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Sri Aurobindo

Das Göttliche Leben

Buch 1

Kapitel XV. Das Höchste Wahrheits-Bewußtsein

Einer, thronend im Schlaf der Über-Bewußtheit, eine ungeheure Intelligenz, voller Seligkeit und Genießer der Seligkeit... Das ist der Allmächtige, das ist der Allwissende, das ist die innere Herrschaft, das ist der Ursprung von allem.

Mandukya Upanishad, Verse 5, 6.

Dieses Supramental, das alles in sich enthält, alles verursacht und alles aufs Höchste erfüllt, müssen wir als die Natur des Göttlichen Wesens erkennen, und zwar nicht in seinem absoluten Selbst-Sein, sondern in seinem Wirken als Herr und Schöpfer seiner eigenen Welten. Das ist die Wahrheit dessen, was wir Gott nennen. Offensichtlich ist er nicht die allzu personhafte und begrenzte Gottheit, der vergrößerte und übernatürliche Mensch der üblichen westlichen Auffassung. Diese Auffassung errichtet ein allzu menschliches Idol einer gewissen Beziehung zwischen dem schöpferischen Supramental und dem Ich. Wir dürfen gewiß nicht den persönlichen Aspekt der Gottheit ausschließen, denn der apersonale ist nur der eine Aspekt des Seins. Das Göttliche Wesen ist All-Sein, aber es ist auch der Eine Seiende, es ist das einzige Bewußt-Seiende, aber doch ein Seiendes. Wir befassen uns jedoch im Augenblick nicht mit diesem Aspekt. Wir suchen die apersonale psychologische Wahrheit des Göttlichen Bewußtseins zu ergründen: Wir müssen es jetzt in einem umfassenden geklärten Begriff festlegen.

Das Wahrheits-Bewußtsein ist als ein ordnendes Wissen aus dem Selbst überall im Universum gegenwärtig, durch das das Eine die Harmonien seiner unendlichen potentiellen Vielfalt offenbart. Ohne dieses ordnende Selbst-Wissen wäre die Manifestation nur ein dahintreibendes Chaos, gerade weil die Potentialität unendlich ist und, sich selbst überlassen, nur zu einem Spiel unkontrollierten schrankenlosen Zufalls führen würde. Gäbe es nur eine unendliche Entwicklungsmöglichkeit ohne ein Gesetz lenkender Wahrheit und harmonischer Selbst-Schau, ohne eine vorausbestimmende Idee, die schon im Keim der Dinge enthalten ist, wenn er zur Evolution ausgestreut wird, könnte die Welt nichts anderes sein als ein Durcheinander massenhafter, gestaltloser, verworrener Ungewißheit.

Das Wissen aber, das erschafft – denn was es erschafft, sind Gestaltungen und Mächte aus ihm selbst, also nichts, was etwas anderes wäre als es selbst –, besitzt in seinem eigenen Wesen die Schau der Wahrheit und des Gesetzes, das jede Potentialität beherrscht, zugleich damit ein ins einzelne gehendes Gewahrsein seiner Beziehung zu anderen Potentialitäten, ferner der Harmonien, die zwischen ihnen möglich sind. Es enthält in einer allgemein bestimmenden Harmonie vorgeformt, was die gesamte rhythmische Idee eines Universums schon bei ihrem Entstehen und bei ihrer Konzeption im Selbst enthalten und sich deshalb unvermeidlich durch das Zusammenspiel dessen, was sie konstituiert, auswirken muß. Es ist Ursprung und Hüter des Gesetzes in der Welt, denn dieses Gesetz ist nichts Willkürliches – es ist Ausdruck einer Eigenart des Selbsts, bestimmt durch die zwingende Wahrheit der Realidee, die jedes Ding ursprünglich ist. Darum ist von Anfang an die gesamte Entfaltung im Selbst-Wissen dieser Wahrheit und in jedem Augenblick in ihrem Selbst-Wirken vorbestimmt: Sie ist das, was sie in jedem Augenblick durch ihre ursprüngliche, eingeborene Wahrheit sein muß. Sie bewegt sich auf das hin, was sie im nächsten Augenblick sein soll, eben infolge ihrer ursprünglichen, eingeborenen Wahrheit. Sie wird am Ende das sein, was in ihrem Keim enthalten und wozu sie bestimmt ist.

