Sri Aurobindo
Das Göttliche Leben
Buch 1
Kapitel III. Die beiden Verneinungen. 2. Die Zurückweisung des Asketen
All dies ist das brahman; dieses Selbst ist das brahman, und das Selbst ist vierfältig. (Es ist) jenseits von Beziehung, gestaltlos, undenkbar, in ihm ist alles still.
Mandukya Upanishad, Verse 2,7.
Es gibt doch noch ein Jenseits davon.
Denn auf der anderen Seite des kosmischen Bewußtseins gibt es, für uns unerreichbar, ein noch mehr transzendentes Bewußtsein – nicht nur transzendent zum Ich, sondern auch zum Kosmos selbst demgegenüber das Universum wie ein winziges Bild vor einem unermeßlichen Hintergrund dazustehen scheint. Jenes trägt und erhält die universale Aktivität – oder duldet sie vielleicht nur. Es umfaßt das Leben mit Seiner ungeheuren Weite, – oder lehnt es vielleicht von Seiner Unendlichkeit her ab.
Der Materialist ist zwar von seinem Gesichtspunkt her gerechtfertigt, wenn er darauf besteht, die Materie sei die Wirklichkeit, die relative Welt das einzige, dessen wir einigermaßen gewiß sein könnten, das Jenseits etwas völlig Unerkennbares, wenn nicht gar Nicht-Seiendes, ein Traum des Mentals, eine Abstraktion des Denkens, das sich von der Wirklichkeit geschieden hat. Andererseits ist auch der in das Jenseits verliebte Sannyasin von seinem Gesichtspunkt aus gerechtfertigt, wenn er darauf besteht, der reine Geist sei die Wirklichkeit, das einzige, das frei ist von Wechsel, Geburt und Tod, das Relative sei nur eine Schöpfung des Mentals und der Sinne, ein Traum, eine Abstraktion im umgekehrten Sinn einer Mentalität, die sich vom reinen und ewigen Wissen zurückziehe.
Gibt es eine Rechtfertigung durch Logik und Erfahrung, die zur Stütze für das eine Extrem vorgebracht werden kann, der man nicht auch eine ebenso zwingende Logik und eine in gleicher Weise gültige Erfahrung vom anderen Ende her entgegenstellen könnte? Die Welt der Materie wird durch die Erfahrung der physischen Sinne bestätigt, und da diese als solche nicht fähig sind, etwas Nichtmaterielles oder nicht als grobe Materie Organisiertes wahrzunehmen, möchten sie uns davon überzeugen, das Übersinnliche sei das Unwirkliche. Dieser primitive simple Irrtum unserer körperlichen Organe gewinnt dadurch nicht an Gültigkeit, daß er in das Gebiet des philosophischen Vernunftdenkens erhoben wird. Seine anmaßende Behauptung ist offensichtlich unbegründet. Selbst in der Welt der Materie existiert manches, das die physischen Sinne zu erkennen unfähig sind. Dennoch gründet sich dieses Leugnen des Übersinnlichen, es sei notwendigerweise eine Illusion oder Halluzination, auf die dauernde, sinnenhafte Gleichsetzung des Wirklichen mit dem materiell Wahrnehmbaren, was doch selbst eine Halluzination ist. Da es durchweg das, was es zu beweisen sucht, schon voraussetzt, kommt es zu einem Zirkelschluß und kann darum keinen Wert für ein unparteiisches Vernunftdenken beanspruchen.
Nicht nur gibt es physische Wirklichkeiten von übersinnlicher Art, sondern auch – wenn Evidenz und Erfahrung überhaupt eine Probe auf die Wahrheit bieten – Sinne, die supraphysisch sind, die nicht nur die Wirklichkeiten der materiellen Welt ohne die Hilfe der körperlichen Sinnesorgane erkennen, sondern uns auch in Berührung mit anderen supraphysischen Wirklichkeiten bringen können, die einer anderen Welt angehören, – sozusagen eingeschlossen in eine Organisation bewußter Erfahrungen, die von einem anderen Prinzip abhängen als dem der groben Materie, aus dem unsere Sonnen und Erden gebildet zu sein scheinen (suksma indriya, subtile Organe, die im subtilen Körper, suksma deha, existieren und Mittel des subtilen Sehens und Erfahrens sind, suksma drsti).
