Mutters
Agenda
elften Band
T stellte mir eine Frage in bezug auf den Tod ihres Bruders, N.J. 1 Wie es scheint, wußte er schon einige Monate vorher, daß er sterben würde, und er sagte: "Aber ich werde im Ashram wiederkommen." Dann sah ihn seine Schwester. Ich sagte ihr: "Ich weiß, daß ich ihn, als er starb, zu einer Ruhestätte geleitete – vermutlich ist er nun von dort zurückgekehrt." Nachdem sie mit mir darüber gesprochen hatte, konzentrierte ich mich ein wenig, und eines Nachts sah ich ihn: er war zurückgekehrt, und zwar im Körper eines zwei oder drei Jahre alten Kindes. Aber ich sah ihn nicht hier – ich weiß nicht, wo er ist.
(Schweigen)
Gestern las ich einen sehr merkwürdigen Aphorismus. Ich weiß nicht, wann er ihn geschrieben hat... Ich notierte darunter lediglich: "Nichts zu sagen."
Ich weiß nicht, es ist seltsam... Ein Aphorismus, in dem er sagt: "Die Natur genießen, wie man den Körper einer Frau genießt"! (Mutter lacht)
428 – Was nützt es, die Natur zu bewundern oder anzubeten wie eine Kraft, eine Präsenz oder eine Göttin? Und was nützt es, sie auf ästhetische oder künstlerische Weise zu schätzen? Das Geheimnis ist, sie mit der Seele zu genießen, so wie man eine Frau mit dem Körper genießt.
Hast du meine Antwort gesehen?
Ja: "Nichts zu sagen."
Nichts zu sagen, ja.
Da ist noch einer, in dem er sagt: "Ich wußte nicht, wen ich mehr liebte, Kali oder Krishna ..." (ich zitiere nicht genau) "... Und dann habe ich gemerkt, daß Kali zu lieben, bedeutete, mich selbst zu lieben, während Krishna zu lieben, bedeutete, mich selbst und auch noch jemand anderen zu lieben ..."
427 – Eine Zeitlang wußte ich nicht, wen ich mehr liebte, Krishna oder Kali. Als ich Kali liebte, liebte ich mich selbst, als ich aber Krishna liebte, liebte ich einen anderen und zugleich mich selbst. So begann ich Krishna noch mehr zu lieben als Kali.
Was soll das genau heißen? Ich verstehe es nicht... Er schreibt, als ob er sich mehr mit Kali als mit Krishna identifizierte. Dennoch (das hat er mir bestätigt) war etwas von Krishna in ihm.
Deshalb wollte ich wissen, ob all dies zur gleichen Zeit geschrieben wurde oder in Abständen von einigen Jahren?
Nolini scheint zu sagen, es sei am Anfang gewesen.
Ja, es war am Anfang.
Zu einer Zeit, als er alle seine Briefe mit Kali unterzeichnete.
Ach! Es gab eine Zeit, wo er mit Kali unterzeichnete...
Damals unterzeichnete er seine Briefe immer mit Kali: die Briefe an Motilal 2, zum Beispiel.
Ach! Das habe ich nie gesehen. Das wußte ich nicht.
Dann war das zu jener Zeit.
(Schweigen)
Das war bestimmt lange, bevor ich kam 3 .
(Schweigen)
Habe ich dir von der Vision erzählt, die ich damals hatte?... Ich hatte viele, aber da war eine... Das war, als der Krieg erklärt worden war: zwischen dem Augenblick, als der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, und meiner Abreise. Das war eine ziemlich lange Zeitspanne: der Krieg brach im August aus, und ich bin im darauffolgenden Februar abgereist. Als ich mich während dieser Zeit eines Tages in Meditation befand, sah ich Kali zur Tür hereinkommen – die nackte vitale Kali, mit einer Girlande von Schädeln am Hals – und sie trat tanzend ein. Sie blieb in einiger Entfernung vor mir stehen und sagte mir... ich entsinne mich nicht mehr genau ihrer Worte: "Paris wird eingenommen ..." oder "Paris wird eingenommen werden" oder "Paris ist zerstört" (etwas in der Art), jedenfalls marschierten die Deutschen auf Paris zu. In dem Augenblick sah ich die Mutter – die Mutter, das heißt... (wie nennen sie sie?) Maha...
Mahashakti.
Riesig!... Weißt du, Kali war von menschlicher Größe, aber die Mahashakti war riesig (sie reichte bis zur Decke). Sie erschien hinten und blieb dort stehen und sagte: "Nein" – einfach so (in einem absolut ruhigen Ton). Ja, und ich (lachend)... Zu jener Zeit gab es kein Radio, man erhielt die Nachrichten per Telegramm, und so erfuhren wir, daß die Deutschen auf Paris zumarschierten, und in diesem Augenblick (das heißt, an dem Tag, als ich die Vision hatte) gerieten sie ohne Grund in Panik und machten kehrt... Es geschah im selben Moment... Sie marschierten auf Paris zu, da trat Kali ein und sagte: "Paris ist eingenommen worden." Und da kam die Mutter (Mutter senkt souverän ihre Hand): "Nein"... Das war wirklich sehr beeindruckend, denn ich saß einfach so da und schaute. Und es geschah vor meinen Augen.
Ich erzählte es Sri Aurobindo. Er sagte nichts. Damals las er immer die Nachrichten, und später am Nachmittag sagt er mir: "Es gibt Neuigkeiten ..." Es scheint, daß sie plötzlich von Panik ergriffen wurden, sie haben sich gesagt: "Das ist nicht möglich" (niemand stellte sich ihnen entgegen, der Weg war offen, alles war frei), sie sagten sich: "Das muß eine Falle sein." Und... (lachend) so machten sie sich aus dem Staub. Sie machten kehrt... Das war wirklich interessant.
(Schweigen)
Ich habe von Sri Aurobindo nie etwas über diese Dinge gehört [über Kali und Krishna]. Ich weiß, daß er etwas von Krishna hatte – ich sah es, und er hat es mir bestätigt. Eines Tages fühlte er sogar Krishna IN sich, und so... (damals hatte er sich noch nicht zurückgezogen, er empfing noch alle: es war die Zeit, als er Pavitra und die anderen sah 4), da rief er alle Leute zusammen 5 und setzte sich auf die Veranda dieses Hauses [oberhalb des Eingangs zum Ashram], er setzte sich dort hin und bat mich, neben ihm Platz zu nehmen, dann ließ er alle anderen kommen und sagte: "Ich habe die Entscheidung getroffen, mich von allen Aktivitäten zurückzuziehen, und sie wird eure Mutter sein, die euch ..." Er hat mich offiziell eingesetzt. Daraufhin zog er sich in sein Zimmer zurück. Und ich arbeitete dort, wo heute die "Prosperität" ist... In dem Augenblick fühlte er, daß Krishna in ihm war – deshalb zog er sich zurück.
Hätte er nicht seine Aktivitäten mit der Präsenz von Krishna fortführen können?
Ich weiß es nicht.
Ich weiß es nicht... Um die Wahrheit zu sagen, habe ich ihm diese Frage nie gestellt. Ich habe ihn nie etwas gefragt, sondern hörte nur zu.
(langes Schweigen)
Damals fastete ich einmal zehn Tage lang, um zu sehen.
(Mutter verharrt in einer langen Kontemplation)
Ich verbringe fast ganze Nächte auf diese Weise: ich schlafe nicht, und... sie vergehen so schnell... Manchmal habe ich Visionen.
(Mutter versinkt erneut in Kontemplation)
1 Ein junger Lehrer, der vor einigen Jahren gestorben war.
2 Ein Schüler aus Chandernagore, mit dem Sri Aurobindo in den Jahren 1912 – 1920 korrespondierte.
3 Im Jahre 1914.
4 Die Zeit der Abendgespräche, zwischen 1923 und 1926.
5 Am 24. November 1926.