Diese Entwicklung der Welt und ihr Fortschritt im Einklang mit einer ursprünglichen Wahrheit ihres eigenen Wesens setzt voraus: eine Aufeinanderfolge der Zeit, eine Beziehung im Raum, eine geregelte Wechselwirkung der aufeinander bezogenen Dinge im Raum, der die Aufeinanderfolge der Zeit den Aspekt der Kausalität verleiht. Zeit und Raum besitzen nach Auffassung des Metaphysikers nur eine begriffliche, keine wirkliche Existenz. Da aber alle Dinge – und nicht nur diese – Formen sind, die vom Bewußt-Seienden in seinem eigenen Bewußtsein angenommen werden, ist diese Unterscheidung nicht von großer Bedeutung. Zeit und Raum sind jenes eine Bewußt-Seiende, das sich selbst in seiner Ausdehnung betrachtet, subjektiv als Zeit und objektiv als Raum. Unsere mentale Betrachtung dieser beiden Kategorien wird durch die Vorstellung vom Messen bestimmt, die der Betätigung des analytischen teilenden Verfahrens des Mentals eingeboren ist. Zeit ist für das Mental eine mobile Ausdehnung, gemessen durch die Aufeinanderfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wobei das Mental einen gewissen Standort einnimmt, von dem aus es nach vorwärts und rückwärts schaut. Raum ist eine stabile Ausdehnung, die durch die Teilbarkeit der Substanz gemessen wird. Das Mental stellt sich auch hier an einen gewissen Punkt der teilbaren Ausdehnung und betrachtet von da aus die Anordnung der Substanz um sich herum.

Tatsächlich bemißt das Mental Zeit durch Ereignis und Raum durch Materie. In der reinen Mentalität ist es aber möglich, die Bewegung von Ereignis und die Anordnung von Substanz unbeachtet zu lassen und die reine Bewegung der Bewußten Kraft zu betrachten, die Raum und Zeit konstituiert. Dann sind Raum und Zeit nur zwei Aspekte jener universalen Bewußtseinskraft, die, ineinander verflochten, in ihrer Wechselwirkung Kette und Schuß des Gewebes ihrer Einwirkung auf sich selbst umfaßt. Für ein Bewußtsein, das höher ist als das Mental, unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einem einzigen Blick überschauen und die drei in sich enthalten würde, statt in ihnen enthalten zu sein, und das auch nicht auf einen besonderen Augenblick der Zeit als den Ort seines Schauens festgelegt wäre, könnte sich die Zeit wohl als eine ewige Gegenwart darstellen. Für dasselbe Bewußtsein, das nicht auf einen bestimmten Punkt des Raumes fixiert wäre, sondern alle Punkte und Bereiche in sich enthielte, könnte sich der Raum als eine subjektive und unteilbare Ausdehnung darbieten, – nicht weniger subjektiv als die Zeit. In gewissen Augenblicken nehmen wir eine solche unteilbare Schau wahr, die durch ihre unveränderliche selbst-bewußte Einheit die Verschiedenartigkeiten des Universums trägt und zusammenhält. Wir dürfen aber jetzt nicht fragen, wie sich die Inhalte von Zeit und Raum dort in ihrer transzendenten Wahrheit darstellen würden. Denn das kann unser Mental nicht begreifen. Es ist sogar dazu bereit, diesem Unteilbaren jede Möglichkeit zu bestreiten, die Welt auf eine andere Weise zu erkennen als auf die unseres Mentals und unserer Sinne.