Diese Wahrheit, durch Erfahrung und Glauben der Menschheit seit den Ursprüngen des Denkens dauernd behauptet, wird jetzt, da der Zwang zu einer ausschließlichen besonderen Beschäftigung mit den Geheimnissen der materiellen Welt nicht länger besteht, immer mehr durch neu entdeckte Formen wissenschaftlicher Forschung gerechtfertigt. Den immer zahlreicheren Beweisen, von denen nur die offensichtlichsten, äußerlichsten unter dem Namen Telepathie und verwandten Erscheinungen bekannt sind, kann nur die mentale Haltung solcher Menschen widersprechen, die noch im brillanten Gehäuse der Vergangenheit eingeschlossen sind, deren Intellekt trotz seiner Schärfe durch die Begrenzung auf das Feld ihrer Erfahrung und Forschung beschränkt ist oder die die Aufklärung und Vernunft mit der gutgläubigen Wiederholung von Formeln verwechseln, die, von einem verflossenen Jahrhundert uns vererbt, nun eifersüchtig als tote oder sterbende Dogmen konserviert werden.
Gewiß ist der Einblick in supraphysische Wirklichkeiten, der durch methodische Forschung erworben wird, noch unvollkommen und ungenügend bestätigt, denn die dabei verwendeten Methoden sind noch primitiv und fehlerhaft. Jedoch hat man diese wiederentdeckten subtilen Sinne schließlich als vertrauenswürdige Zeugen physischer Tatsachen erkannt, die jenseits der Reichweite körperlicher Organe liegen. Es ist also unberechtigt, sie falsche Zeugen zu schelten, wenn sie supraphysische Tatsachen jenseits des Bereiches der materiellen Bewußtseinsorganisation bezeugen. Ihr Zeugnis muß wie jede Evidenz, also auch die der physischen Sinne selbst, kontrolliert, erforscht und durch die Vernunft geordnet werden. Man muß es richtig auswerten, in die richtigen Beziehungen setzen, seinen Geltungsbereich, seine Gesetze und Verfahrensweisen genau bestimmen. Die Wahrheit großer Erfahrungsbereiche, deren Objekte in einer subtileren Substanz existieren und durch subtilere Instrumente als durch die der groben physischen Materie wahrgenommen werden, beansprucht letztlich dieselbe Geltung wie die Wahrheit des materiellen Universums. Die jenseitigen Welten existieren: Sie haben ihren universalen Rhythmus, ihre erhabenen Linien und Gestaltungen, ihre aus sich seienden Gesetze, mächtigen Energien und die ihnen entsprechenden lichtvollen Erkenntnismittel. Sie üben auf unsere hiesige physische Existenz und in unserem physischen Körper ihren Einfluß aus. Hier organisieren sie auch die Mittel für ihre Manifestation und entsenden hierher ihre beauftragten Boten und Zeugen. Die Welten sind jedoch nur Rahmen für unsere Erfahrung, die Sinne nur Instrumente der Erfahrung und Ausdrucksmittel. Die große zugrunde liegende Tatsache ist das Bewußtsein. An es, den universalen Beobachter und Zeugen, für den die Welt ein Feld und die Sinne Instrumente sind, appellieren die Welten und ihre Gegenstände zur Bestätigung ihrer Wirklichkeit, der einen oder der vielen Welten, der physischen ebenso wie der supraphysischen Welt; denn wir haben keinen anderen Beweis dafür, daß sie existieren. Man hat eingewendet, das sei keine der Konstitution der Menschheit und ihrer Betrachtung einer objektiven Welt eigentümliche Beziehung, sondern gerade die wahre Natur des Daseins an sich. Denn alles phänomenale Dasein bestehe aus einem beobachtenden Bewußtsein und einer aktiven Objektivität, und die Aktion könne nicht ohne den beobachtenden Zeugen vor sich gehen, weil das Universum nur im Bewußtsein und für das Bewußtsein existiere, das beobachtet, und unabhängig davon keine Wirklichkeit besitze. In Erwiderung darauf hat man dann behauptet, das materielle Universum erfreue sich einer ewigen Existenz aus sich selbst: Es war schon hier, bevor Leben und Mental in Erscheinung traten, es wird überleben, wenn sie wieder verschwunden sind und den ewigen unbewußten Rhythmus der Sonnen nicht mehr mit ihrem vergänglichen Ringen und ihren beschränkten Gedanken stören. Der Unterschied zwischen diesen Auffassungen, nur scheinbar ein metaphysischer, ist praktisch von größter Bedeutung, er bestimmt die gesamte Anschauung des Menschen vom Leben, vom Ziel, dem er all sein Bemühen weiht, und vom Feld, auf das er seine Energien konzentrieren soll. Er stellt die Frage nach der Wirklichkeit des kosmischen Daseins und, was noch wichtiger ist, nach dem Wert des menschlichen Lebens.
