Mutters
Agenda
fünften Band
5. August 1964
(D, eine Schülerin, schickte Mutter die Schrift eines japanischen zenbuddhistischen Mönchs aus dem 18. Jahrhundert. Darin wird eine als "Selbstbeobachtung" bezeichnete Methode beschrieben, mit deren Hilfe man über Kälte und Hunger triumphieren kann und mit der sich die physische Unsterblichkeit erlangen läßt. 1 Mutter liest einige Seiten und gibt dann auf.)
Es ist besser, sein EIGENES System auszuarbeiten – wenn man überhaupt eines ausarbeiten will.
Genau das hat man Sri Aurobindo immer vorgeworfen, daß er einem nicht sagte: "Macht das und das und das ...", und eben diese Tatsache ließ mich spüren, daß die Wahrheit hier lag.
Die Menschen können nicht leben, ohne die Dinge auf ein mentales System zu reduzieren.
Sie brauchen eine Mechanik.
Ja, aber sobald eine Mechanik ins Spiel kommt, ist es aus.
Die Mechanik mag für denjenigen, der sie gefunden hat, sehr gut sein: es ist SEINE Mechanik. Aber sie eignet sich nur für ihn.
Ich hingegen ziehe es vor, keine Mechanik zu haben!
Die Versuchung stellt sich manchmal ein, aber... Es ist viel schwieriger, aber unendlich viel lebendiger. All das (die Zenbeschreibung) erscheint mir... Ich habe sofort den Eindruck von etwas, das tot wird, trocken – trocken und leblos.
Sie ersetzen das Leben durch einen Mechanismus. Und dann ist es aus.
(Schweigen)
Der Fehler, den alle begehen, besteht in der Annahme – im Glauben –, daß das Ziel die Unsterblichkeit sei. Die Unsterblichkeit ist jedoch nur eine der Konsequenzen. In dieser Zengeschichte ist das Ziel die Unsterblichkeit, folglich gilt es, das MITTEL dazu zu finden – von daher all diese Methoden. Aber die Unsterblichkeit ist kein Ziel: sie ist lediglich eine natürliche Konsequenz – wenn man das wahre Leben lebt.
Weißt du, ich bin sicher, daß D sich vorstellt, mein Ziel sei die Unsterblichkeit (sie selbst sagt dies nicht, aber ich bin dessen gewiß)! Auf jeden Fall ist es das Ziel vieler Menschen hier (!), doch im Grunde genommen ist die Unsterblichkeit etwas Sekundäres. Sie ist EINE der Konsequenzen, das Zeichen (man kann es als Zeichen nehmen), daß man dabei ist, die Wahrheit zu leben, das ist alles. Obwohl nicht einmal das sicher ist!
Die Unsterblichkeit in diesem Gerippe, das wäre kein Vergnügen!
(Mutter lacht) Oh, ja! Es müßte zuerst einmal anders werden.
Es wäre nicht der Mühe wert.
1 In der Zeitschrift Hermes, Frühlingsausgabe 1963.