringen möchte, erhitzt: es fällt dieser nichtigen und automatischen Geste schwer, die eingefahrenen Gleise zu verlassen und sich an-ders zu bewegen, unter einem anderen Antrieb. Tausendmal, abertausendmal muß man den alten Knick richten, unablässig auf dieser Veränderung bestehen und weiterbeharren, bis sich dort anstelle der obskuren Routine die kleine Flamme des Be-wußtseins entfacht. Von unten betrachtet, ist es das Unbewußte, welches erstickt und ruft und sich stößt und sucht. Und beides ist wahr. Die Erinnerung in-nen ruft den goldenen Strahl, die immerwährende große Sonne läßt diesen Ruf nach Sonne aufkeimen. Und die Wandlung, die große Wandlung ist einfach: es gilt, das kleine Feuer nach und nach zu entfachen, den Strahl in jede Geste, jede Bewegung, jeden Atemzug, jede Körperfunktion einzuflößen. Anstatt die Dinge wie gewohnt, automa-tisch, mechanisch zu verrichten, gilt es, sich der Wahrheit auch dort zu erinnern, auch dort die Wahr-heit zu wollen, auch dort die Wahrheit einzuflößen. Und es widerstrebt, vergißt, gerät aus den Fugen, die Mechanik streikt, wird krank, weigert sich, dem Prozeß des Lichts zu folgen. Man muß tausendmal, abertausendmal von vorne anfangen, Punkt für Punkt, Geste um Geste, Funktion um Funktion. Man muß sich wieder und wieder daran erinnern. Und plötzlich, auf einen Schlag, in einem kleinen Punkt des Körpers, in einem fast unmerklich verstrei-chenden Atemhauch entsteht etwas, das nicht mehr auf die alte Weise schwingt, sich nicht mehr dreht wie gewohnt, und die Atmung folgt plötzlich einem anderen Rhythmus; sie weitet sich, wird sonniger, gleicht einem tiefen Aufatmen der Freude, dem Atem einer nie gekannten, nie gekosteten Luft, die alles heilt und nährt, als atmeten wir den Nektar der Un-sterblichkeit. Dann fällt man wieder in die alte Ge-wohnheit zurück. Wieder und wieder muß man von vorne anfangen, hier, dort, in jeder Minute – das Le-ben füllt sich mit einer unendlichen Beschäftigung, einem intensiven Versenktsein. Der mikroskopische Sieg einer Sekunde stärkt uns für eine weitere Ent-deckung, einen weiteren Sieg. Und man beginnt an allen Ecken und Enden zu arbeiten, in allen Bewegungen und Regungen, will alles mit Wahrheit erfüllen, mit dieser Sonne, die alles verändert, die allem einen anderen Geschmack verleiht, einen an-deren Rhythmus, eine andere Fülle. Dann beginnt der Körper selbst zu erwachen, beginnt selber die Wahrheit, die Sonne zu wollen, beginnt sein Feuer der Aspiration hier und dort zu entfachen, nicht mehr vergessen zu wollen; und wenn er diese kleine neue Schwingung vergißt, spürt er plötzlich ein Ersticken, als gleite er von neuem in den Tod. Der Prozeß ist einfach, unendlich und ewig: Jede Geste, jedes Vor-haben, das mit einem Quentchen Bewußtsein aus-geführt wird, heftet dieses Bewußtsein, dieses kleine Feuer des Seins an die Geste, an das Vorhaben und transformiert sie nach und nach. Ein Einflößen von Bewußtsein, ein Einflößen des mikroskopischen Feuers, methodisch, unzählig, bis die Materie unter dem Druck des Bewußtseins schließlich selbst zu dem Bedürfnis nach Bewußtsein erwacht, wie der Same zum Bedürfnis nach Sonnenlicht erwacht. Dann beginnt alles gemeinsam zu wachsen, unver-meidlich, unwiderstehlich unter dieser goldenen An-ziehungskraft. Immer stärker brennt das Feuer, strahlt die Schwingung, verbreitet sich der Ton, ant-wortet die Zelle auf das Einfließen: der Körper leitet eine neue Funktionsweise ein, eine Funktionsweise bewußter Wahrheit.

Die Tugend des Kör-pers liegt in seiner unbeirrlichen Beständigkeit; hat er einmal etwas gelernt, vergißt er es nicht mehr – er wiederholt seine leuchtende Arbeitsweise Stunde für Stunde, Tag und Nacht, mit der gleichen Unbeug-samkeit, mit der er zuvor seine Krankheiten, seine Ängste, seine Schwächen und seine jahrtausen-dealte obskure animalische Funktionsweise wieder-holte.

Diese körperliche “Entmechanisierung” ähnelt also jener der höheren Schichten – mental und vital –, doch anstelle eines Ödlands mentaler Unbewußtheit, das es zwischen dieser Straßenleuchte und der nächsten, zwischen einem Ende der Straße und dem anderen zu füllen galt, ist es ein körperliches Ödland, das zwischen diesem Atemzug und dem nächsten, dieser Bewegung und der nächsten, von einem Ende des Körpers bis zum anderen zu füllen ist; anstelle einer mentalen Mechanik, die Tausende von nichtigen Gedanken ausstößt, ist es eine körperliche Mechanik, die Tausende von unmerklichen Ängsten, Befürchtungen, morbiden Erinnerungen sekretiert und in ihren alten dunklen Arterien zirkuliert. Und jede “Wiedererinnerung”, jeder Augenblick der Unterbrechung in der Mechanik, wo sich der Blick des Bewußtseins auf diesen trüben Ablauf richtet, schafft und bindet seinen Tropfen Licht, seinen kleinen Augenblick des Seins, sein kleines Feuer, fügt einen Tropfen an den anderen und ergibt schließlich einen anderen Fluß in diesen Venen, einen anderen Rhythmus und ein anderes Lied, und eine neue körperliche Inbrunst, die einen anderen Körper im Körper bildet, gleich seinem strahlenden Gegenstück, das zur Stütze, man kann sagen, zum “Antrieb” des alten schattenhaften Körpers wird. Dieses leuchtende Gegenstück muß letztlich den al-ten Körper ersetzen oder umwandeln. Es ist der nächste irdische Körper, der “Sohn des Körpers49,” von dem die vedischen Rishis sprachen.

Kurz, es geht darum, das automatische “Programm”, das in unseren Zel-len verankert liegt, und den ganzen unerbittlichen ribonukleiden Code, der seine kleinen Signale der Verstörtheit und seine Drüsenappelle aussendet und absondert, durch ein bewußtes “Programm” zu er-setzen, einen Ruf nach Licht, einen solaren Code in all dem Klappern von Ventilen und Kolben und vagabundierenden Enzymen, die zwar unsere Schwächen überbrücken und die Löcher unserer Un-fähigkeit, die heilsame Harmonie direkt zu absor-bieren, stopfen, uns aber in einem Verlies mik-roskopischer Energie gefangen halten, das sich er-schöpft und zersetzt.

Eine neue spirituelle Kultur des Körpers muß erfunden werden.

Ähnlich den anderen, mentalen, vitalen oder unterbewußten Program-mänderungen bedeutet diese Veränderung des kör-perlichen, zellularen Programms eine ungemeine Störung des alten Gleichgewichtszustandes, wie man sich wohl vorstellen kann, denn die erste Auf-gabe der Wahrheit ist in jedem Falle, das Chaos zu säen, das heißt die Lüge aufzuscheuchen, ihren Suchscheinwerfer darauf zu richten und all die kleinen Ratten herauszutreiben, die sich in den ver-schiedenen Windungen und Schlupfwinkeln des Körpers eingewühlt haben – sozusagen die tausendundeins Viren des Todes. Und wenn falsche Gedanken, falsche Impulse die Lügen des Mentals und des Herzens sind, so bestehen die Lügen des Körpers aus den Krankheiten – und dem Tod, der primären Lüge aller Lügen. Doch wie stets erweist es sich, daß unsere Lügen nicht so sehr ein grundleg-ender Irrtum oder eine grundlegende Falschheit sind als vielmehr ein Widerstand gegen eine höhere Ord-nung. Dieser Widerstand ist der Schutz des Lebens – und seine Beerdigung. Wir sind es gewohnt, Krankheiten als einen Kampf gegen einen schädlichen und zerstörerischen Wirkstoff anzuse-hen, doch vielleicht sind sie in erster Linie das äußere Zeichen eines Kampfes gegen die Wahrheit und das einer Verweigerung der Wahrheit, was spontan und automatisch den Tod nach sich zieht. Der Sucher hat also mit den Lügen des Körpers zu kämpfen: Krankheit und Tod werden sein alltägliches Schlachtfeld, vielleicht sogar sein allstündliches, al-laugenblickliches – Blitzkrankheiten und Blitztode –, damit er das Handwerk der Wahrheit und ihren un-sterblichen Code innerhalb dieser Sterblichkeit er-lerne.