Was wir einzusehen haben und auch bis zu einem gewissen Grad begreifen können, ist die einheitliche Schau und die allumfassende Betrachtung, durch die das Supramental die Aufeinanderfolgen der Zeit und die Einteilungen des Raumes umgreift und miteinander vereint. Bestünde nicht dieser Faktor der Aufeinanderfolge von Zeit, gäbe es zunächst weder Veränderung noch Fortschritt. Unablässig würde sich eine vollkommene Harmonie offenbaren, gleichzeitig mit anderen Harmonien in einer Art ewigen Augenblicks, ohne ihnen zeitlich zu folgen in der Bewegung von der Vergangenheit zur Zukunft. Statt dessen haben wir die ständige Aufeinanderfolge einer sich entfaltenden Harmonie, in der die Melodie aus einer anderen, ihr vorausgegangenen, aufsteigt und in sich das birgt, was sie ersetzt hat. Würde die Selbst-Manifestation ohne den Faktor des teilbaren Raums existieren, gäbe es keine veränderliche Beziehung der Formen und kein Aufeinanderprallen der Kräfte. Alles würde wohl existieren, aber nicht zum Wirken entfaltet sein, – ein raumloses, rein subjektives Selbst-Bewußtsein würde alle Dinge in einem unendlichen subjektiven Verständnis in sich enthalten, etwa wie in der Phantasie eines kosmischen Poeten oder Träumers, es würde sich aber nicht in einer unbegrenzten objektiven Selbst-Ausbreitung über sie alle verteilen. Wäre allein die Zeit wirklich, würden ihre Aufeinanderfolgen die reine Entfaltung sein. In subjektiver freier Spontaneität würde eine Melodie aus der anderen aufsteigen wie in einer Komposition in der Musik oder in einer Reihe poetischer Bilder. Statt dessen haben wir eine von der Zeit ausgearbeitete Harmonie in Begriffen von Formen und Kräften, die in einer alles enthaltenden räumlichen Ausdehnung zueinander in Beziehung stehen, eine unaufhörliche Aufeinanderfolge von Mächten und Figuren der Dinge und Ereignisse in unserer Schau des Daseins.

In diesem Feld von Zeit und Raum sind verschiedenartige Potentialitäten verkörpert, räumlich angeordnet und zueinander in Beziehung gesetzt. Jede besitzt ihre Mächte und Möglichkeiten, tritt anderen Mächten und Möglichkeiten entgegen, so daß, im Ergebnis, die Aufeinanderfolgen der Zeit dem Mental als Zusammenprall und Kampf der Dinge erscheinen, nicht als durch spontane Aufeinanderfolge bewirkt. In Wirklichkeit gibt es ein spontanes Ausgestalten der Dinge von innen her. Der äußere Zusammenprall und Kampf ist nur der vordergründige Aspekt dieses schöpferischen Prozesses. Das innere, eingeborene Gesetz des Einen und Ganzen, das notwendigerweise Harmonie ist, regiert die äußeren, das Verfahren bestimmenden Gesetze der Teile oder Formen, die zu kollidieren scheinen. Für die supramentale Schau ist diese höhere und tiefere Wahrheit der Harmonie immer gegenwärtig. Was dem Mental als Disharmonie erscheint, weil es jede Sache gesondert betrachtet, ist für das Supramental ein Element der allgemeinen, immer gegenwärtigen und sich entfaltenden Harmonie, da es alle Dinge in vielfältiger Einheit schaut. Außerdem sieht das Mental nur eine gegebene Zeit und einen gegebenen Raum und schaut viele Möglichkeiten durcheinander als alle mehr oder minder in dieser Zeit und diesem Raum verwirklichbar. Das göttliche Supramental hingegen sieht die ganze Ausdehnung von Zeit und Raum und kann alle Möglichkeiten des Mentals zusammenfassend überblicken und noch viele dazu, die für das Mental nicht sichtbar sind. Es tut das ohne Irrtum, ohne Herumtasten oder Konfusion. Denn es gewahrt jede Potentialität in ihrer eigenen Kraft, ihrer wesenhaften Notwendigkeit und ihrer richtigen Beziehung zu den anderen. Es weiß Zeit, Ort und Umstand ihrer stufenweisen ebenso wie ihrer endgültigen Verwirklichung. Die Dinge stetig zu sehen und als Ganzes zu überschauen, ist für das Mental nicht möglich. Gerade das ist aber die eigentliche Natur des transzendenten Supramentals.