Verfolgen wir den materialistischen Schluß konsequent genug, ergibt sich daraus die Bedeutungslosigkeit und Unwirklichkeit des Lebens des Einzelnen und der Menschheit. Logischerweise läßt uns das nur folgende Wahl: Der Einzelne muß mit fieberhaftem Bemühen aus seinem vergänglichen Dasein alles, was er kann, an sich reißen, um, wie man sagt, “sein Leben auszuleben”. Oder er muß der Menschheit und dem Einzelnen leidenschaftslos und absichtslos dienen, wobei er gut weiß, daß der Einzelne nur eine vorübergehende Fiktion des nervlichen Mentals und die Menschheit nur die ein wenig länger lebende kollektive Form desselben regulären nervlichen Spasmas der Materie ist. Dann arbeiten oder genießen wir unter dem Zwang einer materiellen Energie, die uns mit dem kurzen Wahn des Lebens betrügt oder mit der edleren Täuschung irreleitet, es gebe ein sittliches Ziel und höchste mentale Erfüllung. Materialismus wie spiritueller Monismus gelangen zu einer maya, die ist und doch auch nicht ist: Sie ist, denn sie ist gegenwärtig und zwingend, und sie ist nicht, denn sie ist nur eine Erscheinung und in ihren Wirkungen vorübergehend. Wenn wir vom anderen Ende her zu viel Nachdruck auf die Unwirklichkeit der objektiven Welt legen, gelangen wir auf anderem Weg zu ähnlichen, sogar noch einschneidenderen Schlüssen: zum fiktiven Charakter des individuellen Ichs, zur Unwirklichkeit und Zwecklosigkeit des menschlichen Daseins, zur Rückkehr in das Nichtsein oder in das beziehungslose Absolute, der einzig vernünftigen Flucht aus dem sinnlosen Wirrwarr des Lebens in einer Scheinwelt.
Aber diese Frage kann eben nicht durch logisches Argumentieren aufgrund der Gegebenheiten unseres gewöhnlichen physischen Daseins gelöst werden. Denn in diesen Gegebenheiten gibt es immer eine Lücke der Erfahrung, die keine Auseinandersetzung zu einem Schluß kommen läßt. Normalerweise haben wir weder die definitive Erfahrung eines kosmischen Mentals oder eines Supramentals, die nicht an das Leben des individuellen Körpers gebunden wäre, noch besitzen wir eine feste Erfahrungsgrenze, die uns zu der Vermutung berechtigen könnte, unser subjektives Selbst sei wirklich von dem physischen Rahmen abhängig und könne diesen weder überleben noch sich über den individuellen Körper hinaus ausweiten. Dieser uralte Streit kann nur entschieden werden durch Ausweitung unseres Bewußtseins oder durch unverhofftes Wachsen unserer Erkenntnis-Instrumente.
