Mutters
Agenda
fünften Band
...Die Briefe häufen sich nur so, und ich habe noch nicht geantwortet. Die Leute sollten lernen zu empfangen: Ich antworte sehr klar und mit Nachdruck, sogar mit Worten, einem präzisen Satz. Wenn sie lernen könnten, innerlich zu empfangen, wäre das gut. Ich antworte immer. Und wenn es etwas Wichtiges ist und ich ruhig bin und keine äußere Handlung auszuführen habe, wiederhole ich meine Antwort, indem ich eine sehr präzise mentale Formation mache – sie sollten also empfangen.
(Mutter schnappt sich aufs geratewohl einen Brief einer westlichen Schülerin, die darum bittet, ihre Arbeit zu wechseln oder ihre äußere Arbeit einzustellen, weil, wie sie schreibt, diese nicht ihrer Natur entspreche. Auch beklagt sie sich über ihre Beziehungen zu den anderen und über deren "Feindseligkeit". Sie empfindet das Bedürfnis nach einer neuen Seins- und Handlungsweise.)
Sie liegt viel mehr mit ihrer alten Persönlichkeit im Streit als mit den anderen. Sie hatte eine gewisse sehr persönliche und oberflächliche Beziehung zu den anderen, und langsam befreit sie sich von diesem Muster, allerdings verbunden mit dem Eindruck, die anderen seien ihr feindlich gesinnt, während sie selber wirklich ihr Bestes gebe.
Das ist eine Phase.
Ich habe allerdings bemerkt – besonders bei jenen mit einer westlichen Erziehung –, daß es nicht gut ist, seine äußeren Beschäftigungen zu abrupt zu ändern. Die meisten Leute neigen dazu, ihr Milieu, ihre Beschäftigung, ihre Umgebung und ihre Gewohnheiten verändern zu wollen, weil sie denken, daß ihnen das hilft, sich auch innerlich zu verändern – das ist nicht wahr. Man widersteht der alten Bewegung, den alten Beziehungen und Schwingungen, die man nicht mehr will, viel aufmerksamer und wachsamer, wenn man in einem Rahmen verbleibt, der eben genügend vertraut ist, um automatisch zu sein. Man sollte sein Heil nicht in einer neuen äußeren Organisation suchen, denn man neigt immer dazu, seine alten Reaktionsweisen in diese miteinzubringen.
Das ist wirklich recht interessant, ich habe dies sehr gründlich studiert im Fall von Leuten, die denken, durch Reisen werde alles anders. Wenn man die äußere Umgebung wechselt, neigt man ganz im Gegenteil immer dazu, seine innere Organisation beizubehalten, um nicht seine Individualität zu verlieren. Wenn man hingegen gezwungenermaßen im selben Rahmen, in denselben Beschäftigungen und derselben Lebensroutine festgehalten wird, dann werden die unerwünschten Seinsweisen immer offensichtlicher, und man kann sie auf eine viel präzisere Art bekämpfen.
Im Grunde genommen ist vor allem der Vitalteil des Wesens mit der Schwierigkeit behaftet; er ist am impulsivsten und hat am meisten Mühe, seine Seinsweise zu verändern. Es ist immer das Vital, das sich auf Reisen "frei", ermutigt und lebendiger fühlt, weil es Gelegenheit hat, sich in einem neuen Milieu, wo alles neu gelernt werden muß (Reaktionen, Anpassungen etc.), frei zu manifestieren. Im Gegensatz dazu fühlt das Vital in einer Lebensroutine, die nichts speziell Anregendes an sich hat, sehr stark (falls es guten Willens ist und nach Fortschritt strebt) seine Unzulänglichkeiten und Begierden, seine Reaktionen, Vorlieben und Abneigungen etc. Wenn man diesen intensiven Willen zum Fortschritt nicht besitzt, fühlt es sich eingeschlossen, der Sache überdrüssig und erdrückt – das ganze übliche Lied der Revolte.
(Schweigen)
Als sie hier ankam, lebte sie ausschließlich im Vital – ausschließlich und heftig. Somit hat sie noch einen langen Weg zurückzulegen.