Dieses Supramental hält in seiner bewußten Schau nicht nur alle seine Formen zusammen, die seine bewußte Kraft erschafft, sondern es durchdringt sie auch als eine ihnen innewohnende Gegenwart und als ein sich selbst offenbarendes Licht. Wenn auch verborgen, so ist es doch in jeder Form und Kraft des Universums gegenwärtig. Es bestimmt souverän und spontan ihre Gestalt, Kraft und Funktion. Es begrenzt die Variationen, die seine Macht hervorruft. Es sammelt, zerstreut und modifiziert die Energie, die es verwendet. Das alles geschieht in Einklang mit den “ersten Gesetzen”,1 die sein Selbst-Wissen schon beim Entstehen der Form und am Ausgangspunkt der Kraft festgelegt hat. Es hat seinen Sitz in jeglichem Seienden als der Herr, der im Herzen aller existierenden Wesen thront, “Er, der sie im Kreis herumwirbeln läßt wie auf einer Maschine durch die Macht seiner maya” (Gita XVIII, 61). Er “ist in ihnen und hält sie in seinen Armen als der Göttliche Seher, der in verschiedener Weise die Gegenstände verteilte und ordnete, doch jeden richtig im Einklang mit dem, was seit ewigen Jahren ist” (Isha Upanishad, Vers 8).

So wird alles in der Natur, ob belebt oder unbelebt, mental seiner selbst bewußt oder nicht bewußt, in seinem Wesen und in seinen Wirkensweisen von einer innewohnenden Vision und Macht gelenkt, die für uns unter- oder unbewußt ist, weil wir ihrer nicht bewußt sind, die aber sich selbst gegenüber nicht unbewußt, vielmehr tief und universal ihrer selbst bewußt ist. Darum scheint jedes Ding die Werke einer Intelligenz zu tun, auch wenn es selbst keine Intelligenz besitzt, denn es gehorcht in seinem Inneren der Real-Idee des göttlichen Supramentals, ob unterbewußt wie in Pflanze und Tier, ob halbbewußt wie im Menschen. Das ist aber keine mentale Intelligenz, die alle Dinge und Wesen von innen her formt und lenkt, vielmehr eine Wahrheit des Seienden, die sich selbst wahrnimmt, in der Selbst-Wissen untrennbar ist von Selbst-Sein: Es ist dieses Wahrheits-Bewußtsein, das die Dinge nicht ausdenken muß, sondern sie mit Wissen bewerkstelligt entsprechend der unfehlbaren Selbst-Schau und der unwiderstehlichen Kraft eines einzigen, sich selbst erfüllenden Seins. Mentale Intelligenz denkt aus. Sie ist reflektierende Bewußtseins-Kraft, die nicht erkennt, sondern zu erkennen strebt. Sie folgt in der Zeit Schritt um Schritt dem Wirken eines Wissens, das höher ist als sie selbst, das immer existiert, das ein einziges und ganzes ist, das die Zeit fest in seinem Griff hält, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einem einzigen Blick überschaut.

Dies ist also das erste Verfahrens-Prinzip des göttlichen Supramentals. Es ist eine kosmische Schau, die all-umfassend, all-durchdringend und allem innewohnend ist. Da es alle Dinge im Wesen und in statischem Selbst-Innesein subjektiv, zeitlos und raumlos umgreift, begreift es sie alle auch in dynamischer Erkenntnis und regiert ihre objektive Selbst-Verkörperung in Raum und Zeit.