Doch der Tod ist nur ein Wort für etwas, das es nicht gibt. Man stirbt sowenig, wenn man von einem Zimmer in ein an-deres übertritt oder wenn man seine Kleidung wech-selt, wie wenn man seinen Körper aufgibt. Tatsäch-lich liegt der Tod nicht “auf der anderen Seite”: er liegt hier und in jedem Augenblick, ist voll und ganz mit dem Leben verquirlt, wir tragen ihn in uns, wohin wir auch gehen, und mitunter wird er zum Tod. Dieses “mitunter”, diesen Augenblick oder diese vollständigere Bewegung des Todes in uns gilt es zu packen. Der Tod ist kein “anderer Zustand”, kein Un-fall, der uns plötzlich und unerwartet in etwas an-deres stürzt: er ist in das Leben selbst eingebettet, ist seine Basis, sein trübes Fundament; und gelingt es uns, diese enggeknüpften Fäden zu entwirren, diesen Tod im Leben zu packen, dieses Selbst des Todes, das im Hintergrund in uns pocht und unser Selbst der Wahrheit Tag für Tag, ja beinahe Stunde um Stunde und in jedem Augenblick zu ersetzen sucht, so halten wir den Schlüssel zur beliebigen Verlängerung des Lebens in den Händen. Man stirbt nur aus einem Mangel an Wahrheit. Das ist der ein-zige Mangel der Welt. Wären wir vollkommen wahr, wären wir auch vollkommen unsterblich. Der Tod ist die Auflösung der Lüge – denn die Lüge ist im we-sentlichen zersetzend – und wir sterben nur, solange wir nicht von Kopf bis Fuß und in jeder Zelle unseres Körpers wahrhaftig geworden sind. Insgesamt ist der Tod der Wächter der Wahrheit, der finstere Engel, der an der Schwelle der Unsterblichkeit steht und alles zerstört, was nicht fähig ist, rein in die Wahrheit überzugehen. In unserem geläuterten Geist, vielleicht in unserem Herzen und unseren Gefühlen haben wir diese Schwelle bereits überschritten, doch wir müssen sie auch in unserem Körper überschre-iten. Das Selbst der Wahrheit muß das Selbst des Todes zur Gänze ersetzen. Die Eroberung der Un-sterblichkeit vollzieht sich von oben nach unten, zunächst im Mental, dann im Herzen und in den Sin-nen, schließlich im Körper – der höchste Widerstand aber bedeutet auch den höchsten Sieg.

Und in der Tat ist es ein Widerstand. Der Tod ist ein Widerstand gegen das Gesetz der Wahrheit, gegen den immer neuen Fluß der Harmonie. Tief unten sind wir auf dem “Fels der Unbewußtheit” gegründet, von dem die vedischen Rishis sprachen50. Dieser Fels ist vielleicht der erste Augenblick, in dem sich die große Energie verfestigte, zu Materie wurde, in einen finsteren Widerspruch mit sich selbst geriet, in einen trägen Ruhezustand ihres triumphierenden Fließens “hinabstürzte”, verloren in einer reglosen schwarzen Ekstase gleich einer Umkehrung ihrer so-laren Ekstase auf den Gipfeln. Diejenigen, welche die Erfahrung des Hinabstiegs in das materielle Un-bewußte gemacht haben, wissen sehr wohl, daß das Bild der vedischen Rishis keinesfalls ein Bild ist son-dern eine Tatsache, der zu begegnen furchtbar genug ist. Es ist tatsächlich ein Fels – gewaltig und scheinbar ohne Grund –, ein senkrechter Sturz in eine Kluft aus Urgestein, von der sich nicht einmal sagen läßt, daß sie schwarz sei, denn es gibt in ihr keinen Funken Schwarz, keinen Strahl, der es ges-tatten würde, ein Schwarz zu erkennen – es ist das Schwarz – absolut, ohne einen einzigen Atemzug, ohne die geringste Schwingung: ein augenblickliches Ersticken, ein tödlicher Mangel an Sauerstoff. Eine vollkommen reglose Welt, vollkom-men geschlossen, wie an sich selbst erstickt, ohne einen Laut, ohne eine Bewegung, ohne das gering-ste Echo. Die totale Leere und dennoch wie eine er-stickende schwarze Existenz, etwas, das trotz alle-dem ist, jedoch wie eine Verdichtung abso-luter Verneinung, wie eine ungeheure Weigerung, die ihre Mauern aus Basalt errichtet und sich immer tiefer eingräbt, wie ein Abgrund in einem Abgrund, wie ein Tod in den Tod. Und in der Tat ist der Ab-stieg dorthinein wie der Tod. Es ist der Tod. Die Un-bewußtheit. Man kann dort nicht sein, man darf dort nicht sein, es gleicht der höchsten Intoleranz gegen alles, was sich regt und atmet, gegen alles, was ein Quentchen Licht in sich trägt, das einen leben läßt. Es regt sich nicht. Es atmet nicht. Es ist ein NEIN. Ein ungeheures NEIN von al-lem gegen alles, welches einen schluckt oder ausstößt — oder zwingt, ein größeres Licht als diese Finsternis herbeizurufen.

Es gibt nur ein Licht, das größer ist als diese erstickende Un-durchdringlichkeit von Schwarz: das höchste Licht, die große Sonne der Wahrheit.

Aus diesem Grunde heißt es in den Upanischaden, Yama, der Gott des Todes, sei der Sohn der Sonne51.

Die äußerste Sonne liegt in der Tiefe der äußersten Finsternis. Der “Tod” ist die Passage zur Unsterblichkeit, der Wächter der großen vollkommenen Sonne, die letzte Nötigung zur integralen Wahrheit. Alles, was in diesem Augenblick nicht fähig ist, das Licht zu rufen, alle ungeläuterten Fragmente des Wesens werden un-mittelbar von diesem Nein verschlungen, in ihm auf-gelöst, versteinern in dieser schwarzen Ekstase, weil sie selbst ein kleiner Funke dieses Nein sind, eine kleine Weigerung dieser großen Weigerung, ein Splitter dieses kolossalen Felsens.

Und gleichzeitig hal-ten wir den Schlüssel zu allem in Händen, was im Leben den Tod bringt – unsere unzähligen kleinen Tode in jeder Minute. Und wir verstehen, daß der Körper, dieser kleine so zerbrechliche, so lächerliche Körper, den andere als alten Lumpen oder Hindernis im höchsten Spiel des freien Geistes verachten, in Wahrheit das Feld einer höchsten Eroberung und einer höchsten Befreiung ist und daß das Paradies der Wahrheits-Sonne auf der Erde und in unserem Körper gebaut wird, in jeder Minute, durch unsere Annahme oder unser Zurückweisen des Lichts, durch unsere Wahl in jeder Minute zwischen un-serem Selbst von Licht und unserem Selbst des To-des.

Das supramentale Wesen ist eines, das für immer vom Tod befreit ist, und durch seine Befreiung wird die Erde befreit wer-den, durch ihre höchste Finsternis zu ihrer höchsten Sonne genötigt.

15 Das transformierte Wesen

Der Sucher der inte-gralen Wahrheit gleicht also einem Kämpfer gegen den Tod; in der Tat war das schon die ganze Zeit seine Aufgabe und Arbeit gewesen, seit dem Augenblick, wo er auf der Straße innehielt und die dunkle Hast der Mechanik mit seinem Schrei dur-chbohrte. Er focht die Schlacht gegen die Lüge der Unbewußtheit in seinem Mental, in seinem Herzen, in seinem Leben und in jeder Geste und in seinem Unterbewußtsein, und nun offenbart die Lüge ihr wahres Gesicht: sie ist der Tod, welcher auf den Straßen des Mentals, in den Schlupfwinkeln des Herzens, den Kavernen des grauen Elfen paradierte, der Tod, welcher heimlich zersetzende Gedanken, obskure Anfälle von Begierden und die Umklamme-rung durch das Ego herbeirief; doch hinter dieser unablässigen Jagd nach Stillung des Dursts und nach Besitz, hinter den tausend Fragen des Mentals, den Tausenden gierigen Gesten gab es so etwas wie zwei sterbliche Arme, die sich für immer verschließen und die große Sättigung des “Nichts”, ohne Begierde, ohne einen Hauch, ohne jegliche schmerzliche Anspannung an ein endlich stumm gewordenes Herz drücken wollten. Der graue Elf hat sein steinernes Gesicht angenommen, das mentale Ego den Schlußstein seiner undurchdringlichen Fes-tung gesetzt: unsere brillanten Meisterschaften sind die Meisterschaften des Todes, sie werfen ihn uns ins Gesicht, eines Tages, wenn die Gefangenschaft vollkommen ist – der innere Tod legt sich über den äußeren Tod, genau so, wie wir ihn Geste für Geste erbaut haben. Man tritt nicht auf die andere Seite über: man befand sich seit jeher auf der Seite des Todes. Für den Kämpfer der Wahrheit jedoch klärt sich das Spiel; zehnfach, hundertfach im Verlaufe des Tages ertappt er sich dabei, auf die Seite des Todes zu treten; wieder und wieder überschreitet er die Grenzlinie, kippt unmerklich in die Lüge vermit-tels der winzigen Nichtigkeiten, in denen sie ihre Zu-flucht findet, folgt dem Hin-und-her zwischen Leben und Tod in den Arterien seines Körpers. Er lernt die Technik des Übergangs, entwirrt diese tödliche Mis-chung.