Um befriedigend zu sein, muß die Ausweitung unseres Bewußtseins notwendigerweise eine innere Ausdehnung der individuellen zur kosmischen Existenz sein. Denn wenn der beobachtende Zeuge existiert, ist er nicht das individuelle verkörperte Mental, das in die Welt hineingeboren ist, sondern jenes kosmische Bewußtsein, das das Universum umfängt und zugleich als immanente Intelligenz in all dessen Wirken erscheint. Beide Welten werden ewig und wirklich von Ihm erhalten als Sein eigenes aktives Dasein, oder sie werden aus ihm geboren und verschwinden wieder in es durch einen Akt von Wissen oder einen Akt bewußter Macht. Nicht das organisierte Mental ist der beobachtende Zeuge des kosmischen Daseins und sein Herr, sondern Jenes, das still und ewig gleichmäßig in der lebendigen Erde und dem lebenden menschlichen Körper west, für das Mental und Sinne entbehrliche Instrumente sind.
Nach und nach wird in der modernen Psychologie die Möglichkeit eines kosmischen Bewußtseins in der Menschheit ebenso wie die Möglichkeit elastischer Werkzeuge der Erkenntnis zugegeben, wenn sie auch, obwohl ihnen Wert und Macht zugestanden wird, noch als Halluzination eingestuft werden. In der Psychologie des Ostens wurde das kosmische Bewußtsein immer als Wirklichkeit und Ziel unserer weiteren subjektiven Entfaltung anerkannt. Das Wesentliche für den Übergang zu diesem Ziel ist, daß wir die uns durch den Ich-Sinn aufgezwungenen Schranken durchschreiten, am Wissen aus dem Selbst zumindest teilnehmen und, als höchstes Ziel, uns mit ihm, das insgeheim in allem Leben und in dem, was uns als unbelebt erscheint, west, identifizieren.
Wenn wir in jenes Bewußtsein eingehen, können wir, ebenso wie Es, weiter im universalen Dasein verweilen. Dann beginnen alle unsere Begriffe des Bewußtseins und auch unsere sinnenhafte Erfahrung, sich zu verwandeln, und wir werden dessen gewahr, daß die Materie ein einziges Sein ist. Die Körper sind seine Gestaltungen, in die sich das einzige Sein, das auch in allen anderen Körpern ist, von sich selbst physisch absondert, obwohl es wiederum durch physische Mittel eine Kommunikation zwischen diesen zahllosen Punkten seines Wesens herstellt. Ähnlich erfahren wir Mental und Leben als das gleiche Sein, eins in seiner Vielfalt, sich trennend und sich auf jedem Gebiet wieder durch die jener Bewegung angemessenen Mittel vereinend. Wenn wir wollen, können wir so weitergehen und nach zahlreichen verbindenden Stufen eines Supramentals innewerden, dessen universale Wirksamkeit der Schlüssel für alle untergeordneten Aktivitäten ist. Dabei werden wir dieses kosmischen Seins nicht nur bewußt, sondern zugleich in ihm bewußt. Wir empfangen es in unserem Empfinden, und wir treten in einem Innewerden in es ein. Wir leben nun in ihm, wie wir vorher im Ich-Sinn gelebt haben: aktiv, immer mehr in Verbindung, ja, geeint mit Mental, Leben und Körpern, die anders sind als der Organismus, den wir den unseren nennen, und dadurch Wirkungen auf unser moralisches und mentales Wesen und auf das subjektive Wesen anderer Menschen hervorrufen ebenso wie auf die physische Welt und ihre Ereignisse durch Mittel, die der göttlichen Begabung näher liegen als jene, die unserer ichhaften zur Verfügung stehen.
Das kosmische Bewußtsein ist also für den Menschen, der mit ihm in Kontakt gekommen ist oder in ihm lebt, etwas Wirkliches, und zwar von größerer Wirklichkeit, als es die physische ist. Es ist wirklich an sich, in seinen Auswirkungen und Werken. Ist es so für die Welt, die sein eigener totaler Ausdruck ist, etwas Wirkliches, so ist auch die Welt für es wirklich. Sie ist es jedoch nicht als ein unabhängiges Dasein. Denn in jener höheren, weniger behinderten Erfahrung nehmen wir wahr, daß Bewußtsein und Seiendes nichts voneinander Verschiedenes sind, sondern daß alles Seiende ein höchstes Bewußtsein und alles Bewußtsein ein Selbst-Sein ist ewig in sich selbst, wirklich in seinem Wirken, weder ein Traum noch eine Evolution. Die Welt ist genau deshalb wirklich, weil sie nur im Bewußtsein existiert. Denn sie ist eine Bewußte Energie, eins mit dem Seienden, das sie erschafft. Das Dasein einer materiellen Gestaltung aus eigener Vollmacht, unabhängig von der aus dem Selbst erleuchteten Kraft, die diese Form annimmt, – das wäre ein Widerspruch gegen die Wahrheit der Dinge, ein Phantasiegebilde, ein Albdruck, etwas Unmögliches, Falsches.
