Mutters
Agenda
achten Band
14. Oktober 1967
(Das Treffen beginnt mit einer Stunde Verspätung. Sujata gibt Mutter Blumen namens "Transformation".)
Zwei für dich (Sujata), zwei für dich (Satprem), und dann eine für mich... Es soll den Körper veranlassen, sich zu transformieren! (Mutter steckt eine Blume in ihr Knopfloch) Er tut, was er kann, man läßt ihm nicht viel Zeit, sich um sich selbst zu kümmern... Es wird immer schlimmer... Die Nacht verkürzt sich; und die Augenblicke, in denen ich mich tagsüber ausruhen konnte, sind vorbei. Dauernd, dauernd ist er beschäftigt. Das ist nicht sehr angenehm.
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Etwas später
Gestern nachmittag, gegen Abend (gegen sechs Uhr, kurz vorher) entstand plötzlich eine Atmosphäre von... (wie soll ich sagen?) eine Art entmutigter Pessimismus, wo alles farblos, grau und unbefriedigend geworden war. Sieht man die Dinge von oben, in einer gewissen Atmosphäre der Totalität, hat alles seinen Platz und arbeitet an einer allgemeinen Manifestation mit, aber da war es wie etwas, das in sich selbst eingeschlossen war, das keine Daseinsberechtigung hatte, außer daß es existierte – es hatte weder einen Zweck noch eine Antriebsfeder noch einen Seinsgrund, und es war kein spezieller Umstand oder besonderes Ereignis, sondern eine Art in sich selbst eingeschlossene Formation, ein Seinszustand, der offensichtlich morbide war, nicht gewalttätig, nichts Heftiges... Ja, wo rein gar nichts einen Daseinsgrund, einen Zweck, irgendeine Befriedigung hatte: weder man selbst noch die anderen noch die Dinge. Ich war ABSICHTLICH dort eingeschlossen, um dies zu empfinden. Das Bewußtsein fragte sich: "Warum das? Was soll das bedeuten? Warum ist das so?" Gleichzeitig (weißt du, gestern war der Tag von "Durgas Sieg", für die Leute, die Durga verehren), gleichzeitig sagte ich mir: "Warum wählte sie ausgerechnet den Tag des Sieges, um mich in diesen Zustand einzuschließen? Was soll das bedeuten? Was hat dies zu bedeuten?..." Es war genau wie eine konkrete Demonstration der vollkommenen Nutzlosigkeit dieser Art Seinsweise, die nicht den geringsten Grund hatte, die egal wann egal was sein konnte, ohne Grund und Motiv. Es war wie das Symbol der unzufriedenen Nutzlosigkeit. Aber es dauerte an... Ich schaute und schaute; ich versuchte, irgendeinen Hinweis für die Ursache dieses Zustands zu finden: Was, wann, wer, wie?... Seltsamerweise ist so etwas meiner Natur sehr fremd, denn selbst wenn ich sehr verärgert war, verlor ich nie meine Zeit damit, so lustlos zu sein. Es dauerte an, so wie die Dinge, die andauern, damit ich sie untersuche, sie verstehe und das Notwendige unternehme. Dann, in einem bestimmten Augenblick sagte ich mir: "Halt, vielleicht beabsichtigt Durga, gerade das in diesem Jahr zu überwinden?" Gleichzeitig erinnerte ich mich (am Rande des Bewußtseins, sehr weit weg) an die Zeit, als Sri Aurobindo noch da war. Jedes Jahr am Tag des "Sieges" sagte ich ihm: "Sieh, in diesem Jahr hat Durga das und das bewirkt", und er bestätigte es. Ich sagte: "Durga hat dieses erobert, Durga hat jenes ..." Jedes Jahr, während langer Zeit. Diese Erinnerung war da, weit entfernt im Licht, wie um mir zu sagen: "Siehst du, erinnerst du dich?" So dachte ich mir: "Halt, vielleicht ist es das, was Durga erobern wollte?" Dann überlegte ich: "Was gibt es denn da schon zu erobern? Das ist idiotisch!" Es ist ein stumpfsinniger Zustand (ich weiß, viele Leute befinden sich in diesem Zustand, aber es ist völlig idiotisch, es hat keinen Grund, keine Ursache, kein Ziel, es ist etwas, das sich einstellt, man weiß nicht wie oder warum). Dies dauerte recht lange (ich erinnere mich nicht mehr genau). Als ich dann deutlich erkannte und verstand, daß es so war, fragte ich Durga: "Willst du das überwinden?..." Und plötzlich war es wie... etwas ganz Seltsames, als ob ich einer Verflüchtigung beiwohnte, paff!... Es machte so (Geste eines Berstens) und dann... Ich suchte und suchte – die Erinnerung, alles, vollkommen verschwunden! Innerhalb einer Sekunde war alles völlig verschwunden.