In diesem Bewußtsein sind der Wissende, das Wissen und das Gewußte keine verschiedenen Begriffe, sondern fundamental eins. Unsere Mentalität unterscheidet zwischen diesen dreien, denn sie kann nicht ohne Unterscheiden funktionieren. Verliert sie dieses ihr eigene Mittel und fundamentale Gesetz des Wirkens, wird sie bewegungslos und inaktiv. Darum muß ich, wenn ich mich selbst mental betrachte, auch diese Unterscheidung treffen: Ich bin als der Erkennende. Was ich in mir selbst beobachte, betrachte ich als Objekt meiner Erkenntnis. Ich bin es zwar, doch ist es nicht ich selbst. Die Erkenntnis ist das Verfahren, durch das ich den Erkennenden mit dem Erkannten verknüpfe. Die Künstlichkeit dieses Verfahrens, sein rein praktischer, nützlicher Charakter ist offensichtlich. Es ist klar, daß das nicht die fundamentale Wahrheit der Dinge darstellt. In Wirklichkeit bin ich, der Erkennende, auch das Bewußtsein, das erkennt. Und die Erkenntnis ist ebenfalls jenes Bewußtsein, nämlich ich selbst als Bewirkender der Erkenntnis. Das Erkannte ist ebenfalls ich selbst, eine Form oder Bewegung desselben Bewußtseins. Die drei sind deutlich ein einziges Sein, eine einzige Bewegung, unteilbar, obwohl sie getrennt zu sein scheinen. Das Sein ist nicht an seine Formen verteilt, obwohl es aussieht, als verteile es sich selbst an sie und stehe in jeder Form gesondert da. Das ist aber Erkenntnis, zu der das Mental gelangen, die es mit der Vernunft ausdenken und fühlen, aber nicht leicht zur praktischen Grundlage seiner intelligenten Verfahrensweisen machen kann. Im Blick auf Gegenstände, die außerhalb jener Form von Bewußtsein sind, die ich “ich selbst” nenne, wird die Schwierigkeit fast unüberwindlich. Hier die Einheit auch nur zu fühlen, erfordert ein abnormes Bemühen. Sie festzuhalten und auf ihrer Grundlage ständig zu handeln, würde ein neues, fremdartiges Tun bedeuten, das nicht eigentlich zum Mental gehört. Das Mental kann die Einheit höchstens als eine Wahrheit des Verstandes festhalten, durch die seine eigenen normalen Betätigungen korrigiert und modifiziert werden, die immer weiter auf Trennung beruhen, etwa so, wie wir intellektuell wissen, daß sich die Erde um die Sonne dreht, und dadurch die künstliche, jedoch für uns physisch so praktische Einstellung korrigieren, derzufolge die Sinne ständig weiter die Sonne als die Erde umkreisend betrachten, ohne die Einstellung abzuschaffen.

Das Supramental besitzt fundamental diese Wahrheit der Einheit und wirkt stets auf dieser Grundlage, die für das Mental nur ein sekundärer oder erworbener Besitz und nicht Kern seines Schauens ist. Das Supramental schaut das Universum und seine Inhalte als es selbst in einem einzigen unteilbaren Akt des Erkennens, einem Akt, der sein Leben und die eigentliche Bewegung seines Selbst-Seins ist. Wenn darum dieses allumfassende göttliche Bewußtsein in seinem Aspekt des Willens wirkt, führt oder regiert es nicht so sehr die Entfaltung des kosmischen Lebens, als daß es dieses in sich selbst durch einen Akt von Macht vollkommen erschafft, der von dem Akt des Wissens und der Bewegung des Selbst-Seins unabtrennbar ist, weil in Wirklichkeit ein und derselbe Akt. Wir haben gesehen, die universale Kraft und das universale Bewußtsein sind eins, – kosmische Kraft ist die Auswirkung kosmischen Bewußtseins. So sind auch göttliches Wissen und göttlicher Wille eins; dieselbe fundamentale Bewegung oder dasselbe Wirken des Seins.