Aber dieses bewußte Seiende als die Wahrheit des unendlichen Supramentals Ist mehr als das Universum und lebt unabhängig davon ebenso in Seiner eigenen unausdrückbaren Unendlichkeit wie in den kosmischen Harmonien. Durch Jenes lebt die Welt, Jenes lebt nicht durch die Welt. Ebenso wie wir in das kosmische Bewußtsein eingehen und eins sein können mit allem kosmischen Dasein, so können wir auch in das die Welt transzendierende Bewußtsein eingehen und über alle kosmische Existenz erhoben werden. Und dann stellt sich die Frage, die uns zuerst begegnete, ob diese Transzendenz notwendigerweise auch eine Ablehnung des Universums bedeutet. Welche Beziehung hat dieses Universum zu dem Jenseits?
An den Toren der Transzendenz steht jener reine, vollkommene Geist, der in den Upanishaden beschrieben wird: lichtvoll, lauter, er trägt die Welt und erhält sie, ist aber in ihr inaktiv, ohne Kraftanspannung, ohne den Makel der Dualität, ohne die Narben der Zerteilung, ein Einziger, Identischer, bar aller Erscheinung von Relation und Vielfalt, das reine Selbst der Advaitins (der vedantischen Monisten), das intakte brahman, das transzendente Schweigen. Wenn das Mental plötzlich, ohne vermittelnde Übergänge, durch diese Tore hindurchgeht, überkommt es ein Empfinden, die Welt sei unwirklich, wirklich sei allein das Schweigen. Das ist eine der machtvollsten und überzeugendsten Erfahrungen, deren das menschliche Mental fähig ist. Hier haben wir in der Wahrnehmung des reinen Selbsts oder des Nichtseins hinter ihm den Ausgangspunkt für eine zweite Verneinung, am anderen Pol, parallel zur materialistischen. Sie ist aber vollständiger, endgültiger, gefährlicher in ihren Auswirkungen auf die einzelnen Menschen und auf die Kollektive, wenn sie ihren machtvollen Anruf hören, in die Wüste zu gehen –, die Entsagung des Asketen.
Diese Revolte des Geistes gegen die Materie hat zweitausend Jahre lang immer stärker die Mentalität Indiens beherrscht seit der Buddhismus das Gleichgewicht der alten arischen Welt erschütterte. Zwar ist das Empfinden, der Kosmos sei eine Illusion, nicht der ganze Ausdruck indischen Denkens. Es gibt noch andere philosophische Aussagen und religiöse Strebungen. Es fehlte auch nicht an manchen Versuchen, selbst von seiten der extremsten Philosophien, zu einem Ausgleich zwischen den beiden Aussagen zu kommen. Alle haben aber im Schatten der großen Entsagung gelebt, und für alle ist das höchste Ziel des Lebens das Gewand des Asketen. Die allgemeine Auffassung des Daseins ist durchsetzt von der buddhistischen Lehre von der Kette des Karma, der konsequenten Antinomie von Gebundenheit und Freiheit, Gebundenheit durch Geburt und Befreiung, wenn das Geborenwerden aufhört. Deshalb vereinen sich alle Stimmen zu einem großen Einklang: Nicht hier in dieser Welt der Dualitäten kann unser Himmelreich sein, sondern im Jenseits, entweder in den Wonnen des ewigen vrinda-van (goloka, dem Vaishnava-Himmel ewiger Schönheit und Seligkeit), oder in der hohen Seligkeit des brahmaloka (dem höchsten Zustand von reinem Sein, Bewußtsein und Wonne, den die Seele erlangen kann, ohne selbst völlig im Undefinierbaren ausgelöscht zu werden), oder jenseits von allen Manifestationen in einem unaussprechlichen nirvana (nicht notwendigerweise dem Erlöschen alles Seienden, aber doch des Wesens, wie wir es kennen: Auslöschung des Ego, des Begehrens, ichhaften Handelns und ichhafter Mentalität), oder dort, wo alle besondere Erfahrung in der gestaltlosen Einheit des unbestimmbaren Seins aufgegangen ist. Viele Jahrhunderte hindurch hat ein großes Heer leuchtender Zeugen, von Heiligen und Lehrern, von Namen, die der indischen Erinnerung heilig sind und die Vorstellungswelt Indiens beherrschen, immer dasselbe Zeugnis abgelegt und mit anschwellendem Klang denselben erhabenen weltfernen Ruf erhoben: Entsagung ist der einzige Pfad zur Erkenntnis, Annahme des physischen Lebens der Akt des Unwissenden, Beendigung des Geborenwerdens der rechte Gebrauch der menschlichen Geburt. Das ist die Forderung des Geistes, die Abkehr von der Materie.