Ich verließ die Oberflächen-Götter des Mentals

Und des Lebens unbefriedigte Meere

Und tauchte durch die blinden Gänge des Körpers

In die Unterwelt-Mysterien52.

Dies ist eine lange, monumentale Arbeit; jeder Sieg verwandelt sich in eine Niederlage, jede Niederlage wird zu einem größeren Sieg, immer wieder gilt es, an einem weiteren Punkt von neuem zu beginnen, ohne Ende. Wir glauben, Sri Aurobindos bewegende Stimme am Ende einer langen Reise, seinen Schrei ungebro-chener Gewißheit zu hören, der durch die zer-brechlichen Wände des Todes hallt:

Ich traf eine Verabredung mit der Nacht ...

Und durchreiste eine düstere, blinde Weite

Zu den grauen Ufern, an die ihre unwissenden Wasser schlagen.

Ich wandere entlang der Frostwellen durch den schweren Schlamm,

Und noch kennt die beschwerliche Reise kein Ende;

Verloren die strahlende Gottheit jenseits der Zeit,

Keine Stimme des himmlischen Freundes ertönt,

Und dennoch weiß ich, werden die Spuren meiner Füße

Ein Pfad zur Unsterblichkeit53.

Doch das ist noch immer eine negative Art der Darstellung, denn dem Reisenden auf dem Sonnenweg ist es weder um Höllen noch um Nacht zu tun, noch sucht er nach mikroskopischen Blitztoden, wenn sie ihn auch mi-tunter in einem Aufschrei des Erstickens überfallen: er versucht jederzeit und in allem, was er tut, mit dem großen Fluß der Harmonie und des Lichts und der Wahrheit in Verbindung zu bleiben, in all seinen Funktionen, jedem Atemzug, jedem Herzschlag; er ist ein minutiöser Besiedler des Lichts. Er drängt es in jede Ecke, jeden Winkel seines Körpers, in seinen Schlaf wie in sein Wachen, in jede Handlung, jede Bewegung, jede Sackgasse des Körpers, so wie er dies früher auf allen Straßen außen tat, und Schritt für Schritt, Zelle um Zelle gewinnt er an Grund. Er entfacht das Feuer der Sehnsucht – Sehnsucht nach Wahrheit, Sehnsucht nach Licht, Sehnsucht nach Raum – in jeder einzelnen seiner winzigen Festun-gen und drängt die Demarkationslinie der Unbe-wußtheit weiter und weiter zurück. Krankheiten be-fallen ihn, seine Kräfte schwinden54, der Tod zeigt einen Augenblick seine Fratze, dabei ist dies jetzt weder eine Falle noch ein Fall, denn er hat seine Augen weit offen und sieht, daß eine unfehlbare Hand ihn in diesen Abgrund leitet, damit er auch dort das Feuer der Wahrheit, einen Hilferuf, ein Verlangen nach Weite und Unendlichkeit entfache – und in der Sekunde, wo der wahre Schrei hervorbricht, löst sich alles auf, die Krankheit, der Tod, in Sekundenschnelle, gleich einem unwirklichen Schleier. Er erfährt die Unwirk-lichkeit des Todes – die höchste Unwirklichkeit, sie zerfällt in einem Augenaufschlag unter einem ein-zigen kleinen Hauch von Wahrheit. Und wenn man daran glaubt, ist es der sofortige Tod, der unerbit-tliche Basaltfluß, der uns in sein Nichts saugt – das tatsächlich nichts ist, nicht existiert: der Schrei eines Kindes durchbohrt ihn spielerisch. Es gibt nur eine Wirklichkeit, die unsterbliche Wahrheit, die Sonne, die seit jeher scheint, der große süße Fluß, der die Welten und die Körper bewegt – wenn wir nur an ihn glauben wollen, uns von ihm tragen lassen wollen, dem Sonnenweg zustimmen wollen. Er ist die ein-zige Realität. Der Tod existiert nicht, er ist allein das Vergessen dieser Realität. Eine Sekunde der Erin-nerung, und alles leuchtet in der Sonne – hat nie-mals aufgehört, in der Sonne zu leuchten, Schatten hat es niemals gegeben, den Tod hat es niemals gegeben: es gab nur diesen falschen Blick. Der Tod ist ein falscher Blick. Die Welt wächst ihrem wahren Blick entgegen, der alles in das verwandelt, was es wirklich ist, sie wächst ihrem Feuer entgehen, das alles in das transmutiert, was es wirklich ist: die Wahrheit in einem Punkt enthüllt die Wahrheit aller Punkte, die Wahrheit der Materie wirkt auf jede Ma-terie – und der Tod und der Schatten und das Nein, die im Herzen der Welt vergraben liegen, offenbaren ihr unsterbliches Antlitz, ihr ewiges Licht, ihr zustim-mendes und herrliches Ja, denn sie haben ihren äußersten Grund berührt und ihre Mission erfüllt, die darin bestand, uns an die Tore der Sonne zu führen – in unserem Körper und auf einer Erde der Wahr-heit.

Doch das Aufspüren und Vertreiben der Lügen und Unbewußtheit des Körpers schenkt uns noch nicht die Unsterblichkeit, es liefert uns allein eine beliebige Verlängerung des Lebens, und “wer scherte sich darum,” sagt Sri Aurobindo, “denselben Mantel über hundert Jahre zu tragen oder über eine lange Ewigkeit in einer engen unveränderten Wohnung eingesperrt zu sein55?” Das Leben in seiner gegenwärtigen schwer-fälligen Form zu verewigen, wäre wahrlich eine gräßliche Bürde, von der wir uns alsbald zu befreien suchten. Deshalb ist diese beliebige Lebensver-längerung nur ein erster Arbeitsschritt, der uns die Zeit gibt, das supramentale Wesen in unserem Kör-per zu schmieden. Es erfordert Zeit, dies zu tun, und es ist ein Wettlauf zwischen dem Gang des Todes und dem Fortschritt der Transformation. Sri Aurobindo schätzte, daß dreihundert Jahre not-wendig sein würden, um dieses Wesen zu bilden. Doch die Bewegung scheint sich zunehmend zu beschleunigen, und vielleicht hängt diese höchste Transformation nicht so sehr von der zeitlichen Länge individueller Vorbereitung ab als vielmehr von der Vorbereitung der Erde insgesamt und von ihrer Fähigkeit, die neue Welt zu akzeptieren. Und die Kraft der neuen Welt hämmert mitleidlos auf die Erde ein, schreitet mit Riesenschritten voran, platzt aus allen Nähten und Fugen, und das, was uns als ferner Glockenschlag erschien, wird zu einem ungeheuren Totengeläut, das die kommende Auferstehung ver-birgt. Wir erreichen den Grund des Grundes, stehen vor dem Tor der tiefen Nacht, die das Unerwartete verschleiert.

Alles hier ist Wunder und kann durch ein Wunder sich wandeln56.