Das Vital, das als Herr des Hauses gewohnt war, das Steuer zu führen, alles zu regieren und alles zu entscheiden, muß zuerst langsam eine Haltung der Losgelöstheit einnehmen, die sich im allgemeinen – wenn es nicht sehr verfeinert ist – in einen Ekel verwandelt. Eine allgemeine Losgelöstheit. Dann plötzlich (manchmal "plötzlich", manchmal langsam) fühlt es, daß der Antrieb, die Inspiration von innen kommen muß, daß nichts mehr von außen kommen darf, um es zu erregen; und dann – wenn es guten Willens ist – wendet es sich nach innen und beginnt, um Inspiration, Ordnung und Führung zu bitten, wonach es seine Arbeit wiederaufnehmen kann.
Für gewisse Leute dauert das Jahre; bei anderen geschieht es sehr schnell – es hängt von der Qualität des Vitals ab. Bei einem verfeinerten Vital mit einer höheren Qualität geht dies schnell; wenn es hingegen sehr roh ist, in der Art einer Bulldogge oder eines Büffels, dauert es ein wenig länger.
Für ein Vital, das gewohnt war, alles zu regieren, und das dachte, im Besitz der Wahrheit zu sein, das glaubte, das, was es fühle und wolle, sei die Wahrheit und daß diese Wahrheit die anderen und das Leben dominieren solle – ja, dann... wenn man in dieser Illusion geboren ist, dann dauert es lange. Die Rettung ist, wenn das Vital innerlich von etwas ERGRIFFEN wird, wenn es innerlich fühlt, daß etwas Größeres als es da ist; dann geht es viel schneller.
Für jene, die vor dem notwendigen Wandel zurückschrecken, kann es einige Leben mehr bedeuten. Jene, die standzuhalten wissen (die im allgemeinen eine ausreichend überlegene Intelligenz besitzen, die die Führung übernimmt), jene, die Ausdauer haben und durchhalten und sich keine Sorgen machen über den Mangel an Zusammenarbeit des Vitals, für diese kann es relativ schnell vonstatten gehen.
Dies dauert im allgemeinen am längsten.
*
* *
Kurz danach
Hast du die letzte Ausgabe der Illustrated Weekly gesehen? Du weißt, daß der Papst zum "Eucharistischen Kongreß" nach Bombay kam – aber was heißt das eigentlich, "Eucharistie", mein Kind?
Es ist die Kommunion.
Ah, genau das dachte ich mir... Die Geschichte dieser Eucharistischen Kongresse ist in der "Illustrated" beschrieben, und es scheint, daß eine französische Dame den ersten Kongreß initiierte (vor nicht so langer Zeit, im letzten Jahrhundert, glaube ich). Und dann (Mutter lächelt) ist ein wunderbares Porträt des Papstes mit einer Botschaft abgedruckt, die er speziell für die Leser des "Weekly" schrieb, worin er sich große Mühe gab, sich keiner christlichen Worte zu bedienen. Er wünscht ihnen... ich weiß nicht was, und (es ist auf englisch geschrieben) eine celestial grace [himmlische Gnade] (er versuchte, so unpersönlich wie möglich zu sein). Darauf sah ich, daß die größte Schwierigkeit für die Christen immer noch darin besteht, daß ihr Glück und ihre Erfüllung im Himmel liegen.
Anstatt "celestial grace" sagte man mir, oder verstand ich, "terrestrial grace" [irdische Gnade]. Als ich das hörte, begann etwas in mir zu vibrieren: "Wie! Aber dieser Mann ist ja bekehrt!" Dann ließ ich es mir wiederholen, und ich hörte, daß dem nicht so war, daß es in Wirklichkeit "celestial grace" hieß.
Genau darum geht es.
Richtig.
Sie glauben an eine göttliche Verwirklichung, wobei diese nicht irdisch ist, sie ist sonst irgendwo, in einer himmlischen, also immateriellen Welt. Und dies ist ihr großes Hindernis.
