Mutters
Agenda
achten Band
16. Dezember 1967
Gestern abend bat mich Pavitra um eine Botschaft für die heutige Eröffnung der Schule. Ich war nicht in sehr guter Stimmung und schickte ihn weg. Heute morgen um fünf kam eine Botschaft, so schrieb ich sie auf; kaum hatte ich sie aufgeschrieben, kamen drei andere! Also schrieb ich sie alle auf, dann schickte ich sie um sieben an K mit der Bitte, daß jeder Lehrer oder jede Klasse selber eine davon auswählen solle (sie betreffen alle dasselbe Thema und dieselbe Idee, nur unter einem verschiedenen Blickwinkel dargestellt).
Um acht Uhr wußten es schon alle. Das spricht sich rasch herum... N sagte mir: "Aber die Botschaften sind für verschiedene Klassen, und es wurde keine Auswahl getroffen." – Ich sagte: "Nein, nicht ich wähle, der Lehrer der Klasse soll wählen." Ich fügte noch hinzu: "Das ist viel amüsanter für mich!" Damit schickte ich ihn fort.
Es ist wahr, man nähert sich der gleichen Idee (es ist keine "Idee"), der gleichen Aspiration, dem gleichen Bedürfnis entsprechend dem Zustand, in dem man sich befindet, entsprechend dem Zustand seines Bewußtseins (für die gewöhnlichen Menschen ist es ihre "Denkweise"), von der einen oder anderen Seite.
Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, was ich schrieb... Wie immer ist es ein Anruf an die Wahrheit. 1
(Schweigen)
Etwas erscheint paradox, ist aber sehr interessant (Mutter nimmt ein Stück Papier und schreibt):
Die beste Art der Vorbereitung, um die göttliche Liebe zu empfangen, ist, sich integral an die Wahrheit zu halten.
(Dann schreibt Mutter eine zweite Notiz)
Halte dich völlig an die Wahrheit, und du wirst bereit sein, die göttliche Liebe zu empfangen.
Nun, den braven und intelligenten Leuten wird es schwindlig, wenn man ihnen das zeigt. (Mutter lacht)... Ich muß sagen, es amüsiert mich sehr, sie schwindlig zu machen.
Außerdem ist es wahr. Es ist wahr, so ist es. Jedesmal, wenn ein... es ist mehr als Aspiration, viel mehr als Wille, auf englisch nennt man es urge: ein Drang aufkommt, die göttliche Liebe sich komplett, total und überall ausdrücken zu lassen, ist die notwendige Basis und das günstige Terrain dafür: die Wahrheit.
Natürlich sagte Sri Aurobindo das. Er sagte es, er schrieb es schwarz auf weiß (ich erinnere mich nicht mehr an die genaue Formulierung): "The pure divine love can manifest safely only in a... on a ground (es ist nicht ground...) of Truth [die göttliche Liebe kann sich nur auf einem Boden der Wahrheit sicher manifestieren]. Ich erinnere mich nicht mehr. Wenn man es poetisch ausdrücken wollte, würde man sagen: In a land of Truth [in einem Land der Wahrheit].
Bevor wir verkünden können: "Liebe, manifestiere dich, bringe den Sieg!" muß also der Boden der Wahrheit bereit sein.
In der Schule sagte ich das zu allen: Strebt nach der Wahrheit! Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, was ich schrieb... (Mutter sucht). Eine Notiz lautet: "Möge die Wahrheit unser Meister und Führer sein", es gibt noch zwei andere und dann: "O Wahrheit ..." Ich erinnere mich nicht mehr.
Ein äußerst bemerkenswertes Phänomen zeigt sich: eine Sekunde zuvor ist es absolut blank, leer, kein Wort, kein Gedanke, keine Idee, nichts, ich denke an nichts. Werde ich um eine Botschaft gebeten, sage ich: "Ich habe nichts zu sagen." Dann kommt etwas zwingend; wenn ich kann (das heißt, wenn Mutter frei ist), schreibe ich es auf, und damit ist es beendet; wenn ich es nicht schreiben kann (das heißt, wenn Mutter mit Leuten beschäftigt ist), kommt es hartnäckig solange wieder, bis es niedergeschrieben wird. Ist es einmal niedergeschrieben: verschwunden! Nichts mehr da. Eine andere Art, es zu präsentieren, zeigt sich, eine andere Form, und sofort danach: auch das, verschwunden!...
Weißt du, hier (Geste an die Stirn) ist es wie eine leere Schachtel (sehr angenehm), eine leere, ruhige Schachtel: nicht verschlossen, nicht gedrängt, sondern offen, aber eine leere Schachtel – sie ist leer; innen ist es ganz weiß, nichts bewegt sich. Ich bemühe mich nicht einmal, etwas herabkommen zu lassen, nichts: "Das ist nicht meine Sache." Fragt man mich, so sage ich: "Nichts, ich habe nichts zu sagen", oder aber irgend etwas macht ganz schnell so (aufmerksame, wache Geste), hält sich aufrecht und bleibt aufmerksam. Ein, zwei, zehn Minuten später (ich weiß es nicht), plötzlich, paff! kommt es dann, worauf ich es aufschreibe. Beim Herabkommen sammelt es Worte und bildet einen Satz. Manchmal kommt es auf französisch, manchmal auf englisch – das hängt vor allem vom Fragesteller ab, aber auch vom Thema. Wenn ich Papier und Bleistift habe, schreibe ich es auf, und damit hat sich's (deshalb habe ich überall Papier und Bleistift); wenn ich es nicht aufschreibe und sage: "Ach, ich notier mir das später", kommt es beharrlich immer wieder... bis es niedergeschrieben ist. Danach: verschwunden!
Aber es gibt... (wie nennt es Sri Aurobindo 2?), auf französisch könnte man es einen "Kritiker" nennen – immer ist da ein Kritiker, der sagt: "Hast du wirklich das richtige Wort benutzt? Willst du nicht anstelle von diesem jenes nehmen? Ist es genau das richtige?" Und danach: "Bist du sicher, daß keine orthographischen Fehler darin sind, hast du es gut lesbar geschrieben?" In der Art. Wirklich nervenaufreibend. Manchmal sage ich ihm: "Laß mich in Ruhe!" (nicht einmal auf so höfliche Art). Manchmal gebe ich jemandem das Papier, dann nehme ich es zurück und sage: "Ich werde sehen" – bis er zufrieden ist. Manchmal ist ein Wort nicht ganz deutlich geschrieben, worauf er sagt: "Aha! Siehst du, da hast du dich getäuscht." Manchmal gibt es Rechtschreibfehler: "Siehst du, siehst du, du hast dich geirrt!"
Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, was ich für die Schule geschrieben habe. Ich weiß, daß eine Notiz in der Form eines Wunsches war (zwei oder drei sind so), und eine ist in der Form eines Gebets, nämlich direkt an die Wahrheit gerichtet: O Wahrheit...
Aber es ist sehr angenehm, diese Leere zu haben, oh, sehr erholsam.
Wenn die Leute dies von außen mit Briefen, Neuigkeiten und Forderungen anfüllen (es häuft sich an), habe ich nur ein Mittel, ein sehr einfaches Mittel, und zwar die Einnahme dieser Haltung (Geste der Hingabe): "Hier ..." (Sri Aurobindo nennt es surrender), "Hier, das ist nicht meine Sache, das betrifft mich nicht." Damit hat sich's.
*
* *
(Mutter tritt in eine lange Kontemplation, die mehr als eine halbe Stunde andauert, dann sagt sie in einem noch etwas "entrückten" Zustand auf englisch:)
Ich sah ein seltsames Tier aus der Richtung kommen (Mutter zeigt zu ihrer linken Seite), es drehte ein Runde um dich und verschwand: ein Pferd mit einem Löwenkopf.
Ein wunderbares Tier! Ein Löwe mit so einem Kopf, der vordere Teil war ein Löwe und der hintere ein Pferd. Es war das Symbol von... ein symbolisches Tier von etwas. In dem Augenblick verstand ich es sehr gut. Ich sagte, ah! und...
Sehr würdevoll. Es kam aus der Richtung (die gleiche Geste von links), umkreiste dich und verschwand. Es war für dich. Der Löwe bedeutet Kraft, und das Pferd... 3
Es erscheint albern, aber es war sehr schön und von einer wundervollen Farbe. Sehr würdevoll.
Ach!... (Mutter bemerkt, daß sie Englisch spricht) Sri Aurobindo sagte dir all das. Komisch, wie es auf diese Weise kommt.
Es kam, um dir etwas anzukünden. Ein Wesen, aber... Es muß solche Wesen geben. Ganz im Licht, und... es kam, um dir etwas mitzuteilen.
Aber so echt!
1 1) Die Wahrheit möge euer Meister und Führer sein!
2) Wir streben nach der Wahrheit und ihrem Triumph in unserem Wesen und unseren Handlungen.
3) Möge die Aspiration zur Wahrheit die Antriebsfeder unserer Handlungen sein.
4) O Wahrheit! Wir wollen von dir geleitet werden. Dein Reich möge auf die Erde kommen!
(16.12.1967)
2 Censor – einen Kritiker.
3 Nach Sri Aurobindo bedeutet das Pferd Lebensenergie oder die Kraft des Fortschritts; er sagt auch, es sei "die Kraft der Tapasya, die zur Verwirklichung galoppiert" – je nach Farbe.