Solange es andauerte, war es... ja wie etwas, das keinerlei Wahrheit in sich hat, etwas, das keinerlei Basis in der Wahrheit hatte. Ein verdrießlicher, unbefriedigter, mürrischer Zustand, grau, grau, grau, farblos, alles unter dem Aspekt der Nutzlosigkeit und der Dummheit gesehen. Dann war es plötzlich wie ein Bersten: paff! und es war vorbei. Und jetzt ist es eine Art vage Erinnerung, an die ich mich nur noch mühsam erinnern kann, die aber nicht mehr besteht.
Als dies geschah, sagte ich (lachend): &Quot;Was für ein Sieg!" Dann kam die Erinnerung, die Vision von Sri Aurobindos Zeit und der Eindruck (Durga war anwesend und schaute zu): "Willst du das etwa besiegen?" Sie antwortete nicht, sie lächelte, und einige Minuten später: (gleiche Geste eines Berstens) einfach so, ich kann es nicht erklären. Aber es war seltsam, ich hatte dies nie zuvor gesehen... Früher, wenn sie zu Sri Aurobindos Zeit etwas überwand, hatte man stets den Eindruck einer Macht, die eine Lüge umschloß (Geste als ob man einen Büschel Gras ausreißt), sie so umschloß und mit Gewalt isolierte, festnagelte, ihr alle Unterstützung entzog; aber diesmal... ein seltsames Phänomen. Es war etwas so Bedeutungsloses, ohne jegliche Wahrheit. Diese ganze Seinsweise hing wie über der Erde und befand sich in Kontakt mit gewissen Leuten, aber alles war wie in einen Sack eingehüllt: es gab keinen Kontakt mit dem Rest, aber wenn man einmal drinnen war, konnte man unmöglich wieder hinaus. Man war eingeschlossen. Dann plötzlich barst es: "Ah!..." Danach nichts mehr.
Es war insofern interessant, als ich so etwas zum ersten Mal erlebte. Es war wirklich, als versuchte ich, etwas zu fühlen oder zu berühren – doch es gab nichts mehr. Niederdrückend, man versuchte herauszukommen: unmöglich, man war eingeschlossen, versklavt, völlig unfähig.
Ich hoffe, es hat seine Auswirkungen.
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Etwas später, über Auroville
Die Anfragen für eine Aufnahme in Auroville haben erschreckend zugenommen – jeden Tag ein solches Paket –, natürlich muß jeder sein Foto zusammen mit einem Antrag schicken und sagen, warum er nach Auroville kommen will, was er tun kann und zu welcher Kategorie er gehört: Die eine Kategorie will arbeiten, um es aufzubauen, und die andere Kategorie will kommen, um sich dort ruhig niederzulassen, wenn es fertig ist. Und dann, was für eine Menschheit, mein Kind!... Meistens sind es gerade alle die Unzufriedenen. Von Zeit zu Zeit kommt einer mit einem Licht in den Augen und dem Bedürfnis nach etwas, das er nicht finden kann – das ist sehr gut. Manche hatten nirgends Erfolg, sind völlig angewidert und fragen sich, ob sie vielleicht hier Erfolg haben könnten. Dann gibt es die Alten, die lange gearbeitet haben und sich ausruhen wollen. Sehr wenige Junge sind darunter. Die wenigen Jungen, die kommen wollen, sind Leute von Wert (die gewöhnliche Jugend interessiert sich nicht). Die jungen Leute, die ich sah, wollen selbst arbeiten: nicht kommen, um von der Arbeit der anderen zu profitieren, sie wollen selbst arbeiten. Bald werden wir also eine recht interessante Equipe haben. Aber (lachend) bei den selbstzufriedenen Alten ... I postpone the decision [verschiebe ich die Entscheidung], put in observation [lasse sie unter Beobachtung] (Mutter lacht). Gestern kam eine ganze Anzahl davon. Bei denen wird man sehen; wenn sie sich nützlich machen wollen, indem sie Geld oder Material oder Vorschläge einbringen, wird man sehen, aber dem beleibten, selbstzufriedenen Herrn, der wohlgenährten Dame mit Sitzleder, die kommen, um den Rest ihres Lebens dort zu verbringen, sagen wir: "Wartet noch ein wenig, wir werden sehen!"
Von den Arbeitern verlangen wir nichts, das heißt, sie müssen nichts bezahlen: sie können kommen und arbeiten, unter der Bedingung, daß sie ihre Nützlichkeit unter Beweis stellen. Aber diejenigen, die ein Stück Land oder eine Unterkunft wollen, müssen dafür zahlen; manche haben ein beschränktes Vertrauen (lachend) und sagen: Etwas Geld gebe ich ihnen jetzt sofort, und den Rest bezahle ich Ihnen nach und nach in Raten – diese Leute lehne ich gewöhnlich ab. Manche schicken im voraus Geld, so groß ist ihr Wunsch zu kommen. Wenn Leben oder etwas in ihnen steckt, nehme ich sie an. Aber dem größten Teil, von einigen wenigen abgesehen, sage ich "zur Beobachtung" – wir werden sehen, wie das wirkt!