Offenbar existiert im Bereich des Glaubens (ich will nicht sagen für einen sehr präzisen und klaren wissenschaftlichen Verstand) bis heute kein offensichtlicher Beweis, daß sich der Herr hier verwirklichen will; mit Ausnahme vielleicht von zwei, drei Erleuchteten, die die Erfahrung hatten... Jemand fragte mich, ob es früher, d.h. vor dem historischen Zeitalter (denn das historische Zeitalter ist extrem kurz, weißt du) nicht schon zu einer supramentalen Verwirklichung gekommen sei. Natürlich entspricht die Frage immer genau einem der Dinge, die mir in Momenten der Konzentration präsentiert werden. Ich erwiderte sehr spontan, daß es nie eine kollektive Verwirklichung gegeben habe, es sei aber durchaus möglich, daß es zu einer oder mehreren individuellen Verwirklichungen gekommen sei, als Beispiel von dem, was sein würde und als Versprechen – ein Versprechen und Beispiel: "So wird es sein."
Ich habe sehr genaue Erinnerungen – erlebte Erinnerungen – an ein völlig primitives menschliches Leben (ich meine außerhalb jeglicher mentalen Zivilisation) auf Erden, das kein evolutionäres Leben war, sondern die Manifestation von Wesen einer andern Welt. Ich habe eine gewisse Zeitlang in dieser Welt gelebt – eine erlebte Erinnerung. Ich sehe es immer noch, das Bild ist mir noch gegenwärtig. Es hatte nichts zu tun mit Zivilisation und mentaler Entwicklung, sondern es war eine Entfaltung von Kraft und Schönheit in einem NATÜRLICHEN, spontanen Leben, wie das der Tiere, aber mit einer Vollkommenheit an Bewußtheit und Macht, die alles, was man jetzt kennt, bei weitem überragt, und zwar mit einer Macht über die ganze umgebende Natur, das tierische und pflanzliche Leben und die Natur des Minerals, eine DIREKTE Handhabung der Materie, welche die heutigen Menschen nicht besitzen – sie brauchen Vermittler, materielle Instrumente, während dies direkt war. Und es waren keine Gedanken oder Überlegungen des Verstandes: es geschah spontan (Geste der direkten Ausstrahlung des Willens auf die Materie). Ich habe eine erlebte Erinnerung an diese Zeit. Und es muß schon auf Erden existiert haben, denn es deutete nicht auf etwas Kommendes hin: es war keine Vision der Zukunft, sondern eine Erinnerung der Vergangenheit. Folglich muß es auf Erden einen Moment gegeben haben... Es beschränkte sich auf zwei Wesen: ich habe nicht den Eindruck, daß es viele waren. Und es gab keine Fortpflanzung und auch nichts Tierisches, absolut nichts davon; es war... ja, ein wahrhaft höheres Leben inmitten der Natur, aber von einer außerordentlichen Schönheit und Harmonie! Und ich hatte nicht den Eindruck, daß es (wie soll ich sagen) etwas Bekanntes war (die Beziehungen zum pflanzlichen und tierischen Leben waren spontan und absolut harmonisch, mit der Empfindung einer unbestreitbaren Macht – man hatte nicht einmal den Eindruck, daß es anders sein könnte –, unbestreitbar), aber ohne die Idee, es könnten noch andere Wesen auf Erden leben, und man müsse sich um diese kümmern oder etwas "beweisen" – nichts davon, absolut nichts vom mentalen Leben, nichts! Ein Leben, wie eine schöne Pflanze oder ein schönes Tier, aber mit einem inneren Wissen der Dinge, völlig spontan und mühelos – ein Leben ohne Anstrengung, völlig spontan. Ich habe nicht einmal den Eindruck, daß sich das Problem der Ernährung stellte, jedenfalls erinnere ich mich nicht daran, sondern es ging um die Freude am Leben, die Freude an der Schönheit: es gab Blumen, Wasser, Bäume, Tiere, und all dies in freundschaftlicher und spontaner Harmonie. Und es gab keine Probleme! Kein Problem zum Lösen, überhaupt nichts – man lebte!
