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Mutters

Agenda

sechsten Band

16. Oktober 1965

Mich überkam gerade ein Ausbruch der Empörung. Denn all die Leute meiner Umgebung, die vorgeben, nur das zu wollen, was ich will, sind dem Anschein nach zwar durchaus ergeben, doch ihr Instinkt zieht sie fast ausnahmslos genau in die entgegengesetzte Richtung. Wenn ich zum Beispiel jemanden hier empfange, dann sehe ich, wie er ist, was er zu tun fähig ist, usw. Wenn ich sehe, daß es sich um einen Menschen handelt, auf den man sich nicht verlassen kann, sagt ihnen ihr Instinkt jedoch: "Oh, was für ein wunderbarer Mensch!" Ihr INSTINKT reagiert so, das heißt, die spontane Regung ihres Wesens widerspricht ständig meiner Erkenntnis.

Das bedeutet... Ich kann das nicht direkt als Heuchelei bezeichnen, es ist eine rein mentale Einstellung, die nicht mit dem Bewußtsein des Wesens übereinstimmt. Für mich gibt es nämlich ein sehr sicheres Zeichen: Wenn ich jemandem nichts sage (das heißt, wenn ich mich keines mentalen Mittels bediene), aber sehe, daß seine Empfindung, sein Eindruck, sein Bewußtseinszustand mit dem meinigen harmonieren, dann weiß ich, daß es gut geht. Wenn mir diese Person sagt: "Ja, ich will, was du willst", dann ist es wahr. Wenn es aber nur eine rein oberflächliche mentale Haltung ist, und man nur nach außen hin nachplappert: "So ist es", weil ich es gesagt habe, während innerlich alles brodelt und man es ganz anders empfindet...

Wenn zum Beispiel aufgrund eines bestimmten Problems eine Entscheidung getroffen werden muß und man mir das Problem unterbreitet, antworte ich nicht sofort auf materielle Weise, sondern übermittle die Antwort so (Geste einer inneren Kommunikation). Dann warte ich ab, und siehe da, es kam vor (ziemlich selten, aber immerhin), daß mir die Person schrieb: "Ich habe die Antwort erhalten: es ist dies und das." Dann sage ich: "Gut!" Wenn ich aber Worte schreibe und sie diese dann nachplappern, nur weil ich sie verwendet habe, beweist das gar nichts, außer daß sie einem künstlichen Gehorsam unterliegen.

Ich rede erst gar nicht von den Leuten, die sofort das Gefühl haben: "Oh, Mutter irrt sich"; ich spreche nur von denjenigen, die wirklich guten Willens sind, die aber bis hierher (Geste zum Mund hin) und sogar bis dahin (Geste zur Stirn hin) von Unwissenheit und Lüge erfüllt sind und nur den Mantel eines angelernten, aber keineswegs gefühlten Wissens darüberstülpen...

Wie soll sich die Welt auf diese Weise je ändern? Das ist nicht möglich.

Nein, ich rede nicht von der enormen Masse jener, die von vornherein überzeugt sind, daß ich mich ständig irre, die aber dennoch sagen: "Ach, die arme alte Dame, man darf ihr nicht widersprechen". Ich meine jene, die in ihrem Mental guten Willens sind – sie tragen eine Maske guten Willens, aber die inneren Schwingungen gehören noch der Welt der Lüge an.

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*   *

(Kurz darauf über einen neuen Schüler aus Frankreich, der um ein Foto von Sri Aurobindo bat.)

Wir werden ihm ein schönes Foto von Sri Aurobindo senden.

Welches Foto?...

Falls er christlich erzogen wurde, wäre das Jugendbildnis das richtige, darin sehen sie sofort einen Christuskopf! Alle... Erst vorgestern wollte ein Amerikaner, ein Maler, der gerade hier ist und Sri Aurobindos Bücher gelesen hat, nach den Fotografien von Sri Aurobindo ein Porträt malen (er hat ihn nie gesehen) – es ist das gleiche wie mit der Büste in Sri Aurobindos Zimmer 1! Alle verfallen auf einen schmalgesichtigen, mystischen Sri Aurobindo (Geste zur Stirn hin), mit einem länglichen mystischen Antlitz, nur weil sie nicht imstande sind, aus ihrem Christentum herauszutreten. Für sie bedeutet Macht und alles, was Macht zum Ausdruck bringt, oh... (Geste heftiger Abneigung).

Ich wollte es dem Amerikaner sagen... Für sie hat das spirituelle Leben ein Opfer zu sein: es ist der Gott, der sich opfert, jener, der allen irdischen Freuden entsagt und seine Existenz opfert, um die Menschen zu retten. Davon kommen sie einfach nicht los!

Ihnen muß man das Jugendbildnis senden, wie das in der Empfangshalle. Damals war er gerade aus seiner asketischen Periode herausgekommen, und deshalb hatte er noch ein längliches Gesicht.

Das Foto im Sessel wurde zu einem späten Zeitpunkt aufgenommen, als er bereits zu fühlen begann, daß... die Welt nicht bereit war, bis ans Ziel zu gelangen. Hier liegt schon der Ausdruck des Schmerzes auf seinem Gesicht.

Aber das andere Foto ist gut. So lernte ich Sri Aurobindo kennen: das Foto im Profil, wo er sehr mager ist, war gerade aufgenommen worden. Und die Fotografien von Cartier-Bresson datieren aus dem Jahr 1950.

Schade, daß es keine früheren Aufnahmen gibt.

Oh, er hätte sich niemals fotografieren lassen!

Aber als ich das Foto (von Cartier-Bresson von 1950) und diesen Ausruck sah... In meiner Anwesenheit zeigte er sich nie so; nie hat er das gezeigt. Nur hier. Ich war nicht im Zimmer, als dieses Foto aufgenommen wurde, plötzlich (er saß da) ließ er sich gehen. Als ich das Foto sah (sie wurden uns viel später zugesandt, wir mußten sie erst schriftlich verlangen), war ich sprachlos! Dieser Ausdruck...

Ich habe ihn immer mit einem vollkommen friedlichen und lächelnden Gesicht gesehen, und vor allem war sein vorherrschender Zug der Ausdruck eines tiefen Mitgefühls, der alles andere überwog. Ein so friedliches, ruhiges Mitgefühl, einfach wunderbar.

 

1 Diese Bronzebüste stammt von einer deutschen Bildhauerin (Elsa Fraenkel) und wurde 1958 auf Wunsch der Schüler in Sri Aurobindos Zimmer aufgestellt (man fragt sich, warum es an diesem Ort einer Büste mit einem darauf gerichteten goldenen Scheinwerfer bedurfte).

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