*

Diese Genesis des supramentalen Wesens ist kein wirklich separates Stadium, sie ist in allen Punkten mit der des Über-menschen verbunden, allein das Mental zwingt uns, Trennlinien zu ziehen. Tatsächlich ist es eine lange Reise durch Leben und Epochen, Körper und Kör-per, das langsame Wachstum eines kleinen inneren Feuers, das sich bereits im Atom, im Stein und in der Pflanze verbarg, nicht größer als ein Leuchtkäfer, das im Menschen seiner selbst bewußt wurde, durch Kampf und Schmerz wuchs, durch Erfahrungen über Erfahrungen in einer weißen oder braunen Haut, auf dieser Breite oder einer anderen, das im Mental als kalter Strahl auftrat, die Finsternis in tausend wider-sprüchliche Strahlenbündel zerlegte, im Herzen wie eine kleine heiße Flamme pochte, gegen Wind und Wetter drängte und kämpfte, sich in der Liebe plagte, sich im Schmerz plagte, sich im Genuß plagte; den Panzer dieses Lebens durchdrang, für nichts leuchtete gleich einem Johannisfeuer an den Gesta-den der Welt, hier und dort suchte, seine Flamme an Millionen Nichtigkeiten entfachte, die niemals die Fülle ergaben, die Tage und Stunden entbrennen ließ, die Minuten und die Stunden einnahm, die großen Gesten und die kleinen, die kalten Jahreszeiten und die heißen, bis es nur noch eine einzige Jahreszeit des Feuers, einen einzigen Ge-sang der Flamme hier und dort gab; und sie wurde der Körper unseres Körpers, das Herz unseres Her-zens, der hohe Gedanke, der den weißen Flammen des Geistes entspringt, die reine Vision, die die Schmerzen der Erscheinungen durchdringt, die reine Liebe gleich purpurrotem Schnee auf den tristen Ge-filden der Erde, die reine Musik, der reine Rhythmus, der mit allem harmonisiert – sie wurde unser Körper des Gebets für die Welt, unser Körper des Lichts für die Menschen, unser Körper der Inbrunst für die Zu-kunft der Erde, unser lebendiger Scheiterhaufen für die Transfiguration der Materie. Und je tiefer sie sich in diese dichte Finsternis bohrte, in diese Verneinung auf dem Grunde, die Kleinlichkeit Tausender Gesten und Schläge für nichts und die Routine des Todes, um so blendender, strahlender, sonnenhaft golden leuchtete sie, konkretisierte sich, als stünde sie am Rande einer letzten Übertragung, einer goldenen In-vasion der Materie, eines letzten Aufschreis der Liebe, welcher die Mauern umstürzen würde, um die lebendige Pracht des neuen Körpers hervorzubrin-gen, den Meister dieser ganzen Evolution. “O Feuer ... die flammenden Strahlen Deiner Macht brechen gewaltig in alle Richtungen aus,” sagt der Veda. “O Flamme der hundert Schätze ... O Sohn des Körpers ... Du gründest das Sterbliche in einer höchsten Un-sterblichkeit57.”

Eines Tages wird er hervortreten als Meister der langen Feuerreise, das Ziel all dieser Schmerzen, der Brennpunkt aller Ep-ochen und Zeiten, und die ganze Erde wird sich verändert finden, ergriffen von seinem unwidersteh-lichen Strahl der Freude und der Schönheit, durch das Lächeln zum Lächeln bekehrt. Und alle Schatten werden fallen, als hätte es sie nie gegeben.

Immer noch vermag die Vollkommenheit eines einzigen Menschen die Erde zu retten58.

Sein wahrer Blick wird den wahren Blick in jedem von uns öffnen. Seine reine Wahrheit wird dieselbe Wahrheit in jedem Herzen und jedem Atom aufleuchten lassen. Seine Wirklichkeit verwirklicht die Erde. Die Erde wird transformiert durch das unwiderstehliche Strahlen ihrer eigenen Sonne.

Allein die Freude vermag zur Freude zu bekehren.

*

Wie wird der supra-mentale Körper sein, dieses “göttliche Leben” auf der Erde? Auch hier werden sich die Wunder als das einfache Naturell der Welt erweisen, und das neue Leben wird einer göttlichen Logik folgen, der Logik der göttlichen Wahrheit der Materie. Was sein wird, ist bereits hier, rauh, ungeschliffen, kaum seiner selbst gewahr, beschränkt durch die Beschränktheit unserer Sicht, denn in Wahrheit ist die Welt eine sich enthüllende Vision. Diese kolossale, unzählige, unerschöpfliche Energie, diese Bewußtseins-Kraft, die ungeheure Harmonie, von der wir uns ab-geschnitten und in einem kleinen egoistischen Kör-per verbarrikadiert haben, eingeschlossen in ein Be-ben der Begierde und des Schmerzes, wird unge-hindert durch uns fließen, denn unser Selbst wird das Selbst der Welt geworden sein, unser Denken der Übermittler des großen Rhythmus, unser Herz der Verbreiter des großen Pochens der Einheit, un-ser Gesetz das einzige sonnige Gesetz, das die Wel-ten bewegt, und unser Körper das Symbol des großen Körpers der Erde. Es wird keinen falschen Ton mehr in uns geben, keine persönliche Blende, keine verzerrenden Linsen, keinen egoistischen Wil-len, sondern den alleinigen Willen, der die Welten bewegt, und den einzigen Ton, der die Sphären zum Singen bringt. Dann wird die Harmonie auf allen Ebenen unseres Körpers fließen können, unmittel-bar, allmächtig, rein. Die kleinen Bewußtseinszentren59 – die Chakras der ver-schiedenen Nervengeflechte – werden zu mächtigen Verdichtern der kosmischen Energie geworden sein, ihre Projektoren auf die Materie; sie werden unseren eigenen Körper direkt nähren, wie uns heute die Nahrungsmittel indirekt und beschwerlich ernähren; ein jeder wird die exakt seiner Funktionsweise entsprechende Schwingung empfangen, die seiner Aktionsweise entsprechende “Frequenz” des Lichts: die Strahlen des augenblicklich verwirklichenden Gedanken-Willens, die Blitze der Wahrheitsvision, welche die Dinge an ihren Platz stellt und die Wahr-heit jedes Wesens, jedes Gegenstands, jedes Um-stands offenbart und befreit, die Sonne des Herzens, die heilt, die Flut der Lebenskraft, welche die Hin-dernisse hinwegfegt, den großen Strahl der ur-sprünglichen Kraft, der die Materie durch die Wahr-heit der Materie gestaltet. Alle Nerven, Gewebe, Zel-len, die wir entmechanisiert, gereinigt, von ihrer Verschlingung durch das Unbewußte befreit haben, werden zu freien Kanälen der supramentalen Kraft und tauchen unseren Körper in die Lichter des Geistes, der Freude des Geistes, des unsterblichen Nektars – bis auf den Tag, da dieses goldene Ein-fließen genügend konzentriert und individualisiert sein wird, um die schwerfällige Funktionsweise der Organe zu ersetzen und durch alle Poren der alten Haut zu leuchten, und den groben Körper durchtränkt, verwandelt oder ihn in seine solare Glut aufnimmt, wie die mächtige Gravitation der Atome die Partikel aufnimmt und ihre strahlend-energievollen Körper freisetzt.

Wir wissen nichts, nicht das geringste über den letztendlichen Verlauf! Er wird sich jedoch so unausweichlich vollziehen, wie die Knospen des Goldregens aufbrechen und ihre goldenen Kaskaden ergießen. Der sterbliche Körper wird seine Arbeit getan haben, die darin bestand, durch seinen eigenen Schrei einen un-sterblichen Körper auf der Erde zu bilden und den Geist zu offenbaren, den er seit jeher in seinen dunklen Zellen barg.

Dann wird das befre-ite supramentale Wesen sich in seiner eigenen flu-iden, leichten, lichtvollen, solaren Substanz bewegen und sich nach Belieben fortbewegen können, sich in eine unsichtbare Konzentration seiner selbst zurückziehen oder siegreich nach außen stürzen, seine Farbe und Gestalt entsprechend seiner in-neren Verfassung oder seiner Konzentrationsebene oder seiner Notwendigkeit der Ausführung verändern, unmittelbar und melodisch kommu-nizieren, die Materie seinem Willen gemäß handha-ben, sie willentlich verändern, sie willentlich neu schaffen oder neu gestalten durch die einfache und unmittelbare Einwirkung auf die Wahrheitsschwin-gung in den Dingen, sie willentlich aufbauen, wil-lentlich auflösen und einfach und augenblicklich all jene Operationen ausführen, die unsere Maschinen auf Umwegen vermittels einer schwerfälligen Über-setzung unserer mentalen Kräfte leisten. Denn ta-tsächlich ist es nicht ein “supramentales” Wesen, weil es mit einem Supermental ausgestattet ist, das eine Gradstufe über dem Mental läge und der Ma-terie eine zwingendere Macht auferlegen könnte, sondern weil es mit einem verinnerlichteren Grad an Macht begabt ist, die sich der Materie nicht auf-drängt, ihr nicht gewaltsam Wunder abringt, sondern ihre eigene kreative Energie, ihre eigene kreative Freude freisetzt und sie ihren eigenen Lichtton sin-gen läßt, so wie der Schäfer auf seinem Schilfrohr bläst.

Und das Leben außen wird dem Leben innen gehorchen.

