Mutters
Agenda
ersten Band
2. Oktober 1960
2.10.60 1
Diese wunderbare Welt der
Glückseligkeit, die vor unseren
Toren unseren Ruf erwartet,
um auf die Erde herabzukommen.
Mutter
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Diese Welt der Glückseligkeit über uns wartet – nicht, daß wir bereit seien, sondern daß wir einwilligen, gestatten, sie zu empfangen!
Das ist es, was ich auf diesem Foto betrachte. 2
Im Grunde ist es das, was ich herbeiziehe.
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Meine Nächte enthalten so vieles, da unternehme ich nicht immer die notwendige Arbeit, um mich zu erinnern – das erfordert viel Zeit. Gelegentlich stehe ich nachts auf und stelle die genaue Erinnerung an alles Vorhergegangene zusammen, das dauert manchmal eine halbe Stunde! Weil aber andere dringende Arbeit mich ruft, nehme ich mir nicht die Zeit, mich an alles zu erinnern, und dann verblaßt es. Damit könnte man ganze Bände füllen!
Aus dokumentarischer Sicht werden die Nächte jedenfalls sehr interessant... Gerade im Yoga of Self-Perfection beschreibt Sri Aurobindo den Zustand, den man erreicht, wo alle Dinge einen Sinn annehmen, einen inneren Wert der Bedeutung, der Erleuchtung bestimmter Punkte, der Hilfe. Ich sehe jetzt unendlich mehr, als ich früher sah. Früher beschränkte es sich stark auf einen persönlichen Kontakt mit den Leuten. Jetzt... Und in meinen Nächten hat jedes Ding, jede Person die Erscheinung, die Geste, das Wort, die Handlung, die GENAU ihren gegenwärtigen Zustand beschreibt. Das wird interessant.
Natürlich ist es mir viel lieber, in den großen Kräfteströmen zu bleiben – persönlich sind diese großen Aktionen viel interessanter. Aber diese dokumentarischen Dinge haben auch ihren Wert. Dies ist so vollkommen anders als die Träume oder sogar die Visionen, die man beim Betreten gewisser repräsentativer intellektueller Bereiche haben kann (wie ich sie früher hatte). Dies ist so anders, mit einem anderen Inhalt, einem anderen Leben: es träg in sich sein Licht, sein Verständnis, seine Erklärung – man sieht, und es ist zur Gänze erklärt.
Das gibt mir immer das Gefühl, mich ein wenig einzuengen, doch es ist interessant. Es ist nützlich, weil ich ständig mit Leuten zu tun habe, Dinge ausführe: da gibt es mir den Hinweis, was ich jedem einzelnen sagen muß, was zu tun ist. Das ist nützlich. Es hat aber nicht die Fülle und die Freude der großen Bewegungen der unpersönlicheren Kräfte.
Bevor ich mich hinlege, sage ich mir manchmal: "Ich werde das Nötige tun (denn das Mittel besteht), um die Nacht in diesen großen Kräfteströmen zu verbringen." Aber dann denke ich: "Oh, wie bist du egoistisch, mein Mädchen!" Manchmal kommt es dann, manchmal kommt es nicht – wenn etwas anderes Wichtiges zu tun ist, kommt es nicht. Es würde jedoch genügen, daß ich vor dem Einschlafen eine bestimmte Konzentration mache, um die ganze Nacht so zu verbringen, in dieser... wirklich sehr weit von hier, sehr weit – ich kann nicht sagen, sehr weit von der Erde, nein, denn es ist sicherlich eine Übergangszone zwischen den Kräften oben und der irdischen Atmosphäre. Jedenfalls ist es vor allem das; es ist auch ein großer universeller Strom, aber hauptsächlich ist es das, was herabkommt und auf die Erde geht; die ganze Zeit, die ganze Zeit durchdringt das die irdische Atmosphäre, begleitet von dieser umfassenden Sicht – das ergibt wunderbare Nächte... Ich kümmere mich überhaupt nicht mehr um die Leute – jedenfalls nicht auf diese Art: auf eine unpersönlichere Weise.
(Schweigen)
Mein ganzes Leben lang wurde ich belästigt von... etwas wie dem Pflichtgefühl, aber ohne seine Dummheit. Sri Aurobindo sagte mir, es wäre ein "Kritiker"; daß ich einen "beträchtlichen" in mir habe! Daß er mir ständig einrede: "Nein, das ist nicht so, sondern es muß so und so sein... Ah, nein! Du hast unrecht, dies zu tun; oh! tue dies...". Er hatte recht, aber ich habe ihn vor langer Zeit hinausgeworfen – eigentlich war es Sri Aurobindo, der ihn hinauswarf. Doch mir bleibt diese Gewohnheit... nicht das Angenehme zu tun. Das zu tun, was getan werden SOLL: ob es angenehm ist oder nicht, hat keine Bedeutung.
Auch das hatte Sri Aurobindo mir erklärt. Ich sagte ihm: "Ja, Sie sprechen immer von der "Freude am Leben", das Leben um seiner Freude willen." Sobald ich gewahr wurde, sobald ich in Gegenwart des Höchsten gebracht wurde, hieß es: "Für Dich – ausschließlich das, was Du willst. Du bist der eine, einzige, ausschließliche Grund des Daseins." Und das blieb, und es ist so stark, daß auch jetzt noch (jetzt fühle ich die Ekstase, das Ananda im Überfluß, alles, alles kommt), selbst wenn das kommt, wendet sich immer etwas in mir an den Herrn und sagt: "Ist das WIRKLICH in Deinem Dienst? Ist es, was Du von mir erwartest, was Du von mir verlangst?"
Doch das beschützte mich vor jeglicher Vergnügungssucht im Leben. Es bedeutete einen wunderbaren Schutz, denn die Vergnügung erschien mir derart unnütz – unnütz, ja: es dient eurer persönlichen Befriedigung. Später begriff ich auch, daß das idiotisch ist, weil es überhaupt nichts befriedigt (aber wenn man sehr klein ist, weiß man das noch nicht). Es gab mir keine Freude: "Nein, ist das wirklich nützlich, hat das einen Zweck?"
Und für die Nächte blieb mir diese Einstellung. Da ist diese Ausbreitung des Bewußtseins, das Unpersönlich-Werden, diese wunderbare Freude, außerhalb von... all dem zu sein. Aber zugleich: "Ich bin in diesem Körper, auf dieser Erde, um etwas zu tun – das darf nicht vergessen werden. Und das ist es, was ich zu tun habe." Wahrscheinlich habe ich unrecht!...
Ich warte, daß der Herr es mir deutlich sagt!
Wenn ich das sage, sehe ich Ihn immer lächeln – aber ein Lächeln... Ein sehr sanftes Lächeln... das euch mehr ermutigt, als euch zu berichtigen!
1 Manuskript von Mutter. Dieser Text wird die Neujahrs-Botschaft für das Jahr 1961 bilden.
2 Ein Foto von Mutter, das die Botschaft begleiten wird.