Diese Unteilbarkeit des allumfassenden Supramentals, das die gesamte Vielfalt in sich enthält, ohne dadurch seine eigene Einheit aufzuheben, ist eine Wahrheit, auf die wir stets Nachdruck legen müssen, wenn wir den Kosmos verstehen und von dem Grundirrtum unserer analytischen Mentalität frei werden wollen. Ein Baum entwickelt sich aus dem Samen, in dem er bereits enthalten ist. Der Same entwickelt sich aus dem Baum. Ein festes Gesetz, ein unveränderlicher Prozeß regiert mit der Fortdauer der Form der Manifestation, die wir einen Baum nennen. Das Mental betrachtet dieses Phänomen, dieses Entstehen, Leben und Neu-Entstehen eines Baumes als ein Ding für sich und studiert, klassifiziert und erklärt es auf dieser Grundlage. Es erklärt den Baum durch den Samen und den Samen durch den Baum und behauptet, das sei ein Naturgesetz. Es hat aber gar nichts erklärt. Es hat nur den Vorgang eines Geheimnisses analysiert und dargestellt. Angenommen, es kommt so weit, daß es jene geheime bewußte Kraft als die Seele, als das wahre Wesen dieser Form wahrnimmt und alles übrige nur als festgelegtes Verfahren und Manifestation jener Kraft, auch dann will es die Form als ein davon getrenntes Sein mit dessen besonderem Naturgesetz und Entwicklungsprozeß ansehen. Im Tier und im Menschen mit seiner bewußten Mentalität verleitet diese sondernde Tendenz das Mental dazu, sich als abgesondertes Dasein zu betrachten, als das bewußte Subjekt, und andere Formen als davon getrennte Objekte seiner betrachtenden Mentalität. Dieses brauchbare Schema, das für das Leben und als erste Grundlage aller Betätigung des Mentals notwendig ist, wird von ihm als aktuelle Tatsache angenommen, und hieraus entsteht dann der ganze Irrtum des Ichs.

Das Supramental wirkt auf andere Weise. Der Baum und sein Wachstumsprozeß wären nicht das, was sie sind, ja könnten überhaupt nicht existieren, wenn sie gesonderte Existenzen wären. Formgestaltungen sind das, was sie sind, durch die Kraft des kosmischen Seins. Sie entfalten sich so, wie sie es tun, als Ergebnis ihrer Beziehung zu ihm und zu all seinen anderen Manifestationen. Das gesonderte Gesetz ihrer Natur ist nur eine Anwendung des universalen Gesetzes und der Wahrheit der gesamten Natur. Ihre besondere Entwicklung wird durch ihren Platz in der allgemeinen Entwicklung bestimmt. Der Baum erklärt nicht die Saat und die Saat nicht den Baum. Der Kosmos erklärt beide, und Gott erklärt den Kosmos. Das Supramental, das zugleich Baum, Saat und alle Wesen und Gegenstände durchdringt und bewohnt, lebt in diesem höheren Wissen, das unteilbar und eines ist, wenn auch mit einer modifizierten, nicht absoluten Unteilbarkeit und Einheit. In diesem allumfassenden Wissen gibt es kein unabhängiges Seins-Zentrum, kein individuelles abgesondertes Ich, wie wir es in uns erfahren. Für seine Selbst-Wahrnehmung ist das Ganze des Seins eine gleichmäßige Ausdehnung, eins im Einssein, eins in der Vielfalt, eins in allen Umständen und überall. Hier sind das All und das Eine dasselbe Sein. Der individuelle Mensch verliert nicht – und kann nicht verlieren - das Bewußtsein seiner Identität mit allen Wesen und mit dem Einen Wesen. Denn diese Identität gehört ursprünglich zur supramentalen Erkenntnis als Teil der supramentalen Selbst-Evidenz.