Es wird das Ende der Kunstgriffe sein. Diese fabelhafte, ungeheure Welt, die auf allen Ebenen und Stufen mit Maschinen bestückt ist, verstrickt in eine Mechanik, die uns verschlingt und die kleinste Bewegung des Lebens, den kleinsten Hauch des Denkens, den leichtesten Herzschlag verschlingt und uns unter ihrem riesigen Panzer niederwalzt, wo jene, die am reichsten mit falschen Kräften ausgestattet, am besten mit ver-logenen Parolen gewappnet, mit der schwersten Verpanzerung triumphierender Unbewußtheit aus-gestattet, mit den leuchtendsten falschen Farben, falschem Flitterwerk und falschen Fernsehlichtern geschmückt sind, die hypnotisierte Masse beherr-schen, die sich fügt in dieses barbarische Molo-chopfer, diese universelle und totale, bis in die klein-ste unterbewußte Reaktion reichende Versklavung, in der selbst die erleuchtetsten Menschen durch den dumpfen Widerhall der Mechanik bewegt werden und von ihren eigenen Kräften zu sehen, zu fühlen und zu kommunizieren entfremdet sind, erstickt wer-den unter einem gigantischen Apparat, der ihr Den-ken bedingt, ihre Gefühle bedingt, ihren Glauben bedingt, sie durch die Wissenschaft reglementiert, durch das Gesetz reglementiert, durch die Maschine reglementiert, die man ankurbeln muß, um zu leben, ankurbeln muß, um zu essen, ankurbeln muß, um zu atmen und zu reisen, die man am Leben erhalten muß, um selbst zu leben – diese Welt wird sich wie ein unwirklicher Albtraum auflösen unter dem ruhi-gen Blick der Wahrheit, der jedes Ding und jede Sa-che an ihren Platz stellt, die Wahren mit Macht ausstattet, jeden seinem Licht gemäß kleidet, jeden in seine wahre Farbe taucht, die innerste Schwin-gung ohne Ausflucht, ohne falsche Verkleidung durchscheinen läßt, die Wesen spontan, automa-tisch, sichtbar, gemäß der Qualität ihrer Flamme und der Intensität ihrer Freude einordnet, die Klarsten mit seinem mächtigen Rhythmus versieht, jedem eine ihm gemäße Welt gibt, eine Behausung entspre-chend seiner Farbe, einen unsterblichen Körper entsprechend seiner Freude, einen Aktionsradius, der mit der Reichweite seines eigenen Strahls ein-hergeht, eine Macht, die Materie zu modellieren und gemäß seiner Intensität an Wahrheit und seiner Ka-pazität für Schönheit und des Grades an echter Phantasie zu verwenden; denn letztlich ist Wahrheit Schönheit, ist höchste Phantasie, die uns durch all die Millionen Jahre und Milliarden von Schmerzen dazu bringen wollte, unsere eigene Macht der Liebe und der schöpferischen Kraft wiederzuentdecken und den Tod durch die unsterbliche Freude zu entwurzeln.

Wie aber wird diese so schwere, so rebellische Materie, dieser gefühllose Stein der Macht des Geistes gehorchen? Wie wird sich die Materie der Erde transformieren lassen, ohne durch irgendeinen Vorschlaghammer zerschla-gen, vergewaltigt, zermalmt oder in unseren nuk-learen Reaktoren auf einige Tausend Grad erhitzt zu werden? Ebensogut ließe sich fragen, wie der Stein dem gewundenen Aufstieg der Raupe entkommen konnte – wir sehen nicht über unsere mentale Kondi-tionierung hinaus; unsere Sichtweise aber ist falsch, und die Materie, die wir so mitleidlos zermalmen, ist ebenso lebendig, aktiv, antwortend wie der Lauf der Sterne über unseren Köpfen oder das unmerkliche Beben des Lotos in der Mai-Sonne. Auch die Materie ist lebendig, auch die Materie ist eine Substanz der Ewigkeit, und sie vermag ebenso zu antworten wie das Mental oder das Herz oder die Pflanze. Es kommt einzig darauf an, den Berührungspunkt zu finden, die wahre Sprache zu kennen, so wie wir die Sprache der Zahlen gefunden haben, nur um ihr einige Ungeheuer zu entlocken. Es gilt eine andere Sprache zu finden für eine andere Vision, eine konk-rete Sprache, die die Erfahrung dessen gibt, was sie benennt, die das sichtbar macht, was sie sagt, die das berührt, was sie ausdrückt, und die die Schwin-gungen nicht übersetzt, sondern sie konkretisiert, die Dinge bewegt, indem sie den gleichen Ton aussen-det. Eine ganze Magie des Wortes gilt es wieder-zuentdecken.

Denn es gibt auch einen Rhythmus, der sowenig Fiktion ist wie das “Feuer” oder das “Fließen”. All das ist ein und das-selbe unter einem dreifachen Gesicht60, unter seinem individuellen und universellen Aspekt, in seiner menschlichen Verdichtung oder im interstel-laren Raum, in diesem Stein oder jenem Vogel. Jedes Ding, jedes Wesen hat seinen eigenen Rhythmus, so wie jedes Ereignis und die Rückkehr des Vogelzugs aus dem Norden. Es ist der große Ritus der Welt, ihre unteilbare Symphonie, von der wir uns mit unserem kleinen mentalen Körper ab-geschnitten haben. Doch er ist gegenwärtig, dieser Rhythmus, im Herzen von allem und trotz allem, denn ohne ihn würde alles zerfallen und sich zer-streuen: er ist das ursprüngliche Bindemittel, das musikalische Netzwerk, das die Dinge verbindet, ihre innerste Schwingung, die Farbe ihrer Seele und ihr Ton. In den alten tantrischen Schriften heißt es: “Der natürliche Name der Dinge ist der Klang, der erzeugt wird durch die Bewegung der Kräfte, aus denen sie sich zusammensetzen61.” Das ist der wahre Name eines jeden Dings, seine Macht des Seins und unser einziger wahrer Name unter den Millionen Erschein-ungen. Es ist das, was wir sind und was ist hinter all den Worten und den Pseudonymen, mit denen die Wissenschaft und die Gesetze uns und die Welt unentwegt auskleiden. Und vielleicht ist diese ganze Suche der Welt, diese quälende Evolu-tion, diese Schlacht der Dinge und der Wesen eine langwierige Suche nach ihrem wahren Namen, ihrer einzigartigen Identität, ihrer wahren Musik hinter die-ser wahnsinnigen Parodie. Wir sind niemand mehr! Wir sind irgend jemand in diesem mentalen Getöse, das vom einen zum anderen weitergeht; und den-noch sind wir ein einzigartiger Ton, ein kleiner Ton, der sich um seine große Musik müht, der sich überall stößt und der knirscht und leidet, weil er sich nicht singen kann; wir sind eine unersetzbare Person hinter diesem Karneval der falschen Namen, wir sind ein Name, der unsere einzigartige Klangfarbe ist, unser kleines Leuchtfeuer des Seins, unsere schlichte Einweihung in die große Weihe der Welt, und der uns doch geheimnisvoll mit allen anderen Leuchtfeuern und allen anderen Namen verbindet. Diesen Namen zu kennen, bedeutet, alle Namen zu kennen. Ein Ding zu benennen, heißt, fähig zu sein, es durch seine Musik wiederzuschöpfen, die glei-chen Kräfte in ihrem harmonischen Netzwerk zu er-fassen. Das supramentale Wesen ist vor allem “der Kenner des Wortes”, von dem die vedischen Rishis sprachen, “der Priester des Wortes62”, “derjenige, der erschafft” durch die einfache Intonation der Wahrheit der Dinge, poietes – er ist der Dichter des kommenden Zeitalters. Und sein Gedicht ist ein Fluß der Wahrheit, dessen jede Tatsachen und Materie kreierende Silbe auf die große Harmonie eingestimmt ist: eine Neuerschaf-fung der Materie durch die Musik der Wahrheit der Materie. Er ist der Dichter der Materie. Durch diese Musik verwandelt er; durch diese Musik kommu-niziert er; durch diese Musik erkennt und liebt er – denn in Wahrheit ist dieser Rhythmus die eigentliche Schwingung der Liebe, welche die Welten gebar und sie immerfort in ihrem Lied trägt.

Wir haben diesen kleinen Ton vergessen, den einfachen Ton, der die Herzen erfüllt und alles erfüllt, als würde die Welt plötzlich in eine orangene Zärtlichkeit gehüllt, so weit und tief wie grundlose Liebe, so alt, so vorzeitlich, als umfaßte sie alle Zeitalter, als entspränge sie dem Grunde der Zeiten, dem Grunde des Leids und aller Leiden der Welt und aller Nächte, ihrer Irrungen, ihrer Millionen schmerzvoller Wege über Leben und Leben, ihrer Millionen entschwundener Gesichter, verflossener und versunkener Lieben, die unverse-hens wieder auftauchen und uns in diesem orangenen Aufbrechen ergreifen – als wären wir all diese Leiden und Gesichter und Wesen gewesen auf den Millionen von Wegen der Erde und all ihre Gesänge der Hoffnung und Verzweiflung, all ihre verlorenen und getrennten Lieben, all ihre nie erlo-schene Musik in diesem einzigen kleinen Ton von Gold, der einen Augenblick mit dem wilden Schaum aufbricht und alles mit einer unsagbaren orangenen Übereinstimmung erfüllt, einem totalen Verständnis, einer Musik siegreicher Süße hinter dem Leid und dem Chaos, einer übervollen Augenblicklichkeit, als wären wir für immer am Ziel.