Für ein Zeitalter ohne Sympathie für den asketischen Geist – in der ganzen Welt scheint die Stunde des Einsiedlers vorbei zu sein oder vorüberzugehen – ist es leicht, diese so hochbedeutsame Richtung dem Nachlassen der vitalen Energie einer alten Rasse zuzuschreiben, die müde wurde unter ihrer Bürde, ihrem einst gewaltigen Anteil am gemeinsamen Fortschritt, und erschöpft ist durch ihren vielseitigen Beitrag zur Summe des Ringens und Wissens der Menschheit. Wir haben aber erkannt, daß der asketische Geist einer Wahrheit des Daseins, einem Zustand bewußter Realisation entspricht, die auf der höchsten Stufe unserer Möglichkeit steht. Auch im praktischen Leben ist der asketische Geist ein unentbehrliches Element für die menschliche Vervollkommnung. Solange die Menschheit am entgegengesetzten Ende steht und ihren Intellekt und ihr Vitalwesen nicht vom Hörigsein einer immer aufdringlicheren Tierhaftigkeit befreit hat, kann man auf seine besondere Betonung nicht verzichten.
Gewiß suchen wir nach einer vollständigeren und umfassenderen Bejahung. Wir erkennen, daß in dem indischen asketischen Ideal die große vedantische Formel: “Der Eine ohne einen Zweiten” nicht genügend im Licht jener anderen, in gleicher Weise zwingenden Formel gelesen wurde: “Alles dieses ist das brahman.” Das leidenschaftliche Streben des Menschen empor zum Göttlichen Wesen wurde nicht stark genug mit dem Herniederkommen des Göttlichen Wesens verbunden, das Sich herabneigt, um ewig Seine Manifestation zu umfassen. Seine Bedeutung in der Materie ist nicht ebenso klar verstanden worden wie Seine Wahrheit im Geist. Die Wirklichkeit, die der Sannyasin sucht, ist in ihrer vollen Höhe begriffen worden, aber nicht, wie von den alten Vedantins, in ihrer vollen Ausdehnung und umfassenden Fülle. Wir dürfen bei unserer vollständigeren Bejahung nicht die Rolle des reinen spirituellen Impulses unterschätzen. Wie wir gesehen haben, was für einen großen Dienst der Materialismus den Zielen des Göttlichen Wesens geleistet hat, so müssen wir auch den noch größeren Dienst anerkennen, der dem Leben von den Asketen geleistet wurde. In der endgültigen Harmonie werden wir die Wahrheiten der materialistischen Naturwissenschaften und ihren wirklichen Nutzen auch dann bewahren, wenn manche oder gar alle ihrer bestehenden Formen zerbrochen oder zurückgelassen werden müssen. Eine noch größere Gewissenhaftigkeit in der richtigen Bewahrung muß uns bei unserem Umgang mit dem Vermächtnis der arischen Vergangenheit leiten, selbst wenn es heute geringer eingeschätzt oder entwertet wird