Mutters
Agenda
siebenten Band
10. August 1966
Sie haben mich um eine "Sternenbotschaft" gebeten. Und dann: "Hast du für die Weihnachtsausgabe eine Botschaft über den neuen Menschen?" 1
Sie sagten: "Welche Botschaft können wir senden? Es wird zweihundert Jahre dauern, ehe sie ihr Ziel erreicht." Die Botschaft, die man von hier absendet, kommt erst in zweihundert Jahren auf dem Stern an. Und wer sagt uns denn, ob die auf dem Stern Französisch oder Englisch verstehen? Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß sie es nicht verstehen... Sie wollen Signale senden wie "=1" und glauben, daß dies verstanden wird – daß die dort verstehen, wie intelligent wir sind! (Mutter lacht ironisch)
Ich erinnere mich nicht mehr an die Botschaft, die ich ihnen gab.
Aber eine Botschaft für den neuen Menschen... Was soll ich ihnen sagen?... Was ist das eigentlich, der neue Mensch? Weißt du, was der neue Mensch ist?... Der Mensch ist immer neu!
Es wird kein intelligenter Mensch sein.
Nun, um so besser!
Um so besser.
Man könnte sagen: die Rückkehr zu Instinkt und Impulsen, doch werden es göttliche Impulse sein.
Und noch ein Fortschritt (das wäre wirklich ein Fortschritt): die stille Kommunikation von Bewußtsein zu Bewußtsein, ohne Worte. Das wäre schön: ein bißchen Schweigen.
(Schweigen)
Letztes Mal 2 wurde mir klar, daß ich vielleicht seit Monaten keine so stille Kontemplation mehr hatte – so sehr haben sie mich mit Arbeit überhäuft. Eine Arbeit, die daraus besteht, Geburtstagskarten zu schreiben, Autogramme zu geben, Leute zu empfangen... Am Montagnachmittag habe ich dreizehn "Geburtstage" gesehen; gestern waren es zwölf; morgen sind es noch einmal zwölf. Verstehst du, die Zahl der Menschen nimmt zu, sie kommen von überallher; manche kommen zu ihrem Geburtstag sogar aus Afrika oder Amerika... Insgesamt sind es ungefähr zweitausend pro Jahr – wieviele macht das pro Tag?
Da ist ein Polytechniker, der mit R (dem Architekten des zukünftigen Auroville) und einer ganzen Gruppe hierher kam. Insgesamt waren sie neun. Dieser Polytechniker schickte mir einen Zettel: "Sind Sie Gott?"
Ich hatte den Mann zwei Tage zuvor gesehen. Er ist ganz in Ordnung. Wenn ich ihn nicht gesehen hätte, hätte ich seine Frage nicht beantwortet. Da ich ihn aber gesehen hatte, schien mir, er müsse aus einer katholischen Familie stammen, um die Frage so zu formulieren. Also antwortete ich ihm: "Diese Frage kann man ALLEN Menschen stellen, und die Antwort lautet: potentiell ja." In Anbetracht seines guten Willens fügte ich hinzu: "Genau dieser Aufgabe muß sich jeder Mensch widmen."
Seither hat er nichts mehr von sich hören lassen.
Da ist noch ein anderer, ein Kommunist. Ein Russe, der in Paris lebt. Er fragte mich, ob sich die Arbeiter von Auroville nicht treffen und über die Notwendigkeit eines "Moralkodexes" (Mutter lacht) diskutieren sollten! (Es scheint, er verwickelt sie alle bis drei Uhr nachts in Diskussionen.) Ich antwortete ihm (lachend), daß die Moral vom Blickwinkel der Wahrheit aus nur einen sehr relativen Wert hat: daß sie je nach Land, Klima und Zeitalter verschieden ist. Auch sagte ich ihm, daß Diskussionen normalerweise steril und unproduktiv sind. Aber um nicht nur kritisch zu sein, sagte ich ihm, es genüge, wenn sich jeder bemühe, vollkommen aufrichtig, geradeheraus und guten Willens zu sein; dies liefere eine völlig ausreichende Basis für die Arbeit... Der Arme!
Und du, wie geht es dir?... Was machen wir?... Wie letztes Mal (Meditation)? Aber das ist gefährlich! Ich wußte überhaupt nicht mehr, wieviel Uhr es ist oder sonstwas.
Was hast du letztes Mal gespürt?
Ich spüre immer eine große ruhige Unendlichkeit – das Land des Ursprungs.
Ja, das war... Nichts existierte mehr außer dieser grenzenlosen leuchtenden Unendlichkeit. Aber das Besondere daran war dieses Funkeln: ein diamantenes Gestäub wie von Millionen kleiner funkelnder, glitzernder Diamanten, ach, so hell und leuchtend! In einer Unendlichkeit blendenden Lichts, und trotzdem funkelten sie. Und dann ein Friede, eine solche Ruhe... eine ruhige Glückseligkeit und der Eindruck: so läßt sich leben.
Zeitlos. Das Zeitgefühl löste sich auf.
Es ist lange her, seit ich das hatte.
(Mutter geht in Meditation)
Das ist sehr lustig: du hast da (in Höhe der Brust) eine große, sich neigende Lotosknospe, die ganz von einem golden schimmernden Licht umgeben ist, gefolgt von einer weiteren Lichtreihe – drei, vier, fünf Lichtreihen in verschiedenen Farben. Da, nach vorn geneigt.
(Mutter geht wieder in Kontemplation)
Sehr viele Menschen (ich glaube, man nennt sie gewöhnlich Intellektuelle) können nicht zwischen Denken und Bewußtsein unterscheiden: Wenn sie nicht denken, sind sie unbewußt! (Das fügt sich gut zu dem, was ich dir vorhin über den neuen Menschen sagte.) Für sie ist Bewußtsein gleichbedeutend mit Worten. Lustig...
Es ist noch ein weiter, weiter Weg bis zum Erscheinen des neuen Menschen 3 .
1 Eine Anspielung auf die Zeitschrift "=1".
2 Im Verlauf des letzten Gesprächs ging Mutter in eine tiefe Trance und vergaß die Zeit vollkommen.
3 Nachdem Satprem gegangen war, verharrte Mutter noch lange in einem Schweigen, dann wandte sie sich zu Sujata und sagte: "Merkwürdig, sehr merkwürdig: ich habe noch nie eine Lotosknospe gesehen, die sich verneigt." Dann, als Sujata sie verständnislos anschaute, fügte Mutter hinzu: "Der Herz-Lotos ist sonst immer nach oben gewandt; das ist die Aspiration. Hier neigt er sich der Erde zu."