Dann haben wir das Ufer erreicht.

Das supramentale Wesen und der Übermensch sind nur die Ver-vollkommnung dieses kleinen Tons. Sie sind hier! Sie kommen! Sie schlagen an das Tor unserer Zeit:

Ich sah sie das Zwielicht einer Epoche durchschreiten,

Die sonnenäugigen Kinder einer herrlichen Morgenröte ...

Die mächtigen Blockade-Brecher der Welt ...

Die Architekten der Unsterblichkeit ...

Körper leuchtend durch des Geistes Licht,

Träger des Zauberwortes, des mystischen Feuers,

Träger des Dionysischen Kelches der Freude63.

Und sie werden un-sere Mauern zum Einstürzen bringen.

16 Die Zeit der Wahrheit

Bleibt das irritierende Geheimnis des Übergangs zwischen diesem Licht-körper und dem Schattenkörper, diesem Wahrheit-skörper und dem sterblichen Körper. Wir haben von “Übertragung” oder “Aufnahme” gesprochen oder von Umwandlung des einen durch den anderen. Aber all dies sind Worte, die unsere Unwissenheit kaschieren. Wie wird diese “Kruste”, wie jene es nannte, die Sri Aurobindos Werk fortführte (und das gefährliche Abenteuer, den letzten großen Saltus der materiellen Evolution wagte), sich öffnen, der langgehegten Blüte des Feuers weichen, wie wird diese neue materielle Substanz – die Sub-stanz der neuen Welt – in Erscheinung treten, sich materialisieren? Denn sie ist bereits hier, sie wird nicht vom Himmel fallen; sie leuchtet bereits für die-jenigen, welche die Vision der Wahrheit haben. Sie wurde erbaut, verdichtet durch die Flamme der Aspi-ration einiger Körper; es scheint fast, als genüge ein Nichts, um sie ans helle Tageslicht treten zu lassen, sichtbar und greifbar für alle – dieses “Nichts” aber, dieser unfaßbare Schleier, dieser letzte Filter, wir wissen weder, woraus er besteht, noch was ihn be-seitigen wird. Denn es ist wirklich nichts, kaum eine Kruste, und dahinter pocht und vibriert eine neue Welt, so intensiv, so glühend und leuchtend, von einem so schnellen Rhythmus und einem so le-bendigen Licht, um so vieles lebendiger und wahrer als das Licht der gegenwärtigen Erde, daß man sich tatsächlich fragt, wie es möglich ist, in dieser alten, verhärteten, engen, schwerfälligen, unbeholfenen Substanz weiterzuleben, und daß das ganze Leben, wie es jetzt ist, tatsächlich als eine alte, ausgetrock-nete, hauchdünne, farblose, fade Kruste erscheint, eine Art Karikatur des wahren Lebens, ein zweidi-mensionales Abbild einer anderen materiellen Welt voller Tiefen und “Schwingung”, voller Reichtum sich überlagernder und verschmelzender Bedeutun-gen, voll wirklichen Lebens, wirklicher Freude, wirk-licher Bewegung. Dort draußen sind es nur zap-pelnde Puppen von Wesen, vergängliche Umrisse eines chinesischen Schattenspiels, erleuchtet durch etwas anderes, projiziert von etwas anderem, das das Leben dieser Schatten ist, das Licht ihrer Nacht, die geweihte heilige Bedeutung ihrer kleinen nichti-gen Geste, der wahre Körper ihrer fahlen Silhouette. Und doch ist es eine materielle Welt – ma-teriell, wirklich materiell, keine glänzende Fiktion, keine Halluzination bei geschlossenen Augen, kein vager Heiligenschein kleiner Heiliger: sie ist hier, gleich der “wahren Materie”, wie Sri Aurobindo sie nannte, sie schlägt an unsere Tore, sucht auch für unsere Augen und in unseren Körpern zu existieren, hämmert auf die Welt ein, als wollte das große ewige Bild in das kleine eindringen, die wahre wirkliche Welt in diese Karikatur eindringen, die an allen Ecken und Enden in die Brüche geht, die Wahrheit der Materie in diese verlogene und illuso-rische Verkleidung eindringen – als läge die Illusion wirklich auf unserer Seite, in diesem falschen Blick auf die Materie, in dieser falschen mentalen Struktur, die uns daran hindert, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Denn sie bestehen bereits, genauso wie die Fülle des Monds bereits besteht, allein verstellt durch unseren umschatteten Blick.

Diese Solidität des Schattens, diese Wirksamkeit der Illusion ist wahr-scheinlich das kleine “Nichts”, das im Wege steht. Konnte die Raupe anders, als eine lineare Welt zu sehen, so konkret und objektiv für sie, wie sie für uns unvollständig und subjektiv ist? Unsere Erde ist nicht vollständig, unser Leben ist nicht vollständig, ja selbst unsere Materie ist nicht vollständig: sie häm-mert und drängt, um ganz und eins zu werden. Es könnte sehr wohl sein, daß die gesamte Lüge der Erde in ihrem falschen Blick liegt, der ein falsches Leben, falsches Handeln, falsches Sein mit sich bringt, ein Sein, das noch nicht einmal wirklich ist, das nach Sein schreit, das wieder und wieder an un-sere Tore und an die Tore der Welt schlägt. Und dennoch existiert diese “Kruste”, diese “Hülse” – sie leidet und stirbt. Das ist keine Illusion, selbst wenn dahinter das Licht des Schattens liegt, die Quelle seiner Geste, das wahre Gesicht seiner Maske. Was hindert die Verbindung?... Vielleicht einfach etwas in der alten Substanz, das sich noch immer für seinen Schatten hält, anstatt sich als seine Sonne zu be-greifen – vielleicht handelt es sich nur um eine Art Überführung unseres materiellen Bewußtseins, seines totalen und integralen Übertritts von dem kleinen Schatten in die große Person? Ein Übertritt, der dem Tode gleicht, ein Umschwung in ein so radi-kales “Anderssein”, daß es der Auflösung des alten Biedermanns gleichkommt: ein augenblicklicher Wiederauferstehungstod? Ein unvermittelt anderer Blick, ein Sturz in den Lebenskern, in das wahre Le-ben, das den alten Schatten abschafft oder “ent-wirklicht”?

Der ganze Weg, der einfache Weg, besteht vielleicht nur darin, das wahr-zunehmen, was bereits hier ist – und zu lernen, Ver-trauen zu haben.

Aber diese hart-näckige Kruste, die alte illusorische Materie überall unter unseren Füßen fährt fort zu bestehen – wenig-stens für die anderen. Ihre vorherrschende Wahrnehmung ist das Kriterium der Objektivität, das, was wir als “die Welt, so wie sie ist” bezeichnen. Ist es vorstellbar, daß eine Handvoll fortgeschrittener Wesen, Pioniere der neuen Welt, auf diese wahre Weise leben werden, in diesem wahren Körper (un-sichtbar für die anderen), während die anderen weiterhin im alten Schatten leben und sehen und mit ihm straucheln, mit ihm leiden und sterben, bis zu dem Augenblick, an dem auch sie zum letzten Über-gang fähig sind – fähig, in die neue Welt einzutreten, die dann die allgemeine Objektivität geworden sein wird, und dennoch auf dieser Erde und in dieser Ma-terie, aber mit dem wahren Blick gesehen. Die alte Kruste wird fallen, wenn alle fähig sind, mit diesem Blick zu sehen – wenn alle, in eine fortgeschrittenere “Zeit” versetzt, den Baum in Blüte sehen, anstelle der alten Rinde?... Der Baum steht in voller Blüte, denn die Zeit ist gekommen; vielleicht muß man warten, bis die Menschen erkennen, daß die Zeit ge-kommen ist und daß all die Blüten da sind an dem schönen Baum – aber sie sind in Wahrheit schon da, außer für diejenigen, die noch im Winter trödeln, wenn der Frühling überall ausbricht. Tatsächlich ist das supramentale Bewußtsein, der supramentale Rhythmus ein außergewöhnlich schneller Rhythmus – die heutige Erde erscheint statisch und stagnier-end im Vergleich dazu –, und vielleicht ist es einfach diese “Beschleunigung”, die den ganzen Unterschied ausmacht, die die orangene Sanftmut der supramen-talen Strahlen, ihre warmen und lebendigen Tiefen, ihre leichte Erde offenbart, wie die Beschleunigung der Galaxien das Rot oder Violett der Sterne ent-facht, ihrer Richtung entsprechend. Und wie könnte diese neue Vision – so konkret wie die aller Himala-yas zusammengenommen, konkreter selbst als sie, denn sie enthüllt alle geheimen Tiefen des Himala-yas und seinen lebendigen Frieden, seine solide Ewigkeit – nicht radikal das ganze Leben der Menschheit verändern, zumindest für jene, die zu sehen vermögen, und nach und nach für alle Men-schen, es so radikal verändern, wie die menschliche Wahrnehmung die Welt veränderte, die die Raupe wahrnahm?... Denn schließlich vernichtet die neue Vision nicht die Welt, sie zeigt sie nur so, wie sie ist (und auch dann noch wird dieses supramen-tale “so, wie es ist” wahrscheinlich mit den zukünfti-gen Epochen weiter wachsen – wo ist das Ende?). Es ist nicht wahr, daß die Materie plötzlich “anders” wird, auf einen wunderbaren und alles-transmutierenden Schlag, nein, sie wird (für unsere Augen) das, was sie immer schon gewesen ist: sie hört auf, der gewundene Steilweg der Raupe zu sein und breitet ihre sonnigen Wiesen aus, die sich immer weiter erstrecken mit unserem Blick. Die wahre Ma-terie, die supramentale Materie hat schon immer auf unseren wahren Blick gewartet – nur Gleiches erk-ennt Gleiches. Die Zeit des Göttlichen erwartet uns auf Erden, wenn wir nur zustimmen, dieses Gleichnis zu erkennen, von dem wir nur ein erstes Abbild sind.

