Mutters
Agenda
elften Band
Ich habe etwas für dich... (Mutter deutet auf eine Notiz)
Vor zwei oder drei Tagen kam dies mit großer Dringlichkeit in bezug auf eine Geschichte: In Auroville werden in "Aspiration" Versammlungen abgehalten. Ich glaube, es sind Meditationen oder etwas in der Art, ich weiß nicht genau. Einer von ihnen hatte dabei ein Foto von mir aufgestellt. Daraufhin eilte ein anderer in sein Zimmer und kam mit einem Kreuz zurück, und er sagte: "Wenn ihr ein Foto von Mutter aufstellt, dann stelle ich ein Kreuz auf." Man hat mir das erzählt, weil derjenige, der das Kreuz aufstellte, mich mit den anderen besucht hatte (einmal die Woche kommen sie zu viert oder fünft). Zuerst hatte man mir nichts gesagt. Er kam und setzte sich... Ich fand, daß er etwas inquisitorisch aussah (ich wußte gar nichts), und als sie gegangen waren, fragte ich, wer er sei. Daraufhin sagte man mir, er sei katholisch, und man erzählte mir die Geschichte 1 .
Danach folgte eine ganze Serie von Dingen. Aber man muß dazusagen, daß dort buchstäblich eine Invasion stattfindet (an verschiedenen Orten in Auroville), denn es wird nicht bewacht, da gibt es freie Grundstücke; besonders im Zentrum haben sich einige Leute niedergelassen, und es kommen ständig mehr hinzu, ohne um Erlaubnis zu fragen. Man hat schon überlegt, ob man nicht kleine "Abzeichen" anfertigen sollte für jene, die wirklich Aurovillianer sind (Mutter weist auf ein Muster). Seit mehreren Tagen diskutiert man dies: für das erste Jahr hätten sie eine Art Ausweis, und wenn im ersten Jahr alles gut geht, gibt man ihnen ein Abzeichen.
Aber mir ist dies hier gekommen (Mutter deutet auf ihre Notizen). Es ist nicht fertig... (Sujata macht sich daran, die Lampe zu holen, damit Mutter lesen kann) Ich brauche kein Licht, ich sehe sowieso nicht mehr genug.
(Satprem liest vor)
"Auroville ist für jene bestimmt, die im wesentlichen ein religiöses Leben leben wollen, die aber auf jede Form von Religion verzichten, sei sie alt, modern, neu oder zukünftig..." 2
Liebe Mutter, entschuldige bitte, aber warum schreibst du nicht "spirituell" statt "religiös"?
Ich bin mir noch nicht sicher.
Das hatte eine komische Wirkung auf mich.
Ja, das hab ich gemerkt... Es ist vielleicht besser, "spirituell" zu sagen. Ich werde sehen.
"... Die Erkenntnis der Wahrheit kann nur experimentell sein.
Niemand darf über das Göttliche sprechen, solange er nicht selber die Erfahrung des Göttlichen hat ..."
Das ist der wichtige Punkt.
"... Erkennt das Göttliche, dann könnt ihr darüber sprechen..."
Verstehst du, man kann "spirituell" sagen, aber...
"Das objektive Studium der Religionen wird Teil eines geschichtlichen Studiums der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins sein ..."
Ich stufe die Religionen niedriger ein: in den mentalen Bereich.
Ja, genau!
In den mentalen Bereich, als "Lehrgegenstand".
Vor zwei Tagen kam mir dies wie eine Erfahrung: Die Religion ist Teil der mentalen Welt.
Genau. Sie ist eine Mentalisierung, ein Versuch der Mentalisierung dessen ..., was weit über das Mental hinausreicht.
"... Die Religionen sind Teil der Geschichte der Menschheit, und als solche werden sie in Auroville studiert; nicht als Glaubenslehren, denen man folgen oder nicht folgen soll, sondern als Entwicklungsprozeß des menschlichen Bewußtseins, der den Menschen zu seiner höheren Verwirklichung führen soll."
Nun dann, das "Programm"... (Mutter lacht)
PROGRAMM
Die experimentelle Erforschung der Höchsten Wahrheit. Ein göttliches Leben aber keine religionen.
Das ist gut!
Oh, sehr gut!... Mich hat nur das Wort "religiös" gestört.
Dann werden wir es weglassen.
Denn du sagst ja selbst: "Keine Religionen."
Ich gebrauchte "religiös" in einem anderen Sinn, aber das wird immer zu Mißverständnissen führen.
Es hat einen so falschen Sinn angenommen.
Ja. Ich werde es dir erklären: ich wollte nicht das Wort "spirituell" benutzen, weil es im Französischen einen anderen Sinn hat, außerdem lehnen die Leute, die ein "spirituelles" Leben führen, die Materie ab, wir aber wollen die Materie nicht ablehnen. Deshalb wäre es falsch.
Ich gebe zu, "religiös" ist kein gutes Wort, denn sofort... Ich wählte "religiös" im Sinne eines "Lebens, das sich im wesentlichen mit der Entdeckung oder der Suche nach dem Göttlichen beschäftigt." Im Französischen gibt es kein Wort dafür, und es ist nicht "spirituell".
Göttlich?
Es muß ein Wort gefunden werden – man kann es so ausdrücken:
"Auroville ist für jene bestimmt, die ein göttliches Leben führen wollen ..."
