Mutters
Agenda
elften Band
6. Juni 1970
(Satprem liest Mutter einen Brief vor, den er von F erhalten hatte, einer Schülerin aus Mutters Umgebung, die sehr erpicht darauf war, sich in diese Gespräche einzumischen, insbesondere unter dem Vorwand, Savitri zu übersetzen. Die Intrigen ringsum machten sich bemerkbar.)
Dies würde den ganzen Charakter unserer Begegnungen verändern... Glaubst du nicht auch?
Ich persönlich lege keinen Wert darauf. (Mutter scheint erleichtert zu sein)
Ich glaube, es ist besser, wenn sie nicht kommt.
*
* *
Wäre es nicht gut, wenn du den Rest des "Programms für Auroville" mit den Leuten von Auroville machen würdest, nachdem du es mit ihnen begonnen hattest?...
Ich ließ sie reden, um zu sehen, was sie sagen würden...
Sie sind fast alle schrecklich faul, deshalb möchte ich ihnen sagen, daß manuelle Arbeit...
(Mutter schreibt:)
4) Die Arbeit, sogar manuelle Arbeit, ist unerläßlich für die innere Entdeckung. Wenn man nicht arbeitet und sein Bewußtsein in die Materie einbringt, wird diese sich nie entwikkeln. Das Bewußtsein mittels des Körpers ein wenig Materie organisieren zu lassen, ist sehr gut. Ordnung um sich herum zu machen, hilft Ordnung in sich selbst herstellen.
Und noch etwas:
Man soll sein Leben nicht nach äußeren und künstlichen Regeln organisieren, sondern gemäß einem organisierten inneren Bewußtsein. Beläßt man das Leben, ohne ihm die Beherrschung des höheren Bewußtseins aufzuerlegen, wird es nämlich unstet und ausdruckslos. Das wäre Zeitverschwendung in dem Sinne, daß die Materie ohne bewußte Nutzung bleibt.
*
* *
Hast du den Aphorismus gesehen?
(Satprem liest vor:)
534 – Die Ablehnung der Lüge durch das Mental auf der Suche nach Wahrheit ist eine der Hauptursachen seiner Unfähigkeit, die beständige, runde und vollkommene Wahrheit zu erlangen. Die Bemühung des göttlichen Mentals ist nicht die, der Lüge zu entkommen, sondern die Wahrheit zu erfassen, die sich hinter dem noch so grotesken und ungereimten Irrtum verbarg.
[Mutter kommentiert:] Sri Aurobindo bezeichnet "das göttliche Mental" als Vorbild der mentalen Funktion, die gänzlich und vollkommen dem Göttlichen hingegeben ist und nur unter der göttlichen Inspiration arbeitet.
Wenn ein menschliches Wesen nur noch durch und für das Göttliche existiert, wird sein Mental zwangsläufig ein göttliches Mental.
*
* *
(Danach geht Mutter zur Lektüre von Savitri über: das Ende der Debatte mit dem Tod:)
Ist das eine Rede dieses Herrn?
(Lachend:) Ja, es ist das Ende.
Das Ende seiner Rede?
Einer von uns beiden sollte schreiben... Wenn es einfacher ist, daß ich schreibe, so werde ich schreiben.
Es ist immer besser, deine Schrift zu haben! Aber wenn es dich ermüdet, notiere ich es gerne.
Oh, es "ermüdet" mich nicht! Meine Schrift ist einfach nicht mehr gut. Sie ist nicht mehr das, was sie sein sollte – ermüdend, nein. Also schreiben wir:
(Mutter schreibt ihre französische Übersetzung
der folgenden Zeilen)
If thou art Spirit and Nature is thy robe,
Cast off thy garb and be thy naked self
Immutable in its undying truth,
Alone for ever in the mute Alone.
Turn then to God, for him leave all behind;
Forgetting Love, forgetting Satyavan,
Annul thyself in his immobile peace.
O soul, drown in his still beatitude.
For thou must die to thyself...
I, Death, am the gate of immortality. 1
Das ist gewiß! Du mußt dir selbst sterben, um... "die Höhe Gottes zu erreichen"?...
"Um die göttlichen Höhen zu erreichen"?
Nein, man muß dem Tod das Wort "Gott" in den Mund legen.
Denn du mußt dir selbst sterben, um die Höhe Gottes zu erreichen.
Und ich, der Tod, ich bin...
...das Glück?
Und ich, der Tod, ich bin die Pforte zur Unsterblichkeit.
Savitri, X.4, S. 647
Er ist clever!
Jedesmal, wenn man es wieder liest, ist es neu.
Das ist ein sehr interessantes Phänomen. Jedesmal, wenn ich es lese, habe ich den Eindruck, es zum ersten Mal zu lesen, wirklich. Nicht, daß ich es anders verstehe, sondern es ist ganz neu: als hätte ich es noch nie gelesen. Seltsam. Dies ist jetzt mindestens das vierte Mal, daß ich es lese.
Und wirklich alles ist darin enthalten. Alle die Dinge, die ich in letzter Zeit entdeckt habe und die wirklich wie Offenbarungen waren, sind darin. Ich hatte sie nicht gesehen. Merkwürdig.
Das erste Mal, als ich es las, war es eine Offenbarung, es ergab einen Sinn von Anfang bis zum Ende, und ich hatte den Eindruck, es verstanden zu haben (und ich hatte tatsächlich etwas verstanden). Als ich es das zweite Mal las, sagte ich mir: "Aber das ist nicht derselbe Text, den ich vorher gelesen habe!" Und es hatte wieder einen Zusammenhalt und bildete ein Ganzes – ich hatte etwas anderes verstanden. Als ich es dann in letzter Zeit wieder las, sagte ich mir bei jedem Abschnitt: "Wie neu das ist! Und wie viele Dinge darin vorkommen, die ich in der Zwischenzeit selber gefunden habe!" Auch heute ist es noch so: als läse ich es zum ersten Mal. Und es bringt mich in Kontakt mit Dingen, die ich gerade selber entdecke.
Es ist ein Zauberbuch! (Mutter lacht)
Wir werden auf diese Weise weitermachen.
1 Wenn du Geist bist, und die Natur nur dein Gewand, Dann wirf doch dieses Kleid von dir und sei dein nacktes Selbst, das unveränderlich in seiner unsterblichen Wahrheit ist, und bleib allein für immer in dem stummen All-Einen. Wende dich dann Gott zu, laß alles für ihn hinter dir! Vergiß die Liebe und vergiß Satyavan! Löse dich selber auf in seinem unbewegten Frieden! O Seele, sinke tief hinein in seine stille Seligkeit! Denn du mußt dir selbst sterben... (Deutsche Übersetzung: Verlag Hinder + Deelmann, Gladenbach, 1985, S. 661)