Und das ganze Prob-lem der Umwandlung stellt sich erneut: handelt es sich um eine Umwandlung der Materie oder um eine Umwandlung der Vision?... Wahrscheinlich beides, jedoch ist es der Wandel der Vision, welcher den Wandel der Materie auslöst, der Wandel der Vision, welcher eine neue Handhabung der Materie erlaubt, so wie unsere Menschenaugen uns eine neue Handhabung der Welt ermöglichten; und dieser Wandel der Materie scheint erst dann möglich zu sein, wenn die Menschheit als Ganzes oder ein hin-reichend mächtiger Teil des großen irdischen Kör-pers – denn wir sind ein einziger Körper, das vergessen wir ständig – einwilligt, die neue Luft zu atmen, diesen Saft aufzunehmen, aufzuhören, an seine alten Phantome und Ängste, seine alten men-talen Unmöglichkeiten zu glauben. Und wir können annehmen, wir können sogar sehen, daß diese Veränderung der Vision ansteckend ist; es ist eine Ansteckung der Wahrheit, eine unaufhaltsame Ausbreitung der Wahrheit: sie ist es, welche unsere Formen und unser Bewußtsein und unsere Gesetze, unsere Systeme und Staaten unter ihrem un-sichtbaren goldenen Druck aufbricht: die Welt erfährt den Ausbruch einer solaren Jahreszeit, die unser Zeitalter zum Schwingen bringt und es unter ihrem kraftvollen Einfluß in chaotische Verwirrung stürzt, und die Wahrheit einiger wird alle anderen zur Veränderung nötigen, so einfach, so unvermeidlich, wie der erste Anflug des Frühlings sich von Ast zu Ast ausbreitet und in Blüte um Blüte aufbricht.

Die Geheimnisse sind einfach, haben wir gesagt, und wir fragen uns, ob diese “schwierige” Umwandlung, diese kom-plizierte Alchemie, die schweren Zauberbücher und mysteriösen Einweihungen, die gelehrten Kasteiun-gen und spirituellen Gymnastiken, die Meditationen und Klausuren und gequälten Atemübungen und die ganze Mühe des Geistes nicht tatsächlich die Mühe des Mentals sind, das will, daß es schwer sei, unendlich schwer, damit es sich weiter aufblähen kann, um dann den Ruhm zu ernten, diesen unge-heuren Knoten aufzulösen, den es selbst geknüpft hat. Wenn es zu einfach ist, glaubt das Mental nicht daran, weil es nichts zu tun hat – denn es will etwas tun, um jeden Preis, denn das ist sein Brot-verdienst, sein Ego-Verdienst. Aber dieser mentale Schwulst und diese Aufgeblasenheit verschleiern uns vielleicht eine unendliche Einfachheit, eine höchste Leichtigkeit, ein höchstes Nicht-Tun, das die Kunst ist, alles zu tun. Wir mußten wieder und wieder tun und uns auf den Pfaden des Mentals um-tun, um ein Quentchen dieser ungeheuren, uner-meßlichen Bewußtseins-Kraft, dieser universellen Energie-Harmonie zu individualisieren, um ihr gewis-sermaßen das Bewußtsein ihrer selbst zu geben, in dieser Gestalt oder in einer Milliarde Gestalten – doch vielleicht ist die Zeit gekommen, am Ende der langen Reise der kleinen Flamme die Form aufzu-brechen, die unser Wachstum unterstützte, und in einem kleinen Seinszentrum, in einem kleinen Punkt der Materie, in einem kleinen klaren Ton die Totalität des Bewußtseins und der Energie und der Harmonie wiederzuerlangen und Das machen zu lassen und Das unseren Blick verändern zu lassen und Das unser Gewebe durchdringen zu las-sen und Das unsere Substanz ausweiten zu lassen – ein höchstes Kind in uns spielen zu lassen, das über die großen weiten Wiesen der Welt läuft und sich nichts sehnlicher wünscht, als mit uns und für uns zu spielen, wenn wir es nur wollen, denn es ist wir selbst. Diese schwierige Umwandlung ist vielleicht schließlich gar nicht so schwierig, sie sollte so leicht sein wie die Wahrheit, so leicht wie ein Lächeln, so leicht wie das spielende Kind. Vielleicht geht es nur darum zu wissen, ob wir die Partei der Schwierigkeit ergreifen wollen – die Partei des Men-tals, das sich hoffnungslos aufbläht im Versuch, die Größe des Universums zu erreichen, die Partei des “Aber” und des “Warum” und “Wie” und all dieser un-versöhnlichen Gesetze, die uns immer enger einschnüren in unserer mentalen Zwangsjacke – oder die Partei des Ich-weiß-nicht-was, das durch die Luft gleitet, in der Luft funkelt, an allen Ecken und in allen Begegnungen mit den Augen zwinkert, in sämtlichen Dingen und Banalitäten des Alltags auf-taucht, wie um uns in sein unbeschreibliches golde-nes Kielwasser zu ziehen, in dem alles einfach und leicht und wunderbar ist – wir sind mitten im Wunder! Wir sind mitten in der supramentalen Zeit, sie schlägt an all unsere geschlossenen Fenster, in unseren Ländern, in unseren Herzen, in unseren zusammen-brechenden Systemen und wankenden Gesetzen, in unseren strauchelnden Weisheiten, in unseren Tausenden von Übeln, die nicht aufhören aufzu-platzen, unseren Tausenden von kleinen Lügen, die den sinkenden Nachen verlassen – anmutig führt sie ihre goldene Barke hinter den trügerischen Er-scheinungen, treibt ihre unerwartete Blüte hinter dem alten Wrack, wartet auf einen winzigen Riß darin, um hervorzuspringen, einen winzigen Hilferuf. Die Um-wandlung ist nicht schwierig, sie ist vollkommen hier, schon vollbracht, sie wartet einzig darauf, daß wir unseren Blick für die Unwirklichkeit des Elends, die Unwirklichkeit der Lüge, die Unwirklichkeit des To-des, die Unwirklichkeit unserer Ohnmacht öffnen – die Unwirklichkeit des Mentals und der Gesetze des Mentals. Sie wartet auf unseren radikalen Sprung in die Zukunft der Wahrheit, auf unseren Massenauf-stand gegen den alten Käfig, unseren Generalstreik gegen die Mechanik. Oh, überlassen wir den Alten – den Uralten der alten Welt, den alten Gläubigen des Elends und des Leids und der Bombe und des Evangeliums und der tausend Evangelien, die sich die Welt streitig machen – die Verantwortung, ihre alte quietschende Mechanik noch ein paar Tage anzukurbeln und sich weiter über ihre Grenzen und die Reformen ihrer Fäulnis und die Übereinkünfte ihrer Zwistigkeiten zu streiten, Bomben anzuhäufen, falsches Wissen anzuhäufen, Bibliotheken und Museen anzuhäufen, das Gute zu predigen, das Böse zu predigen, dem Nächsten und dem Fernsten, dem Vaterland und dem Nicht-Vaterland zu predi-gen, weitere Maschinen und Supermaschinen zu fabrizieren und Raketen in den Weltraum und Elend in jeden Haushalt zu schicken – lassen wir ihnen ihre letzten Überschläge der Lüge, ihre letzten Schreie der Fäulnis, wir, die wir über die Vaterländer lachen, über die Grenzen lachen, über die Maschinen lachen und über jedwede vermauerte Zukunft lachen, wir, die wir an etwas Unsagbares und Schwereloses glauben, das an die Tore der Welt schlägt, das in unseren Herzen schlägt, an eine völlig neue, völlig klare, völlig lebendige und herrliche Zukunft, ohne Grenzen, ohne Gesetze, ohne Evangelien, jenseits all ihrer Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, ihrem Gut und Böse, ihrer kleinen Länder und kleinen Ge-danken – wir, die wir an die Wahrheit glauben, an die höchste Schönheit der Wahrheit, an die höchste Freude der Wahrheit, an die höchste Macht der Wahrheit. Wir sind die Kinder einer wunderbareren Zukunft, die bereits hier ist und durch unseren Schrei des Vertrauens an den Tag springen wird, die alte Mechanik hinwegfegen wird wie einen unwirklichen Traum, einen Albtraum des Mentals, einen alten Windsack, der keine Luft mehr hat als jene, die wir ihm zu leihen bereit sind. Die Umwandlung ist in un-serem Herzen zu vollziehen, es gilt die letzte Revolu-tion auszuführen: die supramentale Revolution der menschlichen Spezies – so wie andere die menschliche Revolution unter die Affen brachten – ihre große Revolte gegen die Mechanik, ihren Gen-eralstreik gegen das mentale Wissen, gegen die mentale Macht und mentale Fabrikationen – gegen das mentale Gefängnis –, ihre Massendesertierung von der alten Verwicklung des Schmerzes und ihr Ruf nach dem, was sein muß, ihr einfacher Schrei der Wahrheit in den Trümmern des mentalen Zeital-ters: die Wahrheit, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Dann wird Wahrheit sein.

