Mutters
Agenda
siebenten Band
(Mutter schenkt Sujata eine kleine rosafarbene Rose:)
Ich habe eine schöne Rose für dich. Weißt du, was sie bedeutet?
Nein, Mutter.
Das habe ich mir gedacht.
Was ist es?
Es ist die wahre Zärtlichkeit: die Zärtlichkeit des Göttlichen. Die Leute kennen das nicht, sie denken immer an etwas sehr Menschliches. Aber es ist nicht menschlich... (Mutter schließt die Augen und verharrt in Konzentration)... Es ist äußerst licht, rosafarben, ein wenig golden... immer lächelnd... Eine ganz besondere Empfindung. (Nach langem Schweigen) Alles ist wie eine schöne rosafarbene Rose – eine schöne Rose. Besser noch als das, viel besser... wie soll ich sagen? Schwierigkeiten sind ausgeschlossen – es gibt sie nicht [wenn man in dieser Zärtlichkeit ist]. Das ist die Seite des Lebens ("des Lebens" – ich meine der Manifestation), die ausschließlich Schönheit, Lächeln, Frieden und Licht ist – spontan, mühelos, mit der Unmöglichkeit, daß etwas anderes da wäre. Etwas ganz Besonderes. Und weit, weit oben... Trotzdem sehe ich von Zeit zu Zeit einen Tropfen davon hier. Das erste Mal, als ich das sah... (Mutters Beine schwanken) Ich muß mich hinsetzen; ich bin im Begriff wegzugehen!
(Mutter setzt sich und fährt fort:) Dies kann sich nur in einer Welt ohne Egoismus verwirklichen. Das heißt, erst wenn der gesamte Prozeß der Individualisierung abgeschlossen ist und dieses Element des Egoismus nicht mehr benötigt wird, kann sich "Das" ganz manifestieren.
Man könnte es die "Süße der Liebe" nennen, aber das Wort hat etwas Gekünsteltes an sich. Es ist viel besser als "süß". Etwas ohne Schwierigkeiten: es kommen keine Schwierigkeiten, diese Süße kennt keine Schwierigkeiten, sie ignoriert sie vollkommen – es gibt keine, sie existieren einfach nicht. In dem Augenblick, wo sich das manifestiert, gibt es keine mehr. Und hier kann es natürlich nicht bleiben, weil... weil es noch welche gibt!
Nun...
*
* *
Etwas später
Ist das letzte Gerücht des Ashrams bis zu euch gedrungen? Ich soll gesagt haben, daß Maheshwari 1 sich in einem goldenen Licht manifestiert habe, daß Sri Aurobindo gekommen sei (woher, weiß ich nicht!) und gesagt habe, die Welt sei nicht bereit, und deshalb gebe es Katastrophen und Wirbelstürme – habt ihr die Geschichte nicht gehört? Nun, ich habe richtiggestellt, daß dies nicht stimmt. Zuallererst stellte ich klar: "Woher soll Sri Aurobindo gekommen sein? Er ist immer hier, also braucht er nicht zu kommen!"
Die Geschichte ist nicht von Bedeutung, außer daß einige Leute verstört waren: sie machten sich auf den Weltuntergang gefaßt! Wenn Sri Aurobindo sagt: "Die Welt ist nicht bereit", dann heißt das für sie so viel wie: "Es geht zu Ende!"
Gestern – ich glaube, es war eine Antwort auf diese Geschichte von Maheswari und Sri Aurobindos Aussage, die Welt sei nicht bereit – schrieb ich etwas auf französisch, doch der Anstoß dazu kam von Sri Aurobindos Bewußtsein. Er sagte (Mutter nimmt einen Zettel und liest):
Nach dem Gesetz des Menschen muß der Schuldige bestraft werden. Doch es gibt ein viel gebieterischeres Gesetz als das menschliche: das Gesetz des Göttlichen, das Gesetz von Mitgefühl und Barmherzigkeit. Dank dieses Gesetzes kann die Welt andauern und Fortschritte machen...
Diese Vision war so klar. Würde man diesem Gesetz des Schuldigen, der bestraft werden muß, Folge leisten, dann müßten im Laufe der Entwicklung der Dinge allmählich alle bestraft werden! (Mutter lacht) Es bliebe niemand mehr übrig. Darum sagte Sri Aurobindo:
Dank dieses Gesetzes kann die Welt andauern und in Wahrheit und Liebe wachsen.
Der Schuldige, der bestraft wird!... Immer die gleiche Idee. Die Menschen denken immer, der Schuldige müsse bestraft werden – wohin würde das führen?
(Schweigen)
Ich habe auch noch etwas anderes geschrieben. Wie ich dir erzählte, erschien Kali am Tag ihrer Puja und war unzufrieden. Daraufhin schrieb ich (Mutter nimmt einen anderen Zettel und liest vor):
Sie wissen, was man nicht tun soll,
sie wissen, was man tun soll,
sie wissen, wie sie es tun sollen,
sie wissen alles...
Dennoch: von allen Faktoren leistet die mentale Arroganz dem Wirken der göttlichen Gnade am meisten Widerstand.
Diese Notiz war einfach und ausschließlich eine Frage der Schwingung. Es war die Schwingung mentaler Arroganz (überdeutlich wahrnehmbar), die sich ausbreitete und den ganzen Raum einnahm... (Mutter macht eine Geste des Aufplusterns). Sie nahm so viel Raum ein!... Und dann dieses so ruhige und stille Wirken... ohne Lärm, ohne Aufsehen, völlig anspruchslos. Es war so (Geste der unerschütterlichen Herabkunft), von einer vollkommenen Schlichtheit – und der Weg war diesem Wirken total versperrt, es konnte nicht durchkommen. Da schrieb ich diese Notiz:
Sie wissen, was man nicht tun soll,
sie wissen, was man tun soll,
sie wissen alles...
Dies war das Ergebnis von Kali. Und es war eine sehr starke Erfahrung. Materiell, hier. Nicht weit weg – hier. Und sobald das gesagt war, klärte sich etwas. Als wäre es absolut notwendig gewesen, es auszudrükken. 2
Ich sollte auch noch sagen, daß mir alle möglichen Dinge "zu Ohren gekommen sind", seit die finanziellen Angelegenheiten nicht sonderlich gut stehen... Es gibt dramatische Schwierigkeiten. Ich bin gezwungen, den Leuten zu sagen, daß ich nicht zahlen kann und sie nicht unnütz Geld ausgeben sollen, und auf der anderen Seite versuche ich herauszufinden, wo die Störung liegt... Denn die Macht, Geld anzuziehen, bleibt bestehen (in beträchtlichem Ausmaß); folglich sollte es keine Schwierigkeiten geben. Also schrieb ich diese Bemerkung, weil ich im Denken der Leute deutlich sah, daß sie alle sagten: "Ach, man muß dieses tun; ach, jenes sollte man nicht tun; ach, wenn Mutter doch nur dies täte; ach, wenn sie doch bloß jenes nicht täte ..." Manche trauen sich, es zu sagen, andere trauen sich nicht, denken es aber – nur ganz wenige denken nicht so. Und noch weniger Leute sagen sich: "Es ist besser, ich kümmere mich nicht darum, weil ich doch nichts davon verstehe." Mich überkam gleichsam ein Zwang, den Stift zu nehmen und dies zu schreiben: "Sie wissen, was zu tun ist, sie wissen ..." (Mutter macht eine Geste, als hämmere sie auf Köpfe ein). Und das hat viel Gutes bewirkt.
Habe ich euch letztes Mal gesagt, daß in Bihar noch am selben Abend der Regen einsetzte?... Ich habe herausgefunden, wie das passiert ist: P flog im Flugzeug über Bihar und sah die Verwüstung und Dürre: alles staubtrocken, nirgends Wachstum, die Erde rissig. Da erinnerte er sich an gewisse Erfahrungen hier 3 . Bei der Ankunft am Flughafen wurde er offiziell empfangen, und er sagte: "Ich würde gern mit dem Premierminister persönlich sprechen, unter vier Augen." Er traf ihn und erzählte ihm eine Erfahrung, deren Zeuge er hier [in Pondicherry] wurde. Und er sagte: "Warum wenden Sie sich nicht an Mutter?" Der andere antwortete spontan: "Es ist besser, wenn Sie das für uns tun." Darauf schickte er sein Telegramm. Und noch am selben Abend fing es an zu regnen. Er schrieb: "Dieser erste Regen kam mir vor wie ein göttlicher Nektar." Er sagte mir, die Menschen dort seien ganz vertrauensvoll und so wohlgesinnt wie nur möglich. Auch sah er eine Verbindung zwischen diesen Dürreperioden, diesen Naturkatastrophen und den Kräften, die das Geld am Kommen hindern; er glaubte, daß sie im Zusammenhang mit dieser Erfahrung des unerwarteten Regens standen. Ein oder zwei Tage danach traf er zum Beispiel Leute, die nicht reich sind. Der Mann hat zwar eine gute Stellung, aber sie sind nicht reich, mit Familie und Kindern. Ich weiß nicht warum, aber der Ehemann erhielt 10 000 Rupien Entschädigung von der Regierung, worauf er und seine Frau ganz natürlich und spontan zu P gingen und ihm sagten: "Das müssen Sie Mutter geben." P fragte die Frau: "Aber warum geben Sie das ganze Geld weg?" Spontan antwortete sie: "Was sollte ich denn damit machen? Ich brauche es nicht." Das ist die wahre Haltung. Dies alles vermittelt P den Eindruck, daß etwas in Bewegung ist.
Diese Notiz von gestern kam mir vor wie ein Hinweis auf den Schlüssel (ich meine "innerlich", in den universellen Einstellungen). Das war deutlich zu sehen: Die Menschen glauben immer, daß der Schuldige bestraft werden müsse, daß dies die Lösung für alles sei. Aber das wahre Mittel ist Mitgefühl und Barmherzigkeit. Nicht, daß man die Augen vor der wahren und der falschen Bewegung verschließen sollte – doch man empfindet eine SPONTANE, mühelose Barmherzigkeit – immer. Diese Vision zeigte somit ganz klar, daß nur auf diese Weise ein Fortschritt möglich ist. Wenn der Fehler immer bestraft würde, gäbe es niemanden mehr, um Fortschritte zu machen.
Das ist die Bilanz.
Du weißt, daß ich Geld erhalten werde!
Ach! Dann bist du also ein reicher Mann!
Aber wie kommt es dazu?... Seit wann weißt du es?
Seit fünf oder sechs Tagen.
Ja, du hast es mir schon "gesagt", bevor du das letzte Mal kamst.
Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich warten wollte, bis es ankommt.
Ach wo, du brauchst es mir nicht zu sagen! (Mutter lacht) So ist das jetzt. Sehr interessant. Ich habe es gesehen: alles kommt so. Wie soll ich das erklären?... Es sind keine Worte, keine Gedanken, sondern etwas ganz und gar Konkretes, das wie auf einem Bildschirm kommt – ein Bildschirm im Innern meines Bewußtseins, und darauf zeichnen sich die Dinge ab. Es sind keine Worte, keine Gedanken, keine Gefühle. Es ist... "Etwas". Und dann weiß ich. Und es kommt keineswegs auf objektive Weise, also nicht, daß mir jemand sagen würde: "Satprem wird seine Rente bekommen." Überhaupt nicht. Es ist eine "Bewegung des Lebens", in der sich Satprem, Rente, Regierung alles miteinander vermischt (Mutter dreht ihre Hände ineinander, in einer Art fließender Verbundenheit). Es lebt und nimmt Form an; und hinterher sage ich mir: "Sieh an!"
Wäre ich in einem oberflächlichen Bewußtsein, würde ich mich fragen: "Warum denke ich daran?" Aber ich "denke" nicht daran, es ist kein Gedanke... (dieselbe fließende Geste) sondern ein Leben, das sich organisiert.
Sehr interessant. Ich muß lernen, die Dinge genau und präzise zu empfangen. Ich objektiviere sie nicht, verstehst du, das heißt, ich projiziere sie nicht auf einen anderen Bildschirm, wo dies zu einem objektiven Wissen würde. Keineswegs, also kann ich auch nicht den Propheten spielen. Andernfalls – was für ein Prophet!... Von der kleinsten bis zur größten Sache: Wirbelstürme, Erdbeben, Revolutionen, alles, und dann ganz kleine, winzige Dinge, noch viel kleiner als eine "Rente", ein winziger Lebensumstand oder etwas, das kommen wird, wie ein Geschenk, das unterwegs zu mir ist, oder... winzig kleine Dinge, anscheinend ohne jegliche Bedeutung – und alles hat dasselbe Gewicht. Es gibt kein "groß", "klein", "wichtig" oder "unwichtig". Die ganze Zeit geht das so.
Gestern, als ich nachmittags auf und ab ging, kam eine Unmenge von Dingen auf diese Weise. Nach dem Gehen verharre ich immer fünf oder zehn Minuten ruhig und reglos, und dann strömte das herbei. Da sagte ich zum Herrn: "Kann ich denn nicht einmal fünf Minuten still bei Dir sein!" (Mutter lacht) Wenn du um diese Atmosphäre wüßtest, dieses lachende Licht, ein so wunderbares Lachen – voller... voll eben dieser Barmherzigkeit und dieses Verständnisses und dieser Zärtlichkeit, ach!... Da sagte ich mir: "Ich bin wirklich ein Dummkopf!"
Es wird wirklich ein interessantes Leben.
Und die Gewohnheit, die ganze Zeit über Schwierigkeiten zu klagen! Ach, wie fruchtlos und unnütz das erschien – reine Zeitverschwendung. Man vergeudet seine Zeit damit, gegen etwas zu protestieren, was nicht sein soll – stattdessen darf man einfach nicht daran denken! Es genügt, diese Dinge nicht in sein Bewußtsein aufzunehmen, das ist alles! Sie müssen außerhalb des Bewußtseins bleiben. Wenn man dieses reine leuchtende Bewußtsein haben kann, dieses vollkommen harmonische, lichtvolle, gütige Bewußtsein... endlich frei von allem, was man aus einer schwierigen Vergangenheit mit sich herumschleppt.
Darum geht es: die Macht, sich von der Vergangenheit freizumachen, nicht das Ganze dauernd hinter sich her schleppen, ins Licht zu springen... und dort zu bleiben.
*
* *
(Etwas später sieht Mutter noch einmal ihre Notizen durch, ehe sie sie einordnet, und liest eine Stelle daraus vor:)
"... leistet dem Wirken der göttlichen Gnade am meisten Widerstand." 4 Manche Worte drücken eine Schwingung auf vollkommene Weise aus. Dies ist noch eine Erfahrung: Es gibt das Wort, das die Schwingung vollkommen ausdrückt, und andere, die sie vernebeln und im Vagen belassen. Manche Worte passen genau zueinander: "Leistet dem Wirken der göttlichen Gnade am meisten Widerstand ..."
*
* *
(Dann geht Mutter zur Übersetzung einer Stelle aus Savitri über. Es ist bemerkenswert, daß Satprem am selben Morgen, ehe er zu Mutter ging, genau diese Passage gelesen und an zwei mögliche Übersetzungen für ein bestimmtes Wort gedacht hatte.)
When darkness deepens strangling the earth's breast
And man's corporeal mind is the only lamp,
As a thief's in the night shall be the covert tread
Of one who steps unseen into his house.5
(I.IV.55)
Noch ein Beispiel: "Jemand tritt UNSICHTBAR in sein Haus." Dies erschien heute morgen auf dem "Bildschirm" (so vieles, daß es unmöglich ist, sich zu erinnern, aber es ist überaus interessant). Und als das Wort "unsichtbar" kam, sagte ich mir: "Ja, das ist besser!" (Satprem hatte an "im Verborgenen" gedacht)
Merkwürdig. Es ist beinahe... fast wie eine Erinnerung im voraus (wenn man Zeit hätte, sich genau zu erinnern).
Merkwürdig.
*
* *
Einige Verse weiter zögert Mutter zwischen zwei Übersetzungen:
And earth [shall] grow unexpectedly divine.
Das ist wieder die Qualität der Schwingung: "Unerwartet" ist voller – voller und goldener. Das andere: "Auf unerwartete Weise" ist etwas kalt und trocken.
"Et sans s'y attendre, la Terre deviendra divine ..."
["Und unerwartet wird die Erde göttlich werden ..."]
1 Maheshwari: die höchste Mutter
2 Es sei daran erinnert, daß Mutter ihre Notizen oft als okkultes Handlungsmittel benutzt: sie bewahrt sie in ihrer Nähe auf, um sie von Zeit zu Zeit wieder "aufzuladen".
3 Fälle von "unerwartet" einsetzendem oder aufhörendem Regen.
4 "Von allen Faktoren leistet die mentale Arroganz dem Wirken der göttlichen Gnade am meisten Widerstand."
5 Wenn Finsternis wächst und der Erde Brust erstickt und wenn des Menschen leibliches Mental die einz'ge Lampe ist, soll, wie der Schritt des Diebes in der Nacht, verborgen sein der Schritt von Einem, der unsichtbar in sein Haus einsteigt. (Savitri, dt. Ausgabe, S. 65)