Ja, "ein im wesentlichen göttliches Leben". "Göttlich" ist weit, liebe Mutter.
(Schweigen)
Ist das alles?... Da waren so viele Dinge; ich habe nicht alles notiert... Ich glaube, es war vorgestern: Der ganze Tag verlief in dieser Erfahrung, und ich hatte den Eindruck der Offenbarung von Aurovilles wahrem Ziel und daß es DAS war, was gesagt werden mußte, und daß DAS die Auswahl der Aurovillianer bestimmen wird. Die wahren Aurovillianer sind jene, die das Göttliche erforschen und entdecken wollen. Aber eben nicht durch mystische Methoden sondern im Leben.
Das sollte auch noch gesagt werden.
(Mutter schreibt)
"Unser Suchen wird kein Suchen mit mystischen Mitteln sein: wir wollen das Göttliche im Leben finden." 3
(Mutter beendet ihre Notiz und streicht sich über die Augen)
Das ist sehr merkwürdig: In dem Maße, wie... Nun, es läßt sich auf zwei Arten ausdrücken. Die eine lautet: In dem Maße, wie das natürliche Seh- und Hörvermögen schwindet, wächst das andere. Aber ich glaube, es ist viel wahrer, es auf die andere Art zu sagen: In dem Maße, wie das höhere Hör- und Sehvermögen... (wie werden wir es nennen?)
Wahr? Oder auf jeden Fall "höher".
Höher. Nehmen wir "höher", denn "wahrer" – vielleicht ist es nicht die höchste Wahrheit... In dem Maße, wie das höhere Hör- und Sehvermögen sich entwickelt, schwindet das materielle Seh- und Hörvermögen.
Alle Ausdrucksweisen erscheinen mir... nicht ganz zutreffend.
Ich mache zum Beispiel die Erfahrung, daß mit bestimmten Personen oder bei einer bestimmten Beschäftigung eine Betonung... sagen wir der "nächsten Art" eintritt: die nächste Art zu sehen, die nächste Art zu hören; aber jedes Eindringen der alten Art vermindert sofort die Wahrnehmung. Das heißt, das normale Sehvermögen liegt wie hinter einem Schleier, der immer dichter wird. Wenn die Umstände, die Menschen oder die Arbeit es mir gestatten, vollständiger in das neue Bewußtsein einzutreten, wird die Wahrnehmung immer klarer.
Der Körper hat dies jetzt verstanden. Er beunruhigt sich nicht über das Nachlassen des Seh- oder Hörvermögens, und ihm wird klar: Je mehr die gewöhnliche Art schwindet, desto mehr nimmt die andere zu – vorausgesetzt, ich mache keine Anstrengung, die alte zu behalten. Wenn ich mich gehen lasse, ist es ganz natürlich so.
Jede Anstrengung, die alte Art beizubehalten... ruft ein fast nicht auszuhaltendes Unbehagen hervor. Eine vertrauensvolle Akzeptanz der Umstände hingegen bringt eine Art... ich weiß nicht, man kann es nicht "Wohlbefinden" nennen... eher einen vertrauensvollen Frieden mit sich.
Aber jetzt ist es nicht mehr nur das Seh- und das Hörvermögen sondern alles. Das Sprechen wird immer schwieriger... Essen ist sehr schwierig: es wechselt zwischen einem Vorgang, der unbemerkt und mühelos abläuft, und einem Kampf gegen eine GROSSE Schwierigkeit. Und erst jetzt, weil ich es sagen will, beobachte ich das und versuche es auszudrücken, ansonsten gibt es keine mentalen Aktivitäten.
Diese Dinge drängten sich mir auf.
(Mutter geht in sich)
Sollen wir diesen Notizen über Auroville einen Titel geben?... Zum Beispiel: "Aurovilles Position gegenüber den Religionen"?
Wir könnten es so formulieren: "Wir wollen die Wahrheit"... Ich verwende dieses Wort, weil niemand es wagen würde, zu behaupten: Wir wollen nicht die Wahrheit. (Lachen)
Für die meisten Menschen ist es so: Was WIR wollen, ist die Wahrheit. (Lachen)
Ich habe R das "Programm von Auroville" gezeigt, (lachend) die Haare stiegen ihm zu Berge: "Aber... das können die Leute noch nicht akzeptieren." – Oh je...
Die Aurovillianer sollten die Wahrheit wollen, WAS AUCH IMMER SIE SEI... Sie bezeichnen als Wahrheit, was sie wollen. Stattdessen sollten sie die Wahrheit wollen, was auch immer sie sei.
(Mutter schreibt ihre letzte Notiz über Auroville)
Wir wollen die Wahrheit
Die meisten Menschen bezeichnen das, was sie wollen, als die Wahrheit.
Die Aurovillianer müssen die Wahrheit wollen, was auch immer sie sei.
Ich schreibe Wahrheit groß. (Mutter lacht) Denn eigentlich heißt es: "Wir wollen DAS GÖTTLICHE." Doch das würde sofort Diskussionen auslösen. Deshalb ist es besser, "Wahrheit" zu sagen.
1 Siehe Mutters Notiz am 21. Oktober 1970.
2 Beim nächsten Mal korrigierte Mutter die Formulierung "jede Form von Religion" und schrieb stattdessen "alle Religionen".
3 Später fügte Mutter noch den folgenden Satz hinzu: "Und dank dieser Entdekkung kann das Leben tatsächlich transformiert werden."