Denn sie ist so ein-fach wie ein Kind und antwortet auf den leisesten Ruf.

Und sie wird alles für uns tun.

Pondicherry
20. August – 13. November 1970

Satprem wurde 1923 in Paris geboren, ist aber auch von bretonischer Ab-stammung. Den Großteil seiner Kindheit verbrachte er auf dem Meer. Seine Aktivitäten im Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht endeten mit anderthalb Jahren Konzentrationslager.

Noch zutiefst er-schüttert von diesem Erlebnis trat er 1946 in Pondi-cherry einen Posten in der Administration des fran-zösischen Hoheitsgebiets im Kabinett des Gou-verneurs François Baron an.

Zu diesem Zeitpunkt traf er Sri Aurobindo und Mutter zum erstenmal. Nach abenteuerlichen Reisen, die ihn nach Guayana, Brasilien und Afrika führten, kehrte er 1953 endgültig zu Mutter zurück, um ihr Vertrauter und Zeuge zu werden. Tag für Tag notierte er die Erfahrungen, die sie ihm anvertraute; sie bilden Mutters Agenda, das fabelhafte “Logbuch” des Weges zu einer neuen Spezies.

 

1 Sri Aurobindo, Savitri, 28:256

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2 Sri Aurobindo, The Life Divine, 19:680

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3 Sri Aurobindo, The Life Divine, 19:754

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4 Sri Aurobindo, The Bases of Yoga, IV.119

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5 Sri Aurobindo, Savitri, 28:370

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6 Sri Aurobindo, The Hour of God, 17:1

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7 Sri Aurobindo, The Synthesis of Yoga, 20:82

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8 Sri Aurobindo, ”Musa Spiritus”, 5:589

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9 Sri Aurobindo, ”Journey’s End”, 5:570

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10 Der Weg des Auf-stiegs ist bereits im Roman Der Sannyasin geschildert worden, und die höheren Mental-Ebenen wurden eingehend in Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewußtseins beschrieben.

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11 Sri Aurobindo, ”A God’s Labour”, 5:99

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12 Rigveda, III.22.2

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13 Rigveda, I.70.2

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14 Rigveda, I.59.1

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15 Tatsächlich dauerte es bis 1938 und dem Bethe-Weizsäcker-Zyklus, um dieses “dritte Feuer” – dasjenige der Kernreaktionen – zu ent-decken; und es ist tatsächlich das solare Feuer, des-sen ungeheure Strahlungsenergie durch die Fusion der Wasserstoffkerne zu Helium freigesetzt wird. Vorher kannte die Wissenschaft nur die beiden er-sten Arten von Feuer: das Feuer chemischer Reak-tionen, in dem Moleküle zerfallen und sich wieder neu verbinden, ohne dabei ihre konstituierenden Atome zu verändern, und das Feuer, welches aus Veränderungen auf den Randschichten der Atome (der Elektronen) entsteht, Veränderungen, welche die Grundlage aller elektromagnetischen Phänomene bilden. (Anmerkung von P. B. Saint-Hilaire)

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16 Rigveda, III.39.5

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17 Katha Upanishad, V.8

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18 Rigveda, II.1.12

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19 Rigveda, I.179.1

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20 Brihadaranyaka Upanishad, IV.5.4

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21 Sri Aurobindo, Thoughts and Apho-risms, Nr. 383

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22 der zweithellste Stern im Orion (Transliteration eines arabischen Wortes)

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23 Mundaka Upanishad, II.2.12

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24 Svetasvatara Upanishad, IV.3.4

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25 Chhandogya Upanishad, VI.8.7

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26 Rigveda, II.24.4

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27 Eine geometrische Figur, der sich tantrische Okkultisten bedienen, um bestimmte Kräfte zu materialisieren.

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28 Rigveda, III.7.2

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29 Sri Aurobindo, ”The Life Heavens”, 5:575

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30 Sri Aurobindo, The Ideal of Hu-man Unity, 15:558

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31 Nirodbaran, Correspondence with Sri Aurobindo, II.112

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32 Sri Aurobindo, ”A God’s Labour”, 5:99

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33 Mutter, Entretien am 16.9.1953

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34 Mutter, Quelques Pa-roles, 31

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35 Sri Aurobindo, On Himself, 26:375

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36 Sri Aurobindo, Savitri, 28:183

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37 Sri Aurobindo, The Syn-thesis of Yoga, 20:253

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38 Thron (speziell für spirituelle Meister)

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39 Sri Aurobindo, Savitri, 29:571

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40 Sri Aurobindo, Savitri, 28:35

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41 Sri Aurobindo, On Himself, 26:172

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42 Sri Aurobindo, ”A Voice Arose”, 5:117

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43 Sri Aurobindo, Savitri, 28:59

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44 Sri Aurobindo, ”The Golden Light”, 5:134

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45 Rigveda, V.1.2

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46 Rigveda, V.1.9, IV.6.9

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47 Sri Aurobindo, ”The Dumb Inconscient”, 5:163

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48 A.B. Purani, Evening Talks with Sri Aurobindo, II.291

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49 Rigveda, III.4.2

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50 Rigveda, I.71.2

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51 Katha Upani-shad, I.1.7

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52 Sri Aurobindo, ”A God’s Labour”, 5:101

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53 Sri Aurobindo, ”The Pilgrim of the Night”, 5:132

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54 Tatsächlich ist er sich des Verlusts der alten Vitalkräfte viel be-wußter als der neuen Kräfte, die in ihm aufkommen, die subtiler sind, ungewohnt für seinen Körper, und deren Funktionsweise er nicht sehr gut versteht – sie scheinen in Sekundenschnelle zu verschwinden, durch eine mikroskopische Veränderung im Bewußt-sein, um durch eine weitere Veränderung des Be-wußtseins, die er noch wenig versteht, in Sekunden-schnelle wieder aufzukommen und ihn zu erfrischen. Doch diese kleine Sekunde der Erfrischung ist un-säglich belebender als ganze Stunden der phy-sischen Ruhe, und sie scheint von Grund auf eine Ordnung gleich einer Erneuerung des Wesens wiederherzustellen.

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55 Sri Aurobindo, Thoughts and Aphorisms, Nr. 376

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56 Sri Aurobindo, Savitri, 28:85

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57 Rigveda, I.97.5, I.59.7, III.4.2, I.31.7

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58 Sri Aurobindo, Savitri, 29:531

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59 Siehe Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewußtseins (Verlag Hinder + Deelmann)

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60 Sagt doch der Rig-Veda in einem seiner schlagendsten Verse: “Du, o Feuer, hast das Wort der Wahrheit.” (I.59.7)

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61 Arthur Avalon, The Serpent Power, 96

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62 Rigveda, I.10.1

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63 Sri Aurobindo, Savitri, 28:343

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