In dieser weiträumigen Ausgeglichenheit des Einsseins ist das Sein nicht zerteilt und nicht verteilt. Gleichmäßig selbst-ausgedehnt, als das Eine seine Ausdehnung durchdringend, als das Eine die Vielfalt der Formen bewohnend, ist es überall und gleichzeitig das einzige und gleichmäßige brahman. Denn diese Ausdehnung des Seins in Zeit und Raum und dieses Durchdringen und Innewohnen steht in inniger Beziehung zur absoluten Einheit, aus der es hervorgetreten ist, zu jenem absoluten Unteilbaren, in dem es keinen Mittelpunkt und keine Peripherie gibt, sondern nur das zeitlose und raumlose Eine. Diese hohe Konzentration von Einheit im unausgebreiteten brahman muß sich notwendigerweise in die Ausbreitung übertragen: durch diese in gleicher Weise alles durchdringende Konzentration, diese unteilbare Zusammenfassung aller Dinge, diese universale unverteilte Immanenz, diese Einheit, die kein Spiel der Vielfalt aufheben oder vermindern kann. “Brahman ist in allen Dingen, alle Dinge sind in brahman, alle Dinge sind brahman.” Das ist die dreifache Formel für das allumfassende Supramental, eine einzige Wahrheit der Selbst-Manifestation in drei Aspekten, die es in seiner Selbst-Schau zusammenhält, untrennbar, als das fundamentale Wissen, aus dem es in das Spiel des Kosmos hervortritt.

Was ist nun aber der Ursprung der Mentalität und der Organisation dieses niederen Bewußtseins in den dreifachen Begriffen von Mental, Leben und Materie, so wie wir das Universum betrachten? Da alles, was ist, aus dem Wirken des allwirksamen Supramentals hervorgehen muß, aus seinen Aktivitäten in den drei ursprünglichen Begriffen von Sein, Bewußter Kraft und Seligkeit, muß es ein Vermögen des schöpferischen Wahrheits-Bewußtseins geben, das so wirkt, daß es sie in die neuen Begriffe umprägt, in dieses niedere Trio von Mentalität, Vitalität und physischer Substanz. Wir finden diese Befähigung in einer sekundären Macht des schöpferischen Wissens, in seiner Macht eines projizierenden, konfrontierenden und wahrnehmenden Bewußtseins, in dem sich das Wissen konzentriert und von seinem Wirken zurücktritt, um es zu beobachten. Wenn wir hier von Zentralisation sprechen, meinen wir – im Unterschied zu der gelassenen Konzentration des Bewußtseins, von der wir bisher sprachen – eine unausgeglichene Konzentration, worin der Anfang der Selbst-Zerteilung oder dessen, was phänomenal so aussieht, einsetzt.

Der Erkennende hält sich in erster Linie als Subjekt auf das Erkennen konzentriert und betrachtet die Kraft seines Bewußtseins so, als ob sie ständig aus ihm in die Gestalt seiner selbst hervortrete, in ihr immer wirke, sich dauernd wieder in ihn zurückziehe und ständig wieder aus ihm hervorgehe. Aus diesem einzelnen Akt, durch den sich der Erkennende immer wieder selbst modifiziert, gehen alle praktischen Unterscheidungen hervor, auf die sich die relative Betrachtung des Universums und das relative Handeln in ihm gründen. So wurde die praktische Unterscheidung getroffen: zwischen dem Erkennenden, der Erkenntnis und dem Erkannten, zwischen dem Herrn, Seiner Kraft und den Kindern und Werken der Kraft, zwischen Ihm, der genießt, dem Genießen und dem Gegenstand des Genusses, zwischen dem Selbst, der maya und den Werdeformen des Selbsts.

Zweitens vervielfältigt sich diese Bewußte Seele, die im Erkennen konzentriert ist, dieser purusha, der die Kraft, seine shakti oder prakriti, die aus ihm hervorgegangen ist, beobachtet und lenkt, in jeder Gestaltung seiner selbst. Er begleitet sozusagen seine Bewußtseins-Kraft in ihre Werke hinein Und erzeugt dort immer wieder den Akt der Selbst-Zerteilung, aus dem das äußerlich wahrnehmende Bewußtsein geboren wird. Diese Seele, dieser purusha, wohnt in jeder Gestalt zusammen mit seiner Natur und beobachtet sich an anderen Gestaltungen von dem künstlichen, praktischen Mittelpunkt des Bewußtseins her. In allen ist dieselbe Seele, dasselbe Göttliche Wesen. Die Vervielfältigungen von Zentren ist nur ein praktischer Bewußtseins-Akt mit der Absicht, ein Spiel von Unterscheidung, Gegenseitigkeit, wechselseitigem Erkennen, Zusammenprallen von Kraft und gegenseitiger Freude zustande zu bringen, eine Unterschiedlichkeit, die in wesenhafter Einheit gegründet, eine Einheit, die auf der praktischen Grundlage von Verschiedenheit verwirklicht ist.

Diesen neuen Status des das All durchdringenden Supramentals können wir ein weiteres Heraustreten aus der unitarischen Wahrheit der Dinge und aus dem unteilbaren Bewußtsein nennen, das unveräußerlich die Einheit konstituiert, die für das Dasein des Kosmos wesentlich ist. Wenn diese Linie noch ein wenig weiter verfolgt wird, können wir sehen, wie die Wahrheit zu avidya, zur großen Unwissenheit werden kann, die von der Vielfalt als der fundamentalen Wirklichkeit ausgeht und mit der falschen Einheit des Ichs beginnen muß, um zur wahren Einheit zurückkehren zu können. Wir sehen auch, daß unfehlbar mentales Empfinden, mentale Intelligenz, mentale Aktion des Willens und all ihre Folgeerscheinungen auftreten müssen, sobald das individuelle Zentrum als der determinierende Standpunkt, als der Erkennende, akzeptiert wird. Wir können aber auch sehen, daß Unwissenheit noch nicht eingesetzt hat, solange die Seele im Supramental handelt. Das Feld des Wissens und Handelns ist immer noch das Wahrheits-Bewußtsein, Grundlage ist immer noch die Einheit.

Das Selbst betrachtet sich immer noch als eines in allen und alle Dinge als Werde-Erscheinungen in sich und aus ihm selbst. Der Herr erkennt immer noch seine Kraft an als Er selbst im Akt des Wirkens und jedes Wesen als Er selbst in Seele und Gestalt. Es ist immer noch sein eigenes Wesen, das der Genießende genießt, wenn auch in Vielfalt. Die einzig wirkliche Veränderung liegt in einer ungleichmäßigen Konzentration von Bewußtsein und in einer vielfältigen Verteilung von Kraft. Es gibt im Bewußtsein eine praktische Unterscheidung, aber es gibt keine wesenhafte Verschiedenheit von Bewußtsein oder eine wirkliche Zerteilung in der Schau seiner selbst. Das Wahrheits-Bewußtsein ist an einem Übergangs-Punkt angelangt, wo sich unsere Mental-Struktur vorbereitet, aber noch nicht die unserer Mentalität ist. Gerade diese Übergangsposition müssen wir studieren, um das Mental an seinem Ursprung erfassen zu können, an dem Punkt, wo es den großen Sprung aus der Höhe und unendlichen Weite des Wahrheits-Bewußtseins in die Zerteilung und Unwissenheit macht. Glücklicherweise liegt dieses nach außen gerichtete wahrnehmende Wahrheits-Bewußtsein, prajnana, uns viel näher und ist darum auch für unser Begreifen zugänglicher, denn es wirft die Schatten des Funktionierens unserer Mentalkräfte viel mehr voraus als die entlegenere Realisation, die wir bisher in unserer unzureichenden Sprache des Intellekts auszudrücken uns bemühten. Die Schranke, über die wir hinwegkommen müssen, ist nicht mehr so schrecklich hoch.

 

1 Ein vedischer Ausdruck: Die Götter handeln im Einklang mit den ersten Gesetzen, ursprünglich und darum erhaben, denn diese sind das Gesetz der Wahrheit der Dinge.

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