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(Etwas später, über ein Foto von Mutter aus dem Jahr 1954 auf dem Sportplatz, mit Kindern und Schülern um sie herum.)
Damals erklärte ich, daß ich Inderin werden wolle, die Doppelbürgerschaft annehmen wolle... Die indische Regierung sagte mir, dies sei "ein denkwürdiger Tag in der Geschichte Indiens"... Ich wußte nichts davon! 1
(Mutter betrachtet das Foto aufmerksam) Lustig, wenn ich all diese Dinge aus der Vergangenheit betrachte, habe ich das sehr deutliche Gefühl, auf meine Kindheit zurückzuschauen, all dies erscheint mir so kindisch!... Noch in der Illusion der Welt befangen.
Und seit wievielen Jahren?... Ungefähr seit 1915 habe ich den Eindruck – ständig –, auf eine Anordnung zu reagieren: eine Anordnung, die von oben kommt. Der persönliche Impuls ist verschwunden. Seit sehr langer Zeit, seit 1915, und in diesem Zustand fand eine ganze Evolution und eine Transformation statt. Wenn ich jetzt zurückblicke, erscheint mir nicht nur alles, was ich tat, sondern auch die Art zu sehen, besonders die Art zu sehen... [kindisch]. Die Reaktion war schon so (weite, gleichförmige Geste), denn ich war sehr darauf bedacht, jede unwissende Reaktion zu korrigieren; die Reaktion war schon so (die gleiche weite Geste), aber GEWOLLT, nicht spontan. Darin liegt der große Unterschied. Diese Art universaler Gleichmut (dieselbe Geste) war gewollt, das Ergebnis einer ständigen Wachsamkeit und eines ständigen Willens. Auch jetzt ist die Wachsamkeit beständig, aber sie wurde ersetzt durch eine Wachsamkeit und einen Willen des Wesens, ständig so zu sein (Mutter dreht ihre Handflächen auf der Höhe der Stirn wie eine Schale nach oben, so daß sie ein nach unten zugespitztes Dreieck bilden), die ganze Zeit nach innen gewendet, als sei jede Zelle nach innen zu ihrem leuchtenden Zentrum gewendet – so ist das. Dort besteht immer noch eine Wachsamkeit, nicht zu vergessen und nicht zu weichen – alle Zellen nach innen zu Dem gewandt. Das ganze äußere Spiel, oh, wie kindisch das erscheint! Jetzt tue ich Dinge, die noch viel kindischer sind, eine Vielzahl von kleinen Dingen, die für die gewöhnliche menschliche Betrachtungsweise völlig nutzlos und kindisch sind – aber all dies ist nicht dieselbe Sache... Es ist... (weite, schmiegsame und langsame Geste) wie die Wellen und der Rhythmus einer sich ausdrückenden göttlichen Harmonie.
Vielleicht könnte man es so wiedergeben: Im Augenblick dieser Erklärung (1954) nahm ich die Dinge noch ernst. Als ich zur Zeit der "Unterrichtsstunden" sprach, nahm ich all das ernst.
Jetzt ist es zwar keine Gleichgültigkeit, aber... Ich weiß es nicht, Worte können es nicht ausdrücken, denn Losgelöstheit wäre nicht das richtige Wort... Ich weiß nicht, es gibt dafür keine Worte.
Gewiß ist es eine Art Wahrnehmung, daß die Menschheit gewissen Dingen ein Gewicht, eine Bedeutung beimißt, die... Offensichtlich ist es die mentale Struktur, es ist alles, was das Mental der Welt hinzugefügt hat: vor allem die Wertunterschiede, Unterschiede der Bedeutung und dann eine Art Feierlichkeit und Schwere, eine Gewichtigkeit, ein Ernst... Alle diese Dinge. All dies hat das Mental in die Welt gebracht. Jetzt muß ich darüber lachen.
So wie das menschliche Bedürfnis nach Zeremonien, das religiöse Gefühl, diese Art awe (wie sagt man auf französisch?... Ehrfurcht?) vor der göttlichen Macht, all das hat das Mental dem Leben hinzugefügt – das bringt mich jetzt zum Lachen.
Wenn Leute mich mit dieser Art Ernst besuchen, würde ich am liebsten in Gelächter ausbrechen. Also lache ich, lächle und bereite ihnen einen ganz kameradschaftlichen Empfang. (Mutter lacht) Voilà.
1 Trotzdem hat die Regierung Mutter die Doppelbürgerschaft verweigert.