Sicherlich ein geschichtsloses Leben.
Aber dies liegt weit, weit in der Vergangenheit.
Es herrschte nämlich überhaupt nicht der Eindruck, daß sich etwas von unten herauf entwickelt hatte: es war, als sei es so gelandet, einfach so, um der Freude willen.
Es muß vor dem ersten Menschen gewesen sein, der aus der Natur hervorging – nicht nachher, sondern vorher.
Es waren menschliche Gestalten, aber ich kann nicht sagen, daß ich mich genau erinnere: Wenn man mich zum Beispiel fragen würde, ob diese Wesen Fingernägel hatten, so weiß ich das nicht! Etwas sehr Geschmeidiges und Lichtvolles. Aber immer noch menschenähnlich.
(Schweigen)
Der Papst verlautete, daß er eine Botschaft an alle Nichtchristen verkünden würde, ich habe darum gebeten. In meinen mentalen Unterhaltungen mit ihm stechen nämlich zwei Dinge sehr deutlich hervor... Er verfügt über ein gewisses politisches Flair. Er ist ein sehr politischer Mensch, in dem Sinne, daß er die Dinge mit bestimmter Absicht tut, mit einem genau kalkulierten Ziel gemäß seinem eigenen Verständnis, um dieses Ziel so wirksam wie möglich anzusteuern – ein politischer Mensch.
Er hat ein politisch motiviertes Festhalten am Dogma. Nach einem Gespräch mit ihm... (ich hatte recht viele Gespräche mit ihm, drei oder vier, auf mentaler Ebene, und völlig objektiv, denn seine Reaktionen waren unerwartet, sie schienen mir spontan, d.h. ich empfing Antworten, die überhaupt nicht dem entsprachen, was ich erwarten konnte, was beweist, daß es echt war), zum Beispiel traf ich ihn einmal vor seiner Wahl (ein Teil seines mentalen Wesens ist von einer überlegenen Intelligenz, die sehr ausgebildet, bewußt und individualisiert ist), und es ergab sich eine spontane Unterhaltung, die ich nicht suchte, die aber sehr interessant war. Einmal antwortete ich auf etwas, das er sagte, mit der Kraft, die ich dort habe (auf der höheren Ebene): "Der Herr ist überall, er ist sogar in der Hölle." Das bewirkte eine solch heftige Reaktion in ihm, daß er, paff, einfach verschwand. Das fand ich sehr bemerkenswert... Ich kenne das Dogma nicht, aber es scheint, daß nach Meinung der Katholiken die Abwesenheit des Herrn in der Hölle weit schlimmer wiegt als die Leiden, das Feuer und all das. Es scheint, daß dies ein Dogma ist, während ich von der universellen Einheit sprach und ihm das sagte.
Da ist noch etwas, woran ich mich sehr deutlich erinnere und das mir auffiel. Nach seiner Wahl (aber lange, bevor seine Reise nach Indien beschlossen wurde) kam er nach Indien und "besuchte" mich in Pondicherry (d.h. es war nicht seine ursprüngliche Absicht, er kam nach Pondicherry, worauf er mich anschließend besuchte). Ich sprach mit ihm im Empfangszimmer, wir hatten ein sehr langes und interessantes Gespräch; plötzlich (gegen Ende des Gesprächs, als er sich zum Gehen anschickte) beschäftigte ihn etwas, und er sagte mir: "Was werden Sie Ihren Kindern über mich sagen?"... Verstehst du, das Ego, das sich zeigte. Ich schaute ihn an (Mutter lächelt) und sagte ihm: "Ich werde ihnen nur sagen, daß wir in unserer Liebe zum Höchsten kommuniziert haben." Darauf entspannte er sich und ging. Das fiel mir auf. Diese Dinge sind sehr objektiv.
Aber das sind die kleinen Seitenzweige der Natur. Ansonsten ist es sein Traum, der Potentat der spirituellen Einheit